Dienstag, 30. Juli 2024

Weltenbrand?

Jürgen Habermas 

Krieg und Empörung. Schriller Ton, moralische Erpressung: Zum Meinungskampf zwischen ehemaligen Pazifisten, einer schockierten Öffentlichkeit und einem abwägenden Bundeskanzler nach dem Überfall auf die Ukraine.

Süddeutsche Zeitung (SZ) vom 28. April 2022

77 Jahre nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs und 33 Jahre nach Beendigung eines nur im Gleichgewicht des Schreckens bewahrten, wenn auch bedrohten Friedens sind die aufwühlenden Bilder eines Krieges zurückgekehrt – vor unserer Tür und von Russland willkürlich entfesselt. Wie nie zuvor beherrscht die mediale Präsenz dieses Kriegsgeschehens unseren Alltag. Ein ukrainischer Präsident, der sich mit der Macht der Bilder auskennt, sorgt für eindrucksvolle Botschaften. Die täglich neuen Szenen von roher Zerstörung und aufrüttelndem Leiden finden in den sozialen Medien des Westens ein selbstverstärkendes Echo. Das Neue an der Veröffentlichung und kalkulierten Öffentlichkeitswirksamkeit eines unberechenbaren Kriegsgeschehens mag uns Ältere dabei mehr beeindrucken als die mediengewohnten Jüngeren.

Aber gekonnte Inszenierung hin oder her – es sind Tatsachen, die an unseren Nerven zerren und zu deren schockierender Wirkung das Bewusstsein von der territorialen Nähe dieses Krieges beiträgt. So wächst unter den Zuschauern im Westen die Beunruhigung mit jedem Toten, die Erschütterung mit jedem Ermordeten, die Empörung mit jedem Kriegsverbrechen – und der Wunsch, auch etwas dagegen zu tun. Der rationale Hintergrund, vor dem diese Emotionen landesweit aufwallen, ist die selbstverständliche Parteinahme gegen Putin und eine russische Regierung, die einen massiven völkerrechtswidrigen Angriffskrieg vom Zaune gebrochen haben und die mit ihrer systematisch menschenverachtenden Kriegführung gegen das humanitäre Völkerrecht verstoßen. Selbstgewissheit und Aggression der Ankläger gegen Olaf Scholz sind irritierend. Trotz dieser einhelligen Parteinahme bahnt sich unter den Regierungen des westlichen Staatenbündnisses ein differenziertes Vorgehen an; und in Deutschland ist ein schriller, von Pressestimmen geschürter Meinungskampf über Art und Ausmaß der militärischen Hilfe für die bedrängte Ukraine ausgebrochen. Die Forderungen der unschuldig bedrängten Ukraine, die die politischen Fehleinschätzungen und falschen Weichenstellungen früherer Bundesregierungen umstandslos in moralische Erpressungen ummünzt, sind so verständlich, wie die Emotionen, das Mitgefühl und das Bedürfnis zu helfen, die sie bei uns allen auslösen, selbstverständlich sind.

Und doch irritiert mich die Selbstgewissheit, mit der in Deutschland die moralisch entrüsteten Ankläger gegen eine reflektiert und zurückhaltend verfahrende Bundesregierung auftreten. Seine Politik bringt der Bundeskanzler im Interview mit dem Spiegel mit dem Satz auf den Punkt: „Wir treten dem Leid, das Russland in der Ukraine anrichtet, mit allen Mitteln entgegen, ohne dass eine unkontrollierbare Eskalation entsteht, die unermessliches Leid auf dem ganzen Kontinent, vielleicht sogar in der ganzen Welt auslöst.“ Nachdem sich der Westen entschlossen hat, in diesen Konflikt nicht als Kriegspartei einzugreifen, gibt es eine Risikoschwelle, die ein ungebremstes Engagement für die Aufrüstung der Ukraine ausschließt. Diese ist durch den jüngsten Schulterschluss unserer Regierung mit den Alliierten in Ramstein ebenso wie durch Lawrows erneute Drohung mit dem Einsatz von Atomwaffen soeben wieder in ein grelles Licht gerückt worden. Wer ungeachtet dieser Schwelle den Bundeskanzler in aggressiv-selbstgewissem Tenor in diese Richtung immer weiter vorantreiben will, übersieht oder missversteht das Dilemma, in das der Westen durch diesen Krieg gestürzt wird; denn dieser hat sich mit dem auch moralisch gut begründeten Entschluss, nicht Kriegspartei zu werden, selbst die Hände gebunden.

Der Bundeskanzler besteht zu Recht auf einer politisch zu verantwortenden Abwägung. Das Dilemma, das den Westen zur risikoreichen Abwägung von Alternativen im Raum zwischen zwei Übeln – einer Niederlage der Ukraine oder der Eskalation eines begrenzten Konflikts zum dritten Weltkrieg – nötigt, liegt auf der Hand. Einerseits haben wir aus dem Kalten Krieg die Lehre gezogen, dass ein Krieg gegen eine Atommacht nicht mehr in irgendeinem vernünftigen Sinne „gewonnen“ werden kann, jedenfalls nicht mit Mitteln militärischer Gewalt innerhalb der überschaubaren Frist eines heißen Konflikts. Das atomare Drohpotenzial hat zur Folge, dass die bedrohte Seite, ob sie nun selber über Atomwaffen verfügt oder nicht, die in jedem Fall unerträglichen Zerstörungen militärischer Gewaltanwendung nicht durch einen Sieg, sondern bestenfalls mit einem für beide Seiten gesichtswahrenden Kompromiss beenden kann. Dann wird keiner Seite eine Niederlage zugemutet, die sie als „Verlierer“ vom Feld gehen lässt. Die derzeit mit den Kämpfen noch parallel laufenden Waffenstillstandsverhandlungen sind ein Ausdruck dieser Einsicht; sie halten einstweilen den reziproken Blick auf den Gegner als möglichen Verhandlungspartner offen. Zwar hängt das russische Drohpotenzial davon ab, dass der Westen Putin den Einsatz von ABC-Waffen zutraut. Aber tatsächlich hat die CIA während der letzten Wochen schon vor der aktuellen Gefahr sogenannter „kleiner“ Atomwaffen gewarnt (die offenbar nur deshalb entwickelt worden sind, um Kriege unter Atommächten wieder möglich zu machen). Das verleiht der russischen Seite einen asymmetrischen Vorteil gegenüber der Nato, die wegen des apokalyptischen Ausmaßes eines Weltkrieges – mit der Beteiligung von vier Atommächten – nicht zur Kriegspartei werden will.

Nun entscheidet Putin darüber, wann der Westen die völkerrechtlich definierte Schwelle überschreitet, jenseits derer er die militärische Unterstützung der Ukraine auch formal als Kriegseintritt des Westens betrachtet. Angesichts des unbedingt zu vermeidenden Risikos eines Weltenbrandes lässt die Unbestimmtheit dieser Entscheidung keinen Spielraum für riskantes Pokern. Selbst wenn der Westen zynisch genug wäre, die „Warnung“ mit einer dieser „kleinen“ Atomwaffen als Risiko einzukalkulieren, also schlimmstenfalls in Kauf zu nehmen, wer könnte garantieren, dass die Eskalation dann noch aufzuhalten wäre? Was bleibt, ist ein Spielraum für Argumente, die im Licht der fachlich notwendigen Kenntnisse und aller erforderlichen, nicht immer öffentlich zugänglichen Informationen sorgfältig abgewogen werden müssen, um begründete Entscheidungen treffen zu können. Der Westen, der ja schon mit der Verhängung drastischer Sanktionen von Anbeginn keinen Zweifel an seiner faktischen Kriegsbeteiligung gelassen hat, muss deshalb bei jedem weiteren Schritt der militärischen Unterstützung sorgfältig abwägen, ob er damit nicht auch die unbestimmte, weil von Putins Definitionsmacht abhängige Grenze des formalen Kriegseintritts überschreitet.

Andererseits kann sich der Westen aufgrund dieser Asymmetrie, wie auch die russische Seite weiß, nicht beliebig erpressen lassen. Würde dieser die Ukraine einfach ihrem Schicksal überlassen, wäre das nicht nur unter politisch-moralischen Gesichtspunkten ein Skandal, es läge auch nicht im eigenen Interesse. Denn dann müsste er erwarten, das gleiche russische Roulette demnächst wiederum im Falle von Georgien oder der Republik Moldau spielen zu müssen – und wer wäre der Nächste? Gewiss, die Asymmetrie, die den Westen längerfristig in eine Sackgasse treiben könnte, besteht ja nur so lange, wie sich dieser aus guten Gründen scheut, einen nuklearen Weltkrieg zu riskieren. Mithin wird dem Argument, Putin nicht in die Ecke zu drängen, weil er dann zu allem fähig sei, entgegnet, dass erst diese „Politik der Furcht“ dem Gegner freie Hand lässt, die Eskalation des Konflikts Schritt für Schritt voranzutreiben (Ralf Fücks in der SZ). Freilich bestätigt auch dieses Argument nur den Charakter einer schwer berechenbaren Lage. Denn solange wir aus guten Gründen entschlossen sind, für den Schutz der Ukraine nicht als eine weitere Partei in den Krieg einzutreten, müssen Art und Umfang der militärischen Unterstützung auch unter diesem Gesichtspunkt qualifiziert werden. Wer sich auf rational vertretbare Weise gegen eine „Politik der Furcht“ wendet, bewegt sich schon innerhalb des Argumentationsspielraums jener politisch zu verantwortenden und sachlich umfassend informierten Abwägung, auf der Bundeskanzler Olaf Scholz zu Recht besteht.

Deutsche Leitmedien breiten Spekulationen zu Putin aus wie zu besten Sowjetzeiten. Dabei geht es um die Beachtung einer aus unserer Sicht für Putin zustimmungsfähigen Interpretation einer rechtlich definierten Grenze, die wir uns selbst auferlegt haben. Die echauffierten Gegner der Regierungslinie sind, wenn sie die Implikationen einer Grundsatzentscheidung, die sie nicht in Frage stellen, leugnen, inkonsequent.

Der Entschluss zur Nichtbeteiligung bedeutet nicht, dass der Westen die Ukraine up to the point of immediate involvement dem Schicksal ihres Kampfes mit einem überlegenen Gegner überlassen muss. Seine Waffenlieferungen können offensichtlich den Verlauf eines Kampfes, den die Ukraine selbst um den Preis großer Opfer weiterzuführen entschlossen ist, günstig beeinflussen. Aber ist es nicht ein frommer Selbstbetrug, auf einen Sieg der Ukraine gegen die mörderische russische Kriegführung zu setzen, ohne selbst Waffen in die Hand zu nehmen?

Die kriegstreiberische Rhetorik verträgt sich schlecht mit der Zuschauerloge, aus der sie wortstark tönt. Denn sie entkräftet ja nicht die Unberechenbarkeit eines Gegners, der alles auf eine Karte setzen könnte. Das Dilemma des Westens besteht darin, dass er einem gegebenenfalls auch zur atomaren Eskalation bereiten Putin nur durch eine sich selbst begrenzende militärische Unterstützung der Ukraine, die diesseits der roten Linie eines völkerrechtlich definierten Kriegseintritts bleibt, den Grundsatz signalisieren kann, dass er auf der Integrität staatlicher Grenzen in Europa besteht.

Die kühle Abwägung einer sich selbst begrenzenden Militärhilfe wird zusätzlich kompliziert durch die Einschätzung der Motive, die die russische Seite zu ihrem offensichtlich falsch kalkulierten Entschluss bewogen haben. Die Konzentration auf die Person Putins führt zu wilden Spekulationen, die unsere Leitmedien heute wie zu den besten Zeiten der spekulativen Sowjetologie ausbreiten. Das heute vorherrschende Bild vom entschlossen revisionistischen Putin bedarf wenigstens des Abgleichs mit einer rationalen Einschätzung seiner Interessen. Auch wenn Putin die Auflösung der Sowjetunion für einen großen Fehler hält, kann das Bild des verstiegenen Visionärs, der mit dem Segen der russisch-orthodoxen Kirche und unter dem Einfluss des autoritären Ideologen Alexander Dugin die schrittweise Wiederherstellung des großrussischen Reiches als seine politische Lebensaufgabe betrachtet, kaum die ganze Wahrheit über seinen Charakter widerspiegeln. Aber auf solche Projektionen stützt sich die weitgehende Annahme, dass sich die aggressiven Absichten Putins über die Ukraine hinaus auf Georgien und die Republik Moldau, sodann auf die Nato-Mitglieder des Baltikums und schließlich bis weit in den Balkan hinein erstrecken. Kann dieser Krieg gegen eine Atommacht also „gewonnen“ werden?

Diesem Persönlichkeitsbild eines wahnhaft getriebenen Geschichtsnostalgikers steht ein Lebenslauf des sozialen Aufstiegs und der Karriere eines im KGB geschulten rational kalkulierenden Machtmenschen gegenüber, den die Westwendung der Ukraine und die politische Widerstandsbewegung in Belarus in seiner Beunruhigung über den politischen Protest in den fortschreitend liberaler denkenden Kreisen der eigenen Gesellschaft bestärkt haben.

Aus dieser Sicht wäre die wiederholte Aggression eher als die frustrierte Antwort auf die Weigerung des Westens zu verstehen, über Putins geopolitische Agenda zu verhandeln – vor allem über die internationale Anerkennung seiner völkerrechtswidrigen Eroberungen und die Neutralisierung eines „Vorfeldes“, das die Ukraine einschließen sollte. Das Spektrum dieser und ähnlicher Spekulationen vertieft nur die Ungewissheit eines Dilemmas, das „äußerste Vorsicht und Zurückhaltung gebietet“ (so das Fazit einer lehrreichen Analyse von Peter Graf Kielmansegg in der FAZ vom 19. April 2022).

Wie erklärt sich dann aber die innenpolitisch aufgeheizte Debatte über die von Bundeskanzler Scholz immer wieder bekräftigte Politik einer in Übereinstimmung mit den EU- und den Nato-Partnern überlegten Solidarität mit der Ukraine? Um die Themen zu entflechten, lasse ich den Streit über die Fortsetzung der bis zum Ende der Sowjetunion und auch noch darüber hinaus erfolgreichen Entspannungspolitik gegenüber einem unberechenbar gewordenen Putin, die sich nun als folgenreicher Fehler herausgestellt hat, beiseite; ebenso den Fehler deutscher

Regierungen, sich auch unter dem Druck der Wirtschaft von billigen russischen Ölimporten abhängig zu machen. Über das kurze Gedächtnis der heutigen Kontroversen wird eines Tages das Urteil der Historiker entscheiden.

Anders verhält es sich mit der Debatte, die sich unter dem bedeutungsträchtigen Namen einer „neuen deutschen Identitätskrise“ schon jetzt mit den Konsequenzen der zunächst nüchtern auf die deutsche Ostpolitik und den Verteidigungshaushalt bezogenen „Zeitenwende“ befasst. Denn diese Debatte, die vor allem an Beispiele der erstaunlichen Konversion friedensbewegter Geister anknüpft, soll einen historischen Wandel der von rechts immer wieder denunzierten, tatsächlich schwer genug errungenen Nachkriegsmentalität der Deutschen ankündigen

– und damit überhaupt das Ende eines auf Dialog und Friedenswahrung angelegten Modus der deutschen Politik.

Schon ist die emotional ergriffene Außenministerin zur Ikone geworden. Diese Lesart fixiert sich auf das Beispiel jener Jüngeren, die zur Empfindlichkeit in normativen Fragen erzogen worden sind, ihre Emotionen nicht verstecken und am lautesten ein stärkeres Engagement einfordern. Sie erwecken den Eindruck, als habe sie die völlig neue Realität des Krieges aus ihren pazifistischen Illusionen herausgerissen. Das erinnert auch an die zur Ikone gewordene Außenministerin, die unmittelbar nach Kriegsbeginn mit glaubwürdigen Gesten und einer bekenntnishaften Rhetorik der Erschütterung einen authentischen Ausdruck verliehen hat. Nicht als stünde sie damit nicht auch für das Mitgefühl und den Impuls zu helfen, die in unserer Bevölkerung allgemein verbreitet sind; aber sie hat darüber hinaus der spontanen Identifizierung mit dem ungestüm moralisierenden Drängen der zum Sieg entschlossenen ukrainischen Führung eine überzeugende Gestalt gegeben. Damit berühren wir den Kern des Konflikts zwischen denen, die empathisch, aber unvermittelt die Perspektive einer um ihre Freiheit, ihr Recht und ihr Leben kämpfenden Nation einnehmen, und denen, die aus den Erfahrungen des Kalten Krieges eine andere Lehre gezogen und – wie doch die auf unseren Straßen Protestierenden auch – eine andere Mentalität ausgebildet haben. Die einen können sich einen Krieg nur unter der Alternative von Sieg oder Niederlage vorstellen, die anderen wissen, dass Kriege gegen eine Atommacht nicht mehr i herkömmlichen Sinne „gewonnen“ werden können.

Grob gesagt, bilden die eher national und die eher postnational geprägten Mentalitäten von Bevölkerungen den Hintergrund für verschiedene Einstellungen zu Krieg überhaupt. Diese Differenz wird deutlich, wenn man den bewunderten heroischen Widerstand und die selbstverständliche Opferbereitschaft der ukrainischen Bevölkerung mit dem vergleicht, was von „unseren“, sagen wir verallgemeinernd, westeuropäischen Bevölkerungen in ähnlicher Situation zu erwarten wäre. In unsere Bewunderung mischt sich ein gewisses Erstaunen über die Siegesgewissheit und den ungebrochenen Mut der Soldaten und der für den Kampf rekrutierten Jahrgänge, die finster entschlossen sind, ihre Heimat gegen einen militärisch weit überlegenen Feind zu verteidigen. Demgegenüber setzen wir im Westen auf Berufsheere, die wir bezahlen, um uns gegebenenfalls nicht selbst mit der Waffe in der Hand schützen zu müssen, sondern von Berufssoldaten schützen zu lassen.

Noch muss übrigens mit ebenjenem Wladimir Putin verhandelt werden. Diese postheroische Mentalität hat sich im Westen Europas – wenn ich das so überverallgemeinernd sagen darf – während der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts unter dem atomaren Schutzschirm der USA ausbilden können. 

Im Hinblick auf die möglich gewordenen Verwüstungen eines Atomkrieges hat sich in den politischen Eliten und dem jeweils weit überwiegenden Teil der Bevölkerungen die Einsicht verbreitet, dass internationale Konflikte grundsätzlich nur durch Diplomatie und Sanktionen gelöst werden können – und dass im Fall des Ausbruchs von militärischen Konflikten der Krieg, da er nach menschlichem Ermessen im Hinblick auf das schwer kalkulierbare Risiko eines drohenden Einsatzes von ABC-Waffen nicht mehr im klassischen Sinne mit Sieg oder

Niederlage zu Ende geführt werden kann, so schnell wie möglich beigelegt werden muss: „Vom Krieg kann man nur lernen, Frieden zu machen“, sagt Alexander Kluge. Diese Orientierung bedeutet nicht etwa einen grundsätzlichen Pazifismus, also Frieden um jeden Preis. Die Orientierung an der möglichst schnellen Beendigung von

Destruktion, menschlichen Opfern und Entzivilisierung ist nicht gleichbedeutend mit der Forderung, eine politisch freie Existenz für das bloße Überleben aufzuopfern. Die Skepsis gegen das Mittel kriegerischer Gewalt findet prima facie eine Grenze an dem Preis, den ein autoritär ersticktes Leben fordert – ein Dasein, aus dem auch noch das Bewusstsein vom Widerspruch zwischen erzwungener Normalität und selbstbestimmtem Leben verschwunden wäre.

Die von den rechten Interpreten der Zeitenwende begrüßte Umkehr unserer ehemaligen Pazifisten erkläre ich mir  aus einer Konfusion jener beiden gleichzeitig aufeinanderstoßenden, aber historisch ungleichzeitigen Mentalitäten. Diese markante Gruppe teilt die Siegeszuversicht der Ukrainer und appelliert mit großer Selbstverständlichkeit an das verletzte internationale Recht. Nach Butscha verbreitete sich in Windeseile die Parole: „Putin nach Den Haag!“ Das signalisiert allgemein die Selbstverständlichkeit der normativen Maßstäbe, die wir heute an die internationalen Beziehungen anlegen, also das tatsächliche Ausmaß der Veränderung in den entsprechenden Erwartungen und humanitären Sensibilitäten der Bevölkerung.

In meinem Alter verhehle ich nicht eine gewisse Überraschung: Wie tief muss der Boden der kulturellen Selbstverständlichkeiten, auf dem unsere Kinder und Enkel heute leben, umgepflügt worden sein, wenn sogar die konservative Presse nach den Staatsanwälten eines Internationalen Strafgerichtshofes ruft, der weder von Russland und China noch von den USA anerkannt wird. Leider verrät sich in solchen Realitäten auch der doch noch hohl klingende Boden einer erregten Identifizierung mit den immer schriller gewordenen moralischen Anklagen der deutschen Zurückhaltung. Nicht als hätte es der Kriegsverbrecher Putin nicht verdient, vor einem solchen Gericht zu stehen; aber noch nimmt er im Sicherheitsrat der Vereinten Nationen den Sitz einer Vetomacht ein und kann seinen Gegnern mit Atomwaffen drohen. Noch muss mit ihm ein Ende des Krieges, wenigstens ein Waffenstillstand verhandelt werden. Ich sehe keine überzeugende Rechtfertigung für die Forderung nach einer Politik, die – im peinigenden, immer unerträglicher werdenden Anblick der täglich qualvolleren Opfer – den gleichwohl gut begründeten Entschluss der Nichtbeteiligung an diesem Krieg de facto aufs Spiel setzt.

Die Konversion der ehemaligen Pazifisten führt zu Fehlern und Missverständnissen. Politisch-mentale Differenzen, die sich aus ungleichzeitigen historischen Entwicklungen erklären, dürfen sich Verbündete nicht zum Vorwurf machen, sie sollten diese als Fakten zur Kenntnis nehmen und in ihrer Kooperation klug berücksichtigen. Aber solange diese Perspektiven bildenden Unterschiede im Hintergrund bleiben, verursachen sie wie im Falle der Reaktion der Abgeordneten auf die moralischen Ordnungsrufe des ukrainischen Präsidenten in seiner Videoansprache an den Bundestag nur eine Konfusion der Gefühle – ein Durcheinander zwischen ungaren Reaktionen der Zustimmung, des bloßen Verständnisses für die Perspektive des Anderen und der gebotenen Selbstachtung. Die Vernachlässigung der historisch begründeten Differenzen in der Wahrnehmung und Interpretation von Kriegen führt nicht nur, wie im Falle der brüsken Ausladung des deutschen Bundespräsidenten, zu folgenreichen Fehlern im Umgang miteinander. Sie führt, was schlimmer ist, zur einem reziproken Missverständnis dessen, was der andere tatsächlich denkt und will.

Diese Erkenntnis rückt auch die Konversion der einstigen Pazifisten in ein nüchterneres Licht. Denn sowohl die Empörung wie das Entsetzen und das Mitgefühl, die den motivationalen Hintergrund ihrer kurzschlüssigen Forderungen bilden, erklären sich ja nicht aus einer Absage an die normativen Orientierungen, über die sich die sogenannten Realisten immer schon mokiert haben. Sondern aus einer überprägnanten Lesart gerade dieser Grundsätze. Sie haben sich nicht zu Realisten bekehrt, sondern überschlagen sich geradezu in Realismus: Gewiss, ohne moralische Gefühle keine moralischen Urteile; aber das verallgemeinernde Urteil korrigiert auch seinerseits die beschränkte Reichweite der aus der Nähe stimulierten Gefühle.

Immerhin nicht zufällig sind die Autoren der „Zeitenwende“ jene Linken und Liberalen, die angesichts einer drastisch veränderten Konstellation der Großmächte – und im Schatten transatlantischer Ungewissheiten – mit einer überfälligen Einsicht Ernst machen wollen: Eine Europäische Union, die ihre gesellschaftliche und politische Lebensform weder von außen destabilisieren noch von innen aushöhlen lassen will, wird nur dann politisch handlungsfähig werden, wenn sie auch militärisch auf eigenen Beinen stehen kann. Macrons Wiederwahl markiert eine Galgenfrist. Aber zunächst müssen wir einen konstruktiven Ausgang aus unserem Dilemma finden.

Diese Hoffnung spiegelt sich in der vorsichtigen Formulierung des Zieles, dass die Ukraine den Krieg nicht verlieren darf.