Sexismus: "Frauenfeindlichkeit hat eine soziale Funktion"
Frauen unterstützen Männer seit jeher. Und umgekehrt? Die Philosophieprofessorin Kate Manne untersucht, wie misogyne Gesellschaften funktionieren.
Von Claudia Steinberg, New York
ZEIT ONLINE: Ms Manne, in Ihrem gerade erschienenen Buch Down Girl – The Logic of Misogyny erklären Sie Frauenfeindlichkeit aus philosophischer Perspektive. Es scheint das Buch zur Stunde zu sein – ein passender, aber unglücklicher Zufall. Was tragen Ihre Studien zur aktuellen Lage bei?
Kate Manne hat am MIT ihren Doktor in Philosophie gemacht, danach ging sie als Junior Fellow nach Harvard. Als Assistenzprofessorin für Moral- und Sozialphilosophie lehrt sie an der Cornell University. Anfang Oktober ist ihr Buch "Down Girl – The Logic of Misogyny" bei Oxford University Press erschienen. © privat
Kate Manne: Meines Wissens handelt es sich um das erste Buch, das Frauenfeindlichkeit in der Tradition analytisch feministischer Philosophie untersucht. Ich sehe Frauenfeindlichkeit als ein Instrument, um das Bild der Frau als Gebende, Liebevolle und Fürsorgliche zu bestärken. Wenn Frauen sich machthungrig, gefühllos und dominant verhalten, geraten sie in Konkurrenz mit Männern – den historischen Nutznießern weiblicher Wohltätigkeit. Verweigern Frauen ihre "moralischen Güter", werden sie kritisiert: Sie vernachlässigten die Schutzlosen und griffen nach verbotener Macht. In diesem System müssen sie den Mann auch sexuell umsorgen. Er bestätigt seine Dominanz, indem er das einfordert, und fühlt sich moralisch im Recht.
ZEIT ONLINE: Heutige Frauenfeindlichkeit basiert also darauf, die gesellschaftlich gewachsene Balance von Geben und Nehmen zu bewahren. Je weiter Frauen in männliches Terrain vordringen, desto drastischer die Gegenreaktion. Viele moderne Frauen möchten darauf vertrauen, dass dieses Denken eine Generationenfrage sei und sich im Lauf der Zeit von selbst überholt. Ein Irrglaube?
Manne: Tatsächlich sind viele Täter, die in jüngster Zeit öffentlich sexueller Übergriffe beschuldigt wurden, fortgeschrittenen Alters. Trump und Weinstein waren aber schon in ihren Dreißigern sexuelle Aggressoren, wenn nicht gar früher. Und unsere Gesellschaft nimmt ihre jungen Männer in Schutz. Generell haben wir eine Tendenz zur "Himpathy", wie ich es nenne – die dem weiblichen Opfer zustehende Sympathie fließt dem männlichen Täter zu,
ZEIT ONLINE: Zur Zeit können wir in den Medien allerdings auch das Gegenteil beobachten. Abgesehen von den prominenten Männern, deren mögliche sexuelle Grenzübertritte gerade untersucht werden: Es gibt viele Fälle von Frauen, die sich öffentlich über die Gewalttätigkeit ihrer Männer beklagten, sich aber dann von ihren Aussagen distanzierten. Auch Ivanka Trump nahm ihre Schilderung brutaler sexueller Übergriffe ihres Mannes zurück – lässt sich aus diesem Verhalten ein Prinzip erkennen?
Manne: Solche Rückzieher haben unterschiedliche Gründe: beispielsweise der schlichte Wunsch, eine harmonische Beziehung mit einem mächtigen Mann zu unterhalten. Kinder und finanzielle Erwägungen sind oft der Hintergrund dafür, Anschuldigungen zurückzuziehen. Doch in manchen Fällen bezweifelt die Anklägerin offenbar tatsächlich ihre eigene Geschichte. Frauen aus der Mittelschicht vertrauen darauf, dass man sich nach ihrer Darstellung von Misshandlung und Vergewaltigung um sie sorgt, dass man interveniert. Wenn dann aber niemand hilft, wirkt es wie eine Bestätigung nach innen wie nach außen, dass sie sich das alles nur eingebildet hat. Der Frau werden nicht nur gesetzliche Maßnahmen und vielleicht auch weitere Gewalttätigkeiten angedroht, sondern sie sieht ihren guten Ruf gefährdet: Wenn sie weiterhin auf ihrer Schilderung besteht, wird sie als verrückt bezeichnet, man denunziert sie als moralisch unglaubwürdig. Viele Männer sind mit ihrer Version der Geschichte meist ungestraft davon gekommen, auf politischer ebenso wie auf persönlicher Ebene.
ZEIT ONLINE: Muss man nicht jeden Fall einzeln betrachten?
Manne: Ich möchte mit meinem Buch Frauenfeindlichkeit entmystifizieren, sie als ein systematisches soziales Phänomen erklären. Im Kern erfüllt sie eine soziale Funktion, psychologische Ansätze als Erklärungsmodelle sind naiv. Das weiße, heterosexuelle Patriarchat funktioniert wie jede andere Hierarchie auch. An der Spitze dieser Ordnung existiert ein untrüglicher Sinn dafür, wer wohin gehört und wer wem etwas schuldet, wenn es um Geschlecht, Ethnie, Klasse, Sexualität, oder Behinderung geht.
"Ich selbst hatte Schuldgefühle beim Schreiben"
ZEIT ONLINE: Sie differenzieren in Ihrem Buch deutlich zwischen Sexismus und Frauenfeindlichkeit – was ist der Unterschied?
Manne: Sexismus ist diejenige Abteilung des Patriarchats, die für die Rechtfertigung der sozialen Ordnung verantwortlich ist: Es handelt sich um eine Ideologie, die Männer und Frauen aufgrund der ihrem Geschlecht zugesprochenen Fähigkeiten diskriminiert, obwohl die wissenschaftlich nicht belegt sind. Frauenfeindlichkeit oder Misogynie unterscheidet zwischen guten und schlechten Frauen. Sexismus ist eine Theorie; Frauenfeindlichkeit schwingt die Keule.
ZEIT ONLINE: Wie weit ist denn der Feminismus gegen die Frauenfeindlichkeit angekommen?
Manne: Wir sprechen immer wieder über sogenannte Wellen des Feminismus, im Unterschied zu anderen politischen Bewegungen. Dadurch entsteht der Eindruck, als sei feministisches Denken zur schnellen Veralterung verurteilt, als handele es sich nur um kurzlebige Theorien, die bald von der Realität eingeholt werden. Tatsächlich können wir zwar keinen linearen Fortschritt verzeichnen, aber vor 50 Jahren wäre es in meiner Disziplin noch undenkbar gewesen, über das Phänomen Frauenfeindlichkeit offen zu schreiben. Das stellt eine wirkliche Verbesserung in gesellschaftlicher Hinsicht dar, von der aber nur privilegierte Frauen wie ich profitieren. Unter frauenfeindlichen Rückfällen leiden meist die leichter verwundbaren Frauen.
ZEIT ONLINE: Sie schreiben, dass Frauen oft Schuldgefühle plagen, wenn Männern traditionelle Privilegien entzogen werden. Haben Sie ein Beispiel?
Manne: Ich selbst habe gemerkt, wie groß meine Schuldgefühle beim Schreiben dieses Buches waren. Ich habe es dann zur Methode erhoben und immer dorthin den Finger gelegt, wo es schmerzte: Wenn sich zum Beispiel der Gedanke einstellte, dass ich mehr Sympathie für die entrechteten, gekränkten weißen Männer aufbringen sollte. Rational hielt ich es für falsch und unproduktiv, mich um diesen männlichen Schmerz zu kümmern – ich wollte mich ja vielmehr auf die Mädchen und Frauen konzentrieren, die Opfer dieser Männer geworden waren. Ironischerweise standen mir zwei ungemein hilfreiche heterosexuelle Männer bei – mein Mann und mein Lektor.
ZEIT ONLINE: Das heißt, es geht nicht um Männer gegen Frauen und umgekehrt?
Manne: Nein. Wir müssen viel mehr Männer zur Unterstützung von Frauen heranziehen. Umgekehrt ist es ja selbstverständlich.
ZEIT ONLINE: Nicht alle Frauen unterstützen Frauen. Tragen sie damit eine gewisse Mitschuld an der Aufrechterhaltung der patriarchalischen Ordnung? Und ist in diesem Zusammenhang allein die Sehnsucht nach altmodischen Kavalieren kontraproduktiv?
Manne: Manchmal schon, aber es lohnt sich nicht, gegen jeden Effekt geschlechtsspezifischer Sozialnormen mit gleicher Energie anzukämpfen. Mein Mann und ich unterrichten beide und beschäftigen uns seit Langem mit feministischer Literatur, Politik und Theorie. Dennoch kümmern wir uns umeinander in geschlechtsspezifischer Weise: Ich koche für ihn, er fährt mich herum. Aber ich bin viel stärker karriereorientiert als er. Unser bewusster, gewissenhafter Pragmatismus ist mir persönlich ganz recht.
aus; DIE ZEIT online, 4. November 2017