Claus Leggewie: Von Visegrad nach Habsburg 2.0
Frankfurter Rundschau 30.9.2024
Mitten in Europa ist mit dem Erfolgen der FPÖ ein neutralistischer bis russophiler Staatenblock entstanden, der auch gegen Trump nichts einzuwenden hat.
Das im Februar 1991 geschlossene informelle Visegrad-Bündnis ist infolge des russischen Angriffs auf die Ukraine seit dem Februar 2022 erodiert, da Polen und Tschechien ihre autoritären Führungen abwählten und sich gegen Russland stellten. Nun zeichnet sich indessen eine neue Bündniskonstellation ab: Ungarns Premierminister Viktor Orbán formt eine offen russlandfreundliche und ausdrücklich illiberale Allianz gegen die supranationale Europäische Union. Kurz vor der Übernahme der ungarischen Ratspräsidentschaft, die unter dem Vorzeichen dieser souveränistischen Opposition steht, reiste Orbán Ende Juni nach Wien, um die Gründung der „Patrioten für Europa“ zu vereinbaren.
Diese dritte rechtsgerichtete Fraktion im EU-Parlament führen die Gewinner der Europawahl im Juni 2024: Fidesz hatte mit 44,82 Prozent der Stimmen den ersten Platz in Ungarn belegt, die FPÖ siegte unter der Führung Herbert Kickls knapp mit 25,36 Prozent und ANO, die Partei des tschechischen Unternehmers und Ex-Ministerpräsidenten Andrej Babiš, hatte mit 26,14 Prozent die Nase vorn. Orbán wehrte die Herausforderung durch die von dem ehemaligen Fidesz-Mitglied Péter Magyar geführte Tisza-Partei ab, die FPÖ etablierte sich bei den Nationalratswahlen im September 2024 als stärkste Kraft in Österreich und Babiš könnte nach dem Gewinn der Regionalwahlen bei den tschechischen Parlamentswahlen 2025 sein Comeback feiern. Aufnahmegespräche mit der AfD, der derzeit zweitstärksten Kraft in Deutschland, sind gescheitert, obwohl sie mit ihrer prorussischen, strikt gegen den Green Deal und den Migrationspakt der EU gerichteten Programmatik bestens in die nunmehr drittstärkste Fraktion im EU-Parlament hineingepasst hätte.
Die Dreierkonstellation zwischen Budapest, Wien und Prag ergänzt sich schon in Richtung Bratislava, seit die Slowakei mit der Rückeroberung der Macht durch Robert Ficos Partei Smer-SSP 2023 einen ebenso nationalistischen, EU-distanzierten und russlandfreundlichen Kurs eingeschlagen hat. Gemeinsam haben die Partner das Ziel, die Gewaltenteilung auszuhebeln und die Freiheit der Presse, Kunst und Wissenschaft einzuschränken; sie pflegen hochkorrupte Geschäftsbeziehungen und vertreten ausdrücklich oder versteckt antisemitische, homophobe und misogyne Einstellungen. Ausdrücklich wenden sie sich gegen Waffenlieferungen an die Ukraine und legen ihr einen Diktatfrieden des russischen Aggressors nahe, mit dem sie weiterhin Geschäftsbeziehungen aufrechterhalten haben.
Mitten in Europa ist ein neutralistischer bis russophiler Staatenblock entstanden, der die Europäische Union blockiert und im Blick auf die US-Wahlen im November gegen die Wiederwahl Donald Trumps nichts einzuwenden hätte.
Ein Blick auf historische Landkarten zeigt an, dass man es mit einer tektonischen Verschiebung auf dem Gebiet der ehemaligen Doppelmonarchie Österreich-Ungarn zu tun hat. Dazu gehörten nach dem Untergang des Heiligen Römischen Reiches Deutscher Nation und dem Scheitern „großdeutscher“ Nationsbildung bis 1918 Territorien im (damals staatlich inexistenten) Polen (Galizien), in der Ukraine (Bukowina) und im heutigen Rumänien (Sieben-bürgen), Serbien (Wojwodina), Kroatien, Slowenien und Italien.
K. und k. ist im Ersten Weltkrieg begraben worden und die Nationen entflohen dem „Völkergefängnis“. Doch scheint sich der zentrifugalen Dynamik heute eine weltanschauliche Konvergenz beizumischen, die auch in Serbien und dem serbischen Teil Bosniens auf Resonanz stößt.
Dabei wirken gegensätzliche Kräfte: Für Polen ist die von Wladimir Putin ausgehende Gefahr offenbar weit existenzieller als für Ungarn und die Slowakei, auch erweist sich die polnische, auf einer langen Freiheitstradition beruhende Demokratie resilienter.Die tschechischen und slowenischen Gesellschaften schwanken zwischen Nationalpopulismus und liberalem Pluralismus, Westorientierung und Russophilie. Unterschwellig wirkt im einstigen Habsburger Gebiet, das kulturellen Hochleistungen genau wie reaktionären Stumpfsinn kannte, beides fort: die Sehnsucht nach größtmöglicher national-kultureller Unabhängigkeit und die Unterwerfung ethnischer Gemeinschaften unter ein Imperium. Damit könnte sich „Visegrad“ in eine Art „Habsburg 2.0“ verwandeln. Die konservative ÖVP hat nie ausgeschlossen, erneut mit den Freiheitlichen zu koalieren, was sie in drei Bundesländern gerade praktiziert.
Dabei können auch globale Brandmauern bersten. Die Ironie besteht darin, dass die angesagte Kapitulation vor Russland in dem Bestreben erfolgt, sich der als „EUSSR“ (das soll heißen: krypto-kommunistisches Empire) denunzierten Europäischen Union zu entziehen, ohne freilich auf deren finanzielle Zuwendungen verzichten zu wollen. Mit der österreichisch-ungarischen Doppelansage hat sich die Herausforderung Putins weit nach Westen verschoben. Und die AfD bereitet das Terrain in Dunkeldeutschland.