Donnerstag, 20. Februar 2025

Angst, Deutsche Angst

Georg Diez

Die deutsche Krankheit

Das sind keine normalen Wahlen in Deutschland. Was bricht hier auf? Wie konnte das Land in diese Lage geraten?

Republik 17.02.2025

Die deutsche Krankheit ist die Angst. Sie hat sich in die Gesichter der Menschen gefressen, sie schaut aus ihren Augen, wenn sie einem mit eingezogenem Kopf auf dem Bürgersteig entgegen­kommen und beharrlich geradeaus schauen, geradeaus gehen, geradeaus denken. Sie durchzieht ihre Körper und macht sie hart und unnahbar und auf eine gewisse Art grausam, die ich als Kind fast physisch gespürt habe und vor der ich immer wieder zu längeren Aufenthalten ins Ausland geflüchtet bin und mit der ich nun täglich konfrontiert bin, je länger, desto Merz.

Es ist eine Angst, die sich im Verhalten äussert und im Denken. Es ist die Angst vor anderen Menschen, die Angst vor sich selbst, die Angst davor, aufzufallen, die Angst vor neuen Gedanken, die Angst vor der Welt, die Angst vor Eleganz, Schönheit, vor allem, was man nicht kennt. Sie ist nicht immer sichtbar, diese Angst, und sie ist nicht bei allen Deutschen da. Aber sie kommt hervor, wenn die Zeiten härter werden, und sie wird dann umso unheimlicher.

Es ist eine Angst, die sich im Lauf der Geschichte oft in Aggression verwandelt hat. Sie liegt im Ursprung des deutschen Komplexes als Land, das zu gross ist in der Mitte Europas und zugleich so unsicher, was Rolle und Identität angeht. Die beiden Welt­kriege des 20. Jahrhunderts lassen sich so teilweise erklären, eine geo­politische Unwucht, die sich entweder in deutscher Dominanz oder deutscher Expansion äusserte. Nach 1945 war die Spaltung des Landes Garant für geopolitische Vernunft. Seit 1990 ist das Land wieder in Bewegung. Es ist wieder zu gross und zu klein zugleich. Das schafft Spannungen.

Ich glaube nicht, dass sich Geschichte wiederholt. Ich glaube aber auch nicht, dass sich Völker so schnell und grund­legend ändern, dass Strukturen von Gewalt verschwinden, die in der Erinnerung der Täter lange Teil der deutschen Gesellschaft waren und an die Kinder und die Enkel weiter­gegeben wurden. Die deutsche Angst und Geschichte reichen allerdings tiefer als bis zu Adolf Hitler. Wenn ich über dieses Land nachdenke, heute, dann sehe ich ein Land voller Bruch­linien, die nicht direkt sichtbar sind. Ein Land, das sich in der Völker­wanderung geformt hat, ein Land, das immer noch vom römischen Limes zerteilt ist, die Grenze der Zivilisation – man merkt immer noch, wo die Römer waren und wo nicht.

In diesen Tagen scheint all das präsenter zu sein als je zuvor in der Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg. Wir sehen, wie sich in Europa und in den USA ein neuer Faschismus formt, der nur wenig mit dem alten Faschismus zu tun hat. Dennoch greift er auf bestimmte historische Formen zurück: bislang vor allem auf das Freund-Feind-Schema der politischen Auseinander­setzung, die Gedanken­kontrolle und massive Säuberungen im Staats­apparat, Einschüchterung der freien Medien, exekutive Dominanz, rassistische Ausgrenzung, persönliche Interessen und Bereicherung, Anbiederung der Eliten und der Industrie, Gewalt gegen die Schwächsten.

Jedes Land hat dabei seine bestimmte Form des Faschismus. In Deutschland sind die Rechts­extremen von der AfD in Ton und im Auftreten, in den Biografien und in den Netz­werken brutaler als etwa in Frankreich oder Italien. Es hat sich in diesem Land etwas von der exterminatorischen Verachtung der Zeit zwischen 1933 und 1945 bewahrt – zum Teil haben die Leute in der AfD durch ihre Familien­geschichte direkte Verbindungen zum National­sozialismus: Beatrix von Storch etwa, deren Grossvater Reichs­finanz­minister unter Adolf Hitler war und 1949 als Kriegs­verbrecher zu zehn Jahren Haft verurteilt wurde.

In diesen Wochen vor der Bundestags­wahl am 23. Februar nun ist das Land von dramatischen Konvulsionen durchzogen. Die beiden Abstimmungen vom 29. und 31. Januar, bei denen die CDU auf die Stimmen und die Unterstützung der AfD gesetzt hat, um eine massive Verschärfung im Zuwanderungs­recht zu erreichen, die gegen das deutsche Grund­gesetz und gegen europa­politische Grund­sätze verstösst, haben das Land verändert, haben vor allem die aggressive Art der deutschen Angst wieder sichtbar gemacht: Es ist ein rücksichtsloser Egoismus, der in der Sprache eine Rohheit erzeugt, die das Ende liberaler Politik bedeutet, die auf Verhandlungen und Kompromiss setzt.

Ich weiss von vielen, die darüber nachdenken, was sie tun würden, wohin sie gehen würden, wenn die AfD an die Macht kommt. Ich auch. Ich denke auch darüber nach, was es heisst: «an die Macht kommen», und ob die Macht der AfD nicht schon gross genug ist, gefährlich gross. Wann ist also der Augenblick zu gehen? Wann weiss man, dass es nicht mehr geht? Und was macht man davor? Hundert­tausende sind in Deutschland auf die Strasse gegangen, um gegen Friedrich Merz und seinen Pakt mit der AfD zu demonstrieren. Das ist wunderbar. Aber reicht es?

Es sind schwierige und einiger­massen deprimierende Tage in Deutschland, unterbrochen von diesen wichtigen Momenten, vom Auflehnen der Zivil­gesellschaft, vom Widerstand von Freunden. Manche lesen in diesen Tagen Stefan Zweigs «Die Welt von Gestern», weil darin erzählt wird, wie eine Gesellschaft, wie eine Welt wegkippt. Andere lesen Heinrich Manns «Der Untertan», weil hier so präzise wie nirgends sonst der deutsche Geist beschrieben wird, der sich in aggressiver Unterwürfigkeit zeigt: «Wer treten wollte», so heisst ein Schlüssel­zitat für den deutschen Faschismus, «muss sich treten lassen.»

Auch Heinrich Mann erzählt von der deutschen Krankheit – davon, wie Angst und Provinzialismus zusammen­hängen und Angst und Irrationalität, die sich individuell und gesellschaftlich äussert. Das eine ist ein Problem, das andere ein Pogrom. Heinrich Manns Bruder Thomas erfasste die doppelte deutsche Dunkelheit von Irrationalität und Grössen­wahn in seinen Romanen und Reden – sie lesen sich historisch, sie scheinen weit weg, «Doktor Faustus» etwa, wo die Dunkelheit der Avant­garden verhandelt wird. Aber noch mal: Wie vergeht Geschichte, wie ändern sich Menschen, was bleibt von Grausamkeiten in Gesellschaften?

Es bricht gerade vieles auf und einiges bricht zusammen. Die Wahl von Donald Trump hat das alles beschleunigt, was latent vorhanden war. Der Einfluss von Elon Musk ist dabei besonders mächtig. In Deutschland ist diese Veränderung deutlich zu spüren. Es scheint etwas wie einen Nachahmungs­effekt zu geben, eine Mischung aus speziell deutschem Ressentiment etwa in der Migrations­debatte und einem generellen Zeitgeist, der hin zu mehr nationalem Egoismus geht und zu mehr Härte zwischen Staaten und zwischen Menschen. Die deutsche Gesellschaft und Politik, fürchte ich, sind darauf nicht gut vorbereitet.

Der Wahlkampf ist bisher ein Spektakel der Ideenlosigkeit. Es fehlen der Wille und die Energie, sich eine Zukunft für das Land vorzustellen, ausser vielleicht bei der innovativen und interessanten Partei Volt, die als europaweite Partei eine andere Vorstellung etwa von Migration vertritt. Ansonsten sind ausser der Partei Die Linken und mit Abstrichen den Grünen wiederum so gut wie alle Parteien in der Rhetorik von rechts gefangen und reagieren auf die Forderungen nach andauernder Verschärfung von Zuwanderung – obwohl es gravierende andere Fragen gibt in diesem Land, die zuerst oder wenigstens im Zusammen­hang angegangen werden müssten.

Zuwanderung etwa, die nur als Gefahr diskutiert wird, ist notwendig als Einwanderung für ein alterndes Land – die deutsche Wirtschaft, eh schon angeschlagen und teilweise abgeschlagen im Welt­massstab, droht durch den Fachkräfte­mangel weitere Probleme zu bekommen. Industrie­politisch ist die Rücknahme des Verbots von Verbrenner­motoren ein Zeichen für die Retro-Sehnsucht, die diese Gesellschaft durchzieht. Die Klima­krise wird weitgehend verschwiegen, die KI-Revolution auch. Es ist in vielen Bereichen diese Angst vor der Zukunft, die zu Regression und reaktionärer Politik führt.

Viel kommt da nicht von der SPD, die auf ihren Plakaten Olaf Scholz zeigt und eine Deutschland­fahne. Und auch die Grünen plakatieren vor allem Worte oder Wünsche statt Programme und Ideen: «Zuversicht» etwa oder «Zusammen». Die Konservativen der CDU und CSU waren schon vorher ratlos, aber sie konnten es ganz gut verstecken, weil sie in der Opposition waren. Nun sind sie auf dem Weg, den Kanzler zu stellen, und sie merken, dass sie etwas brauchen, das sie den Wählerinnen anbieten – es reicht nicht, einfach nicht die SPD oder die Grünen zu sein und sich mehr oder weniger gegen eine AfD zu stellen, die die CDU als Haupt­gegner ausgemacht hat.

In dieser Situation wirkt das, was sich gerade in den ersten Wochen von Donald Trumps schicksal­hafter Präsidentschaft vollzieht, wie eine Richtungs­angabe: Entgegen aller Vernunft und allen Beispielen, aus den USA, Frankreich, Italien, Gross­britannien, gehen auch die deutschen Konservativen den Weg nach rechts, weil sie denken, dass sie hier Schärfe und Profil gewinnen könnten und Stimmen noch dazu. Das war das Fanal vom 29. Januar 2025, als die CDU zum ersten Mal in der deutschen Nachkriegs­geschichte einen Bundestags­beschluss mit Unter­stützung der Rechts­extremen durchbrachte.

Die Beispiele aus der jüngeren Zeit zeigen relativ eindeutig, dass konservative Parteien, die sich nach rechts bewegen, im Fall der CDU durch eine harte Migrations­politik, die gegen das deutsche Grund­gesetz verstösst und gegen europäisches Recht, ihren Wesens­kern verlieren und von den Rechts­extremen an die Wand gespielt werden, ausgehöhlt, verspeist. Es ist nicht der Weg von Weimar, aber es ist das, was in Washington, Rom und London passiert ist und sich in Paris ankündigt, wo Marine Le Pen 2027 Präsidentin werden könnte.

Das speziell Deutsche an dieser Situation wurde in den vergangenen Tagen deutlich: So haltlos sind die deutschen Konservativen, so amateurhaft agiert das Personal, besonders Friedrich Merz, der eigentlich seine Kanzler­kandidatur verzockt hat, und sein eifriger General­sekretär Carsten Linnemann, der, so gehen die Gerüchte, gern Merz noch in der kommenden Legislatur­periode stürzen würde, Merz ist 69, Linnemann ist 48. Es ist ein Generationen­unterschied, und der Eindruck ist, dass sehr rechts ein Zukunfts­versprechen existiert, das es sonst gerade nicht gibt.

Dieses Zukunfts­versprechen formt sich aus Angst und Aggression. Die CDU traut sich nicht, «Make Germany Great Again» zu tapezieren, aber ihr Slogan «Ein Deutschland, auf das wir wieder stolz sein können» geht schon in diese Richtung. Gegen die Angst vor der Zukunft, so scheint es, hilft zurzeit das Versprechen einer Zukunft, die frei von Veränderung ist: «Wir können ein starkes Land sein», so erklärt es Friedrich Merz, «wenn wir die Tugenden wieder wertschätzen, die Grundlage für unseren heutigen Wohlstand waren: Leistungs­bereitschaft, Fleiss, Anstand, Gerechtigkeit und Gemeinwohl­orientierung.»

Was die Deutschen immer suchen, ist das, was sie zusammen­hält, gegen andere. Das hat meistens etwas Ausgrenzendes. Die Angst ist das Verbindende in diesem Land, und solange sie sich anderweitig binden liess, etwa in engen Camping­siedlungen oder Kleingarten­anlagen oder dem alltäglichen Kontroll­wahn, den jeder kennt, der schon mal bei Rot eine deutsche Ampel ignoriert hat, solange sie anderweitig und demokratisch gebunden war, blieb sie wie ein bleierner Boden­satz in diesem Land, das beharrlich überschätzt wird, von sich selbst und von anderen.

Nun aber ist es anders. Nun ist die Demokratie ins Wanken geraten, und die handelnden Personen, allen voran Friedrich Merz, lassen einen nicht darauf vertrauen, dass sie Rechts­staatlichkeit vor ihre eigenen Interessen stellen. Ein Problem ist dabei die Energie- und Ideen­losigkeit der progressiven Seite, die sich zu sehr auf den Angst­diskurs einlässt.

Es sind dunkle Tage in Deutschland. Ich arbeite dagegen an. Aber ich muss auch zum ersten Mal in meinem Leben sagen: Ich habe Angst vor der deutschen Angst. 

Verfassungspatriotismus

Gwinyai Machona

Die Leere aus der Geschichte. Warum es jetzt auf die letzten Verfassungspatrioten ankommt

Doch nachdem der Bundestag den von der CDU-Fraktion eingebrachten ‚Fünf-Punkte-Plan‘ (BT Drucksache 20/14698) in einem nicht rechtsverbindlichen Beschluss auch mit den entscheidenden Stimmen der AfD verabschiedet hat, muss man sich, so Thomas Groß, Professor für Öffentliches Recht, zurecht, „ernsthaft die Frage stellen, was es über den Zustand unseres demokratischen Rechtsstaates sagt, wenn im Deutschen Bundestag ein Beschluss eine Mehrheit findet, der die Vereinbarkeit seiner Forderungen mit dem geltenden Recht vollständig ausblendet.“ Geforderte Maßnahmen wie das „faktische Einreiseverbot“ samt Zurückweisungen an den Grenzen und „zeitlich unbefristete Abschiebungshaft“ für ausreisepflichtige Straftäter:innen und Gefährder:innen befinden sich derzeit offenkundig „jenseits geltenden Rechts“, wie mit Winfried Kluth ein weiterer Staatsrechtler erklärt. Auch Helmut Aust und Heike Krieger warnen in der FAZ: „Wer internationale Rechtspflichten ignoriert, wird auch nicht davor zurückschrecken, innerstaatliches Verfassungsrecht zu demontieren. Wer Völker- und Europarecht nicht achtet, dem wird früher oder später auch das Verfassungsrecht kein Maßstab mehr sein.“ Dass sich der aussichtsreichste Kanzlerkandidat jüngst auf juristische Scheinargumente des Historikers Heinrich August Winkler zur „deutschen Asyllegende“ bezog, die sowohl an der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts als auch an sämtlicher verfassungsrechtlicher Literatur vorbeigehen, schafft dabei wenig Abhilfe.

In allererster Linie ist es also der Inhalt der Forderungen, der Grund zur Sorge sein sollte, nicht so sehr das vielseits beklagte ‚Verfahren‘, das darauf angelegt war, den Beschluss notfalls mit den Stimmen der AfD zu fassen. Es gehört aber doch zum ganz besonderen Zynismus der Geschichte, dass ausgerechnet am 80. Internationalen Tag des Gedenkens an die Opfer der Shoah das erste Mal ein Antrag im Deutschen Bundestag mit den Stimmen einer zumindest in Teilen rechtsradikalen Partei angenommen wurde, deren Vertreter:innen nicht nur seit geraumer Zeit mit Aussprüchen wie „Vogelschiss in der Geschichte“ oder „Denkmal der Schande“ provozieren und eine „erinnerungspolitische Wende um 180 Grad“ fordern, sondern auch straffällig werden, wie etwa bei der wiederholten Nutzbarmachung des SA-Wahlspruchs „Alles für Deutschland“.

Was ist geworden aus der Rede von den ‚Lehren aus der Geschichte‘? Welchen Stellenwert haben diese noch in Deutschland, wenn sie selbst für die politische ‚Mitte‘ anscheinend nur noch Objekte eines Rituals sind? Und worauf zielte die Rede vom ‚Verfassungspatriotismus‘ ursprünglich ab?

Der Historikerstreit in der BRD

„Ohne Menschen in Politik und Gesellschaft, die die Werteordnung der Verfassung vor dem Hintergrund ihrer Geschichte in einem rationalen Diskurs verwirklichen wollen, wird aus vergegenwärtigter Geschichte geschichtslose Leere.“

Bekanntlich griff Jürgen Habermas den Begriff des Verfassungspatriotismus, wie ihn Dolf Sternberger verwendet hatte, im Kontext des sogenannten Historikerstreits auf. Unter dem Titel „Eine Art Schadensabwicklung“ befand Habermas am 11. Juli 1986 in Die Zeit: „Der einzige Patriotismus, der uns dem Westen nicht entfremdet, ist ein Verfassungspatriotismus.“ Dieser Ausspruch entwickelte ein Eigenleben. Doch während der dahinterstehende Gedanke nur in seinem historischen Kontext gänzlich verständlich ist, droht dieser Kontext im Laufe der Zeitgeschichten in Vergessenheit zu geraten. Die Erinnerung lohnt sich, denn auch wenn sich Geschichte nicht 1:1 wiederholt, holt uns, mit Reinhart Koselleck gesprochen, die Vergangenheit doch manchmal ein.

1981: Die an der sozialliberalen Koalition unter Kanzler Helmut Schmidt (SPD) beteiligte FDP wendet sich in dem sogenannten „Scheide-Papier“ zur „Überwindung der Wachstumsschwäche“ gegen die sozialliberale Wirtschaftspolitik. Es kommt zum Koalitionsbruch. Durch ein konstruktives Misstrauensvotum wird Helmut Kohl (CDU) 1982 mit den Stimmen der FDP Kanzler. Kohl fordert nicht nur eine wirtschaftspolitische ‚Wende‘, sondern gleich eine „geistig-moralische Wende“. Schluss mit dem links-liberalen Nachhall der 68er-Bewegung, klare Abgrenzung zu den grünen ‚Ökospinnern‘, die ab 1983 im Bundestag sitzen, und weg mit dem deutschen ‚Schuldkult‘. Vor dem Hintergrund aufkommender rechtsextremer Kräfte wie der Deutschen Volksunion (DVU) spricht Helmut Kohl 1984 in Israel von der „Gnade der späten Geburt“, ein Ausspruch, der wohl beruhigen soll, aber leicht als Schuldabwehr (miss?)verstanden werden konnte. Nachdem Bundespräsident Richard von Weizsäcker (CDU) 1985 den 8. Mai als „Tag der Befreiung“ bezeichnete, widerspricht Franz Joseph Strauß (CSU) und fordert, dass die Vergangenheit „in der Versenkung“ verschwinden solle, eine „ewige Vergangenheitsbewältigung als gesellschaftliche Dauerbüßeraufgabe“ würde ein „Volk“ nur lähmen.

In diesem gesellschaftspolitischen Kontext soll im Sommer 1986 zunächst der renommierte Historiker und ausgewiesene Faschismusexperte Ernst Nolte einen Vortrag bei den Frankfurter Römerberggesprächen halten. Dieser wurde jedoch kurzfristig – wohl wegen inhaltlicher Bedenken – durch Wolfgang J. Momsen, damals Direktor des Deutschen Historischen Instituts in London ersetzt. Nolte sagt daraufhin seine Teilnahme gänzlich ab und spricht von einem „Frageverbot“.

Doch am 6. Juni 1986 bringt die FAZ das Redemanuskript mit dem Titel, „Die Vergangenheit, die nicht vergehen will: Ein Vortrag der geschrieben, aber nicht gehalten werden konnte“ und verschafft Noltes Thesen so bundesweite Aufmerksamkeit. Der Text beginnt mit einigen Klarstellungen. Es habe „gute Gründe“ gegeben, dass sich die nationalsozialistische Vergangenheit „als Schreckensbild […] geradezu als Gegenwart etabliert.“ Doch weiter meint Nolte, dass die „Rede von der ‚Schuld der Deutschen‘ […] allzu beflissen die Ähnlichkeit mit der Rede von der ‚Schuld der Juden‘“ übersehe. Angesichts des zeitlich vor dem NS liegenden Völkermordes an den Armeniern und des sowjetischen Zwangsarbeiter- und Internierungslagersystems (GULag) stellte Nolte die folgenden berühmt gewordenen Fragen:

„Vollbrachten die Nationalsozialisten, vollbrachte Hitler eine ‚asiatische‘ Tat vielleicht nur deshalb, weil sie sich und ihresgleichen als potentielle oder wirkliche Opfer einer ‚asiatischen‘ Tat betrachteten? War nicht der ‚Archipel Gulag‘ ursprünglicher als Auschwitz? War nicht der ‚Klassenmord‘ der Bolschewiki das logische und faktische Prius des ‚Rassenmords‘ der Nationalsozialisten? […] Rührte Auschwitz vielleicht in seinen Ursprüngen aus einer Vergangenheit her, die nicht vergehen wollte?“

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Dass ein analytisch denkender und arbeitender Intellektueller wie Ernst Nolte sich der gesellschaftspolitischen Natur seiner Thesen und ihrer Sprengkraft bewusst gewesen war, kann wohl angenommen werden, auch wenn er stets sein rein historisches (und grundsätzlich wohlberechtigtes) Erkenntnisinteresse betonte. Schnell wurde der sich selbst vormals als links beschreibende Nolte in eine ‚rechte Ecke‘ gestellt, in der er verharrte. Auch in späteren Veröffentlichungen, wie in dem Sammelband ‚Schatten der Vergangenheit‘, hielt er an seiner Deutung fest und versuchte darzulegen, warum das nationalsozialistische Feindbild des „jüdischen Bolschewismus“ zwar grob vereinfacht war, aber doch auf sachlicher Grundlage beruht habe. Schließlich hätten sich jüdische „Vorkämpfer“ des Sozialismus wie Max Horkheimer, Ernst Bloch und Georg Lukács anti-deutsch geäußert und wer (wie Bloch) „eine gesellschaftliche Realität, die von Millionen Menschen trotz all ihrer Schwächen als ‚liebenswert‘, als ‚Vaterland‘ empfunden wird, auf eine so enthemmte, so dämonisierende, so mythisierende Weise angreift, der darf sich nicht wundern, wenn aus dieser Realität ein Gegenschlag hervorgeht, der nicht minder enthemmt und mythisierend ist“. Spätestens hier fiel Ernst Nolte selbst in das von ihm formal beklagte „kollektivistische Denken“ und bediente normative Kategorien der Schuld und Verantwortung, die bereits in seinem FAZ-Aufsatz für alle hörbar mitschwangen.

Neben der Kritik, dass seine Thesen ‚revisionistisch‘ seien und Anleihen nehmen würden bei (neu-)rechten Versuchen der Täter-Opfer-Umkehr und Schuldabwehr, behauptete Jürgen Habermas in seiner Replik zudem, dass es Ernst Nolte und den anderen Historikern in Wahrheit um eine Erneuerung der deutschen Identität ginge:

„Wer uns mit einer Floskel wie ‚Schuldbesessenheit‘ (Stürmer und Oppenheimer) die Schamröte über dieses Faktum [einer ‚postkonventionellen Identität‘ in Deutschland] austreiben will, wer die Deutschen zu einer konventionellen Form ihrer nationalen Identität zurückrufen will, zerstört die einzige verläßliche Basis unserer Bindung an den Westen.“

Elemente dieser „postkonventionellen Identität“ sah Habermas darin, dass etwa die „nationalen Symbole ihre Prägekraft verloren haben“, „die naiven Identifikationen mit der eigenen Herkunft einem eher tentativen Umgang mit Geschichte gewichen sind“, „Kontinuitäten nicht um jeden Preis gefeiert werden“ und „nationaler Stolz und kollektives Selbstwertgefühl durch den Filter universalistischer Wertorientierung hindurchgetrieben werden“. In diesem Kontext griff Habermas den Begriff des Verfassungspatriotismus auf, er sei der einzige Patriotismus, „der uns dem Westen nicht entfremdet“. Die „in Überzeugungen verankerte Bindung an universalistische Verfassungsprinzipien“ habe sich „leider in der Kulturnation der Deutschen erst nach – und durch – Auschwitz bilden können.“ Ein solcher Verfassungspatriotismus war gedacht als Lehre aus der Geschichte, um diese zu überwinden, ohne sie zu vergessen.

Der Verfassungspatriotismus im vereinten Deutschland

Inwieweit Habermas’ Befund vom „Faktum“ der postkonventionellen Identität indes empirisch überzeugen konnte, kann wohl in Frage gestellt werden. Ein Jahr nach Beginn der Debatte gründete sich die rechtsextreme Deutsche Volksunion (DVU) als Partei. In den frühen 1990er Jahren kam es zu unzähligen Angriffen auf Unterkünfte von Geflüchteten (siehe Listen hier oder hier). Als Reaktion auf die Angriffe wurde unter anderem das Grundrecht auf Asyl im Grundgesetz entscheidend beschränkt – um rechten Parteien Wählerstimmen abzunehmen, so das aus politikwissenschaftlicher Sicht selten erfolgreiche Kalkül. So erhielt die DVU 1998 bei den Landtagswahlen in Sachsen-Anhalt 12,9 % der Stimmen, das lange Zeit beste Wahlergebnis einer rechtsextremen Partei in Deutschland. Rechtsextremismus, Antisemitismus und Rassismus waren in Deutschland immer ein Stück Normalität und der Verfassungspatriotismus nach Habermas wohl immer auch ein Stück Wunschdenken.

Dennoch legten Ideen wie Verfassungspatriotismus und Vergangenheitsbewältigung nach 1990 einen bemerkenswerten Gang vom links-intellektuellen Rand bis in die Mitte des vereinten Deutschlands zurück. Das Grundgesetz wurde zu dem zentralen „Identifikationsfaktor“ für das vereinte Nachkriegsdeutschland, wie Dieter Grimm  nachzeichnet. Vor dem Hintergrund der eigenen Geschichte befand das Bundesverfassungsgericht bekanntlich, dass das Grundgesetz eine „wertgebundene Ordnung“ (BVerfG, SRP-Verbot) beziehungsweise eine „objektive Werteordnung“ (BVerfG, Lüth) konstituiere. Die Verfassung hielt gewissermaßen den „Filter universalistischer Werteorientierungen“ bereit, von dem Habermas geschrieben hatte. Sie gilt als Schutz vor der Erosion der freiheitlich-demokratischen Grundordnung. Denn die konstitutionelle Ordnung Weimars ist nicht allein an ihren juristischen Konstruktionsfehlern gescheitert, sondern „am eklatanten Versagen“ der Politik und Gesellschaft, die, so der ehemalige Bundesverfassungsrichter Udo Di Fabio in seinem Buch zur Weimarer Verfassung, „die Spielregeln des parlamentarischen Betriebs nie richtig gewollt und verstanden haben“.

Dahinter steht auch die Einsicht, dass eine demokratische Verfassungsordnung mehr verlangt als Beschlussfassungen durch Mehrheiten. Die international geläufige Kritik an Verfassungsgerichten, diese seien undemokratisch und nicht legitimiert, Gesetze des demokratisch gewählten Parlamentes als verfassungswidrig aufzuheben, hat (bislang) in Deutschland kaum Wurzeln geschlagen. ‚Karlsruhe‘ wurde fester Bestandteil einer deutschen Verfassungskultur, die populistische Mehrheitsbildung traditionell skeptisch betrachtet und grundsätzlich kein demokratietheoretisches Problem in einem starken Verfassungsgericht sieht. Auch dies war eine Lehre aus der Machtübertragung an die Nationalsozialisten, die stets in Erinnerung ruft, dass Mehrheiten nicht immer im Sinne der Demokratie handeln. Diese Erinnerung trug dazu bei, dass das Bundesverfassungsgericht die starke Stellung einnahm, die es heute innehat. ‚Verfassungspatriotismus‘ bedeutet in Deutschland traditionell auch ‚Verfassungsgerichtspatriotismus‘ und steht damit einem formalen, im analytischen Sinne populistischen Demokratieverständnis entgegen.

Der Stolz auf die eigene Verfassungsordnung geht jedoch von Beginn an mit einer Tendenz zur unkritischen Selbstsicherheit und Selbstgefälligkeit einher. So weist der US-amerikanische Rechtswissenschaftler Justin Collings darauf hin, dass man in Deutschland meint, „gewisse Dinge besser als andere Verfassungsordnungen“ zu verstehen, weil die eigene Verfassung „besser aus einer düsteren Vergangenheit gelernt hat.“ Zurecht kritisiert auch Max Czollek mit Desintegriert Euch! den Duktus der ‚Integration‘ und der Vereinnahmung jüdischer Identitäten seit den 1980er Jahren für ein „Versöhnungstheater“. Der Habermas’sche Zugriff auf die Geschichte und damit auch auf ihre Opfer, welcher in die Idee des ‚Verfassungspatriotismus‘ einging, war analytisch betrachtet stets auch ein instrumenteller. Bald wurde der ‚Verfassungspatriotismus‘ ein wenig verdächtiges, da nicht rassistisch vorbelastetes Konzept, um Menschen aus anderen „Kulturkreisen“ zur Integration aufzufordern. Auch die Kulturwissenschaftlerin Safiye Yıldız kritisiert in diesem Kontext eine „kulturelle Andersmachung“ von migrantisierten Menschen in Deutschland.

Doch gerade in der Rechtswissenschaft finden Viele (durchaus zurecht) positive Worte für den ‚Verfassungspatriotismus‘. Die mit ihm in Verbindung gebrachte „demokratische Politik“, so Tim Wihl, „inspiriert sich, argumentiert, entscheidet und kontrolliert auf der Grundlage der Rechtssätze der Verfassung.“ Dies gelte „gerade auch für den lange vernachlässigten Verweis in Art. 1 II GG auf die globalen Menschenrechte sowie den Bezug in Art. 23 GG und der Präambel auf die EU-Integration mit dem Ziel [und der Pflicht, GM] einer stetig engeren Union der europäischen Staaten.“ Ein solcher Verfassungspatriotismus zielte dabei auf mehr als auf formal rechtmäßig zustande gekommene Beschlüsse und einen gefühlten oder informell erfragten Mehrheitswillen ab. Verfassungspatriotismus war einmal die Hoffnung auf eine wertegeleitete Politik und Gesellschaft in einem freiheitlich-demokratischen Rechtsstaat.

Das Ende des Verfassungspatriotismus im populistischen Zeitalter

Wenn aber der ‚Verfassungspatriotismus‘ vor allem von „Zugezogenen“ eine manifeste Integration in die von der Verfassung konstituierte Werteordnung fordert, fragt sich, welche (partei-)politische Kraft diese Forderung der konstitutionalisierten ‚Leitkultur‘ noch glaubhaft formulieren kann. Es mag überzogen klingen, doch wenn CDU-Politiker mit Aussagen zitiert werden, nach denen man sich von „irgendeinem Scheiß-Gericht“, dem Europarecht oder der Genfer Flüchtlingskonvention nicht mehr von populären migrationspolitischen Maßnahmen abhalten lasse, wenn auch die Grünen in einen Sicherheitspaketüberbietungswettbewerb einsteigen, dann kann wohl vom ‚Verfassungspatriotismus‘ nach Jürgen Habermas an dieser Stelle keine Rede mehr sein.

Wenn (nach heutigem Stand) offensichtlich rechtswidrige Maßnahmen im Namen von ‚Law and Order‘ und einem ‚starken Rechtsstaat‘ gefordert werden, wie es nicht nur Markus Söder tut, dann hat dieses Rechtsstaatsverständnis nur noch wenig mit dem des Bundesverfassungsgerichts gemein, nach dem das Rechtsstaatsprinzip bekanntlich vor allem „auf die Bindung und Begrenzung öffentlicher Gewalt zum Schutz individueller Freiheit“ abzielt (BVerfG, NPD II Rn. 547). Ein Staat, der Schutzsuchende entgegen EU-Recht ohne rechtliche Prüfung abweisen und straffällig gewordene oder als „gefährlich“ eingestufte Migrant:innen in zeitlich unbegrenzte Abschiebehaft nehmen will, demonstriert vielleicht ‚Stärke‘, aber ist sicher kein Rechtsstaat. „Nicht die angeblich fehlende ‚Härte‘ ist die Gefahr für den Rechtsstaat,“ wie Maximilian Pichl treffend beobachtet, „sondern die galoppierende Erosion seines ursprünglichen auf den Schutz des Einzelnen zielenden Gehalts.“ Ruft man in Erinnerung, dass Opfer der deutschen Geschichte wie Walter Benjamin sich auf der Flucht vor NS-Verfolgung in den Pyrenäen das Leben nahmen, weil Spanien die Grenzen geschlossen hatte, während Boote mit jüdischen Geflüchteten auf dem Mittelmeer umherirrten, weil niemand die Grenzen für sie öffnen wollte, dann muss man fragen, von welchen ‚Lehren aus der Geschichte‘ an Shoah-Gedenktagen gesprochen wird, wenn Grund- und Menschenrechte, die zurecht als eine der zentralen Lehren aus der Shoah und dem Zweiten Weltkrieg gelten, im politischen Diskurs drohen irrelevant zu werden. Ohne die „in Überzeugungen verankerte Bindung an universalistische Verfassungsprinzipien“ (Habermas) droht die Rede von der ‚Lehre aus der Geschichte‘ zur leeren Worthülse zu verkümmern. Ohne Menschen in Politik und Gesellschaft, die die Werteordnung der Verfassung vor dem Hintergrund ihrer Geschichte in einem rationalen Diskurs verwirklichen wollen, wird aus vergegenwärtigter Geschichte geschichtslose Leere. Erstaunlicherweise sind es dieser Tage auch selbst ernannte Verfassungspatrioten, die man offenbar daran erinnern muss.

Sonntag, 16. Februar 2025

Was zum Kuckuck ist Faschismus?

Dmitry Vilensky 

If you want to fight fascism you need to stop finding it everywhere. 

 

appropriate! Journal zur Aneignung und Vermittlung von Kunst

Berlin 19.01.2025

Historical Confusions or Empty Signifier? Set of Questions

There is a common belief that there is no single historically generalized concept of fascism, and we can only arrive at certain generalizations by retrospectively studying a whole range of vastly differing fascist movements. At the same time, we seem to possess an organic sensitivity, and just as an anti-Semite mistakenly believes he instinctively identifies a Jew, we too might think that we are capable, almost as in the Middle Ages, of detecting fascists "by smell" and exposing them. But will such exposure help us? And what if the "smell" has changed?

In one of his many interviews, Slavoj Žižek remarked that in public discussions fascist views are often understood as any insistence on a certain set of traditional values or as some form of opposition to the so-called "dictatorship of wokism." If we agree with this observation, we should ask ourselves: Does such inclusivity actually help in the real fight against fascism?

But we can still view fascism as a unified tendency in politics and everyday life that opposes the pluralistic autonomy of the multitude, as Antonio Negri conceptualizes it, and as suggested in the writings of Franco "Bifo" Berardi:

We have entered a totally new era in which internationalism has disappeared and solidarity has turned unthinkable because the workers’ movement has been broken by the force of precariousness and competition. In this conjuncture fascism has become the way of identification of the majority of the forces of labor. Identity (national, ethnic, racial, religious, and others) has replaced autonomy, and I don’t see where and when this trend can be broken because this trend is not a cycle, a phase, a short or long period of regression. This trend is the total devastation of society. What Negri never understood is the anthropological mutation produced by globalization, which goes beyond a momentary political defeat and changes forever the cognitive and psychological composition of society. (1)

Žižek also speaks of the rise of an era of (soft) fascism, represented by right-wing parties in the West and hardcore or "suicidal fascisms" (examples mostly appearing outside the so-called western world like Narendra Modi in India, Wladimir Putin in Russia, ultra-nationalist Zionists in Israel, or different Islamist fundamentalist). (2)

It now makes sense to describe the phenomenon of fascism as a restructuring of the class composition of society, carefully analyzing the conditions that have led to the planetary spread of petty-bourgeois consciousness in the era of the dictatorship of financial capital. For this reason, the texts of Marxist classics written in a different historical epoch — whether those by Georgi Dimitrov or by Leo Trotsky — are losing their relevance, as the transformed post-Fordist composition of society leads to an amorphous state, affecting not only the proletariat, which has lost its class consciousness, but society as a whole (as Trotsky predicted).

However, their insights into the connection between financial capital and fascism have become especially pertinent today: "Fascism is the open terrorist dictatorship of the most reactionary, most chauvinistic, and most imperialist elements of financial capital ..." as Georgi Dimitrov proclaimed at the 7th Congress of the Comintern.

To this we must add a range of new fascistic tendencies linked to the latest levels of technological and biopolitical control over human behavior and consciousness, which are exponentially amplified by the development of surveillance systems, information manipulation, and their integration into the realms of security and warfare. The sinister figure of technocrat Elon Musk seems to epitomize these new trends and his recent support for the AfD and Donald Trump speaks volumes.

All these factors lead us to conclude that fascism can indeed be characterized as eternal fascism.

From the Russian context

If we follow Umberto Eco's classification (3), it becomes evident that fascism has long since established itself in Russia. Consequently, from the perspective of the Russian context, these questions resonate with particular urgency. In 2007, we, Chto Delat collective, organized a major conference in Moscow titled "Fascism: An Old Enemy or a New Threat?". It was clear to us that Russian society (and not only Russian society) was witnessing the rise of alarming fascist tendencies. At the same time, we observed that Putinism, the new alt-right movements, and right-conservative parties differed significantly from the original manifestations of fascism and Nazism in the 1930s.

Subsequently, the participation of overtly old-school Nazis in the Russian anti-Putin movement, the escalation of Nazi street violence in Ukraine before and during the Maidan protests, and the aggressive use of anti-fascist rhetoric by Putinists — who invoke the politics of memory surrounding the victory over Nazi Germany — all this new factors forced us to ask the question of how to develop new methods of resistance. To do so, it is crucial to understand the phenomenon itself. In 2022, Ilya Budraitskis published an important analytical essay titled "Putinism as Fascism: Why It Is Necessary to Say This Today". In this work, he offers a comprehensive analysis of the genealogy, evolution, and contemporary configuration of the new Russian iteration of fascism. He writes:

Applying the concept of fascism to the current Russian regime should not lead to its exoticization, to the idea that the “fascistization” of post-Soviet Russia is a unique case, allegedly predetermined by the country’s special history. On the contrary, characterizing Putin’s regime as fascist should help us discern common features of the various currents on the far right emerging out of the crisis of the neoliberal capitalist order. I am convinced that characterizing Russia as fascist is justified only if we perceive it as an alarming sign of global trends that may lead to the formation of similar regimes internationally, including in the Western world. All of this inevitably brings us back to both rethinking the phenomenon of fascism itself and understanding the specific evolution of Putin’s regime as an integral part of the world capitalist system. (4)

Rightly pointing out the global nature of the ongoing processes, it is equally important to pay attention to certain local "dialects." One concept that may help us navigate this is the notion of schizo-fascism — fascism under the guise of fighting fascism — which many researchers consider a uniquely Russian political invention. This concept is shared by Timothy Snyder, who writes:

Fascist ideas have come to Russia at a historical moment, three generations after the Second World War, when it’s impossible for Russians to think of themselves as fascist. The entire meaning of the war in Soviet education was as an anti-fascist struggle, where the Russians are on the side of the good and the fascists are the enemy. So there's this odd business, which I call in the book 'schizo-fascism', where people who are themselves unambiguously fascists refer to others as fascists. (5)

This new Russian version of fascism is sometimes referred to as “rashism”, emphasizing its local, playful, and postmodern character. The concept has been the subject of many articles and analyses, though, unfortunately, these have done little to help — just as, in the 1930s, the essays of the Frankfurt School, Bertolt Brecht’s plays, and thousands of armed communist militants on the streets of German cities failed to prevent the rise of fascism in Germany.

Now, with most anti-fascist fighters in Russia imprisoned, exiled, or resigned to despair, and with the situation appearing particularly grim and hopeless, it is crucial to return to the question of how to organize resistance going forward.

Desertion or an attack?

If we accept the "anthropological mutation caused by globalization, which goes beyond short-term political defeat and permanently changes the cognitive and psychological structure of societies”, then few options for resistance remain, apart from Bifo's proposed solution: desertion.

However, there is an argument to be made that the paths of "anthropological mutation" are unpredictable and may take unexpected directions. This suggests that it is worth considering how to resolve this historical contradiction and make anti-fascist politics class-based again, even in a globalized post-Fordist society characterized by atomization and identity-driven enthusiasm. How to achieve this remains unclear, but the most troubling aspect is that this central question seems marginalized in the realm of real politics or co-opted by conservatives of various shades.

To move forward, it seems crucial to refrain from identifying all supporters of Donald Trump, Marine Le Pen, Wladimir Putin, Recep Tayyip Erdoğan, Hamas, Banjamin Netanyahu, the AfD, and others equally outright fascists. Doing so can help us to more precisely identify those groups that truly embody fascism. It is essential not to generalize the notion of a monolithic "fascist unity", as doing so risks contributing to its actual formation. Instead, the goal should be to fracture this unity and make its internal contradictions visible.

At the same time, it is important not to shy away from reclaiming an understanding of common sense from right-wing politicians. This, however, can only be achieved by abandoning narrow identity-based frameworks.

I believe it's time to abandon the rhetoric of a "war to total defeat". There is no unified fascist center today that could sign its unconditional surrender, and dreaming of smashing the heads of all Donald-Trump-supporters won’t lead to anything good either. This is not a call for tolerance — some can only be taught through force — but in response to the rhetorical question from Austria’s cultural sphere, Resistance Now: How to Defeat the Fascists with the Power of Love? (6), the answer suggests itself: Love cannot be the only weapon. As Phil Ochs said: "One good song with a message can bring a point more deeply to more people than a thousand rallies." (7) The problem is, we've forgotten how to write and perform such songs.

Fascism is a dangerous social disease, and it is a generic and eternal illness — we will never be able to eradicate it completely. A strategy of zero tolerance is as ineffective in combating this epidemic as zero-COVID was during the pandemic. What we need are “vaccines”, “distancing”, and “masks”. But even more than that, we need to focus on developing civic immunity, which would encompass various forms of interaction and coexistence with the «virus» before it evolves into a fatal illness.

This is a complex task, but still achievable if we are willing to rethink our politics and the long series of historical mistakes we’ve made. Only in this way do we stand a chance of creating a socially mobilizing movement that leaves fascism no opportunity to realize its will to power.

Dmitry Vilensky is an artist, educator and cultural environmentalist. He mostly works in collective practices and focuses on developing architecture constructions, educational seminars, photographic works and more. He is a founding member of the collective Chto Delat, editor of the Chto Delat newspaper and the main facilitator of the School of Engaged Art. He has published in the art press and is a guest teacher at many international art academies.

Footnotes:

1. see The Power of Quitting: An Interview with Franco “Bifo” Berardi at https://critinq.wordpress.com/2024/07/29/the-power-of-quitting-an-interview-with-franco-bifo-berardi/ (visited 20.01.2025)


2. see more here https://www.newstatesman.com/long-reads/kate-mossman-interview/2024/07/slavoj-zizek-the-court-jester-of-late-capitalism (visited 20.01.2025)

3. see here : https://www.openculture.com/2024/11/umberto-ecos-list-of-the-14-common-features-of-fascism.html (visited 20.01.2025)

4. Ilya Budraitskis, October 27, 2022

https://spectrejournal.com/putinism/?fbclid=IwAR2fGDmSj6a1PB9TEPcxuXw0C_BhrSruMiPukFpMiD33I4hPmFYDiCmOhLc (visited 20.01.2025)

5. Timothy Snyder on Russia and “Dark Globalization”

https://www.publicbooks.org/public-thinker-timothy-snyder-on-russia-and-dark-globalization/ (visited 20.01.2025)

6. https://international-institute.de/en/resistance-now-how-to-defeat-the-fascists-with-the-power-of-love/ (visited 20.01.2025)

7. https://www.goodreads.com/author/quotes/306982.Phil_Ochs#:~:text=One%20good%20song%20with%20a,people%20than%20a%20thousand%20rallies.&text=Call%20it%20peace%20or%20call,I%20ain't%20marching%20anymore.&text=But%20our%20land%20is%20still%20troubled%20by%20men%20who%20have%20to%20hate. (visited 20.01.2025)




manche meinen lechts und rinks kann man nicht velwechsern werch ein llltum

Volker Weiß

Rechte Geschichtspolitik. Kampf um die Begriffe

FAZ 9. Februar 2025

Hitler war links, Lenin ein Liberaler: Welche Rolle spielt Geschichtspolitik in den Strategien der Neuen Rechten? Mit der Überschreibung der Vergangenheit beginnt der Angriff auf demokratische Gegenwart. Ein Interview.


Herr Weiß, als neulich in einem öffentlichen Gespräch mit Elon Musk die AfD-Politikerin Alice Weidel Hitler als politisch „links“ bezeichnete, hielten das viele für völlig durchgedreht. Hat es Sie erstaunt?

Nein, das war ja auch keineswegs der erste geschichtspolitische Ausfall von Frau Weidel. Sie hat vor einigen Jahren die NSDAP als Prekariatspartei bezeichnet, was ja in die gleiche Richtung geht: Der Nationalsozialismus wird zum Unterschichtenphänomen erklärt, was historisch und soziologisch falsch ist. Die NSDAP war weder links noch eine Unterschichtspartei. Letztendlich stellen diese Behauptungen nur eine Verlängerung von NS-Propaganda dar.

Inwiefern?

Es gibt Aussagen von Hitler und Goebbels, dass man ganz bewusst Symbole und Ästhetik der Arbeiterbewegung übernommen habe, um diese zu zerstören. Bei dieser Selbstdarstellung als Partei des einfachen Volkes gilt es zu vergegenwärtigen, dass die politische Rechte historisch erst mit dem 1. Weltkrieg die Notwendigkeit verstanden hatte, die Massen zu integrieren. Das war im Gegensatz zum alten Konservatismus das eigentlich Neue. Durch die Kriegsniederlage hatte man gelernt, dass eine Gesellschaft vor allem im Krieg nur dann funktioniert, wenn allen ein Angebot gemacht wird. Dieses Element der Massenintegration und die damit einhergehende Dynamik war zunächst ein Monopol der Linken, die Rechte lernte das jetzt. Das bessere Beispiel ist eigentlich Mussolini in Italien, der den Wechsel in Person vollzog.

Warum aber bedient sich Alice Weidel dieser Narrative? Das historische Wissen kann sie beim Publikum nicht voraussetzen. Worum geht es, um die provokante Formulierung?

Allein die Tatsache, dass wir jetzt darüber reden, zeigt bereits, wie gut diese Strategie aufgeht. Die Erzählung kann immer wieder aufgerufen werden, da sie in rechtskonservativen Kreisen längst verfestigt ist. Man schafft sich damit ein historisches Argument des Gegners vom Leib, und man erklärt den Gegner selbst zum Nazi. Wenn ich sage, die Nazis waren links, dann werden im Umkehrschluss die Linken zu Nazis, und der gesamte Antifaschismus, der der AfD ja seit der Gründung entgegenschlägt, wird damit ad absurdum geführt und langfristig auch entwertet. Dabei ist es ein doppeltes Spiel, weil man selbst mit bestimmten Elementen des Nationalsozialismus kokettiert: Schauen wir den Wahlkampfslogan an: „Alice für Deutschland“. Er ist eine Verballhornung und spielt mit dem Motto, das auf die Dienstdolche der SA eingraviert war: „Alles für Deutschland“. Ein Spiel, das man bewusst aufnimmt, bis hin zu diesem freakigen Gruß von Elon Musk.

Das war ein Hitler-Gruß?

Ja, aber er wird ihn wahrscheinlich als römischen Gruß bezeichnen – als eine imperiale Geste. Vielleicht will er, dass die Geste am Ende nicht mehr als Hitlergruß, sondern als Musk-Gruß gilt. Wir haben es mit permanenten Überschreibungen zu tun.

Diesen Überschreibungen, den Umdeutungen von Geschichte, haben Sie Ihr neues Buch gewidmet. Es heißt „Das deutsche demokratische Reich – Wie die extreme Rechte Geschichte und Demokratie zerstört“. Sie warnen darin auch davor, dass unter dem Motto der „Disruption“, ein Begriff, der jetzt in aller Munde ist, historische Gewissheiten zerstört werden, die in den vergangenen Jahrzehnten aufgebaut wurden. Warum ist es besonders jetzt, auch vor der Bundestagswahl, so wichtig, sich diese Umdeutungen von Geschichte vor Augen zu führen?

Weil das schon lange ein zentrales Mittel der Agitation ist.

Vonseiten der extremen Rechten und der AfD.

Ich wollte zeigen, dass es diese permanenten Überschreibungen, die wir im Moment erleben – Weidels Hitler-Spruch ist nur ein Beispiel dafür – im Segment der extremen Rechten, teilweise auch in konservativen Kreisen, seit Jahrzehnten gibt. Aber jetzt brechen sie aus diesem abgezirkelten Diskursraum aus und erreichen die Gesamtgesellschaft.

Zugleich haben wir es, wo es um Geschichte geht, immer mit Überschreibungen und Interpretationen zu tun. Das könnte man auch als einen normalen Vorgang bezeichnen. Worin liegt die Grenzüberschreitung?

Es gibt Regeln der Angemessenheit und Überprüfbarkeit, die gebrochen werden. So wird das Grundprinzip der rechten Propaganda, alles auf den Kopf zu stellen und Verwirrung zu stiften, auf dem Feld der Geschichtspolitik umgesetzt. Der nächste Schritt wird eine Rekons­truktion sein, also das, was man zerschlagen hat, in einer neuen Deutung wieder zusammenzuführen.

Wie kommt es zu diesem Prozess, dass die Umdeutungen der Rechten jetzt in die gesamte Gesellschaft hinüberdriften?

Sie treffen auf ein Bedürfnis, da die ­traditionellen politischen Gefüge ins Rutschen gekommen sind. In vielen Ländern, von Frankreich bis Skandinavien, hat sich die Parteilandschaft erneuert, und es sind neue Akteure aufgetreten, Gewissheiten verschwinden oder müssen neu ausgehandelt werden. Das ist die Stunde, in der die Rechten ihre Chance sehen. Die AfD ist dann angetreten, überwundene Inhalte in neuer Verpackung in die Gesellschaft einzubringen, sie haben verstanden, dass wir in einer Zeit leben, in der die alten Abwehrmechanismen nicht mehr funktionieren.

In Ihrem Buch beschreiben Sie, wie solche Umdeutungen funktionieren – nicht ohne Paradoxien. Besonders eindrücklich ist das bei der Russlandfreundlichkeit, die man bei den Rechten findet und die historisch erst mal gar nicht logisch ist.

Ich fand es sehr auffällig, dass sich Wladimir Putin in seinen Reden längst an eine Neuinterpretation des 2. Weltkriegs gemacht hat. In seiner Erzählung von der Sowjetunion bleibt nur das imperiale Element übrig.

Vom großrussischen, eurasischen Reich sprach Putin schon 2014.

Es gab diese imperiale Deutung früher auch innerhalb der Sowjetunion. Es ist interessant, wenn man an diesen letzten Putschversuch zurückdenkt, 1991, als Gorbatschow gestürzt werden sollte und sich Jelzin dann wie Lenin auf einen Panzer gestellt hat. Da wurde im Westen von „konservativen“ Kräften gesprochen, die versuchten, die KPdSU zu retten. Das waren genau die Kräfte, die vor allem den machtpolitischen Blick hatten und nicht wollten, dass ihr Großraum zerfällt. Heute hält man Stalin in Ehren und entsorgt Lenin in den Westen, Putin hat ihn zum westlichen Liberalen gemacht.

Die Sowjetunion wurde also umgedeutet in ein rein nationales, imperiales Projekt.

Das korrespondiert dann mit der Erzählung der Rechten in Deutschland, die den Nationalsozialismus nach links schieben. Beide Seiten definieren ihre Vergangenheit völlig neu, auf dieser Basis kann man sich dann wunderbar treffen.

Verstehe ich Sie dabei richtig, dass es bei diesen geschichtsphilosophischen, nationalistischen Überlegungen gar nicht immer um die Wirklichkeit geht, darum, ob das jetzt tatsächlich stattfinden wird, sondern vielmehr darum, das erst einmal zu sagen und durch diese Verschiebung neue Dynamiken freizusetzen?

Ja, und entsprechende Milieus anzufüttern und in Wallung zu bringen.

Offenbar gibt es da aber Akteure, die ihre Energie in diese historischen Verschiebungen stecken?

Es geht ihnen nicht darum, dass das gesamte Milieu der AfD über die historischen Hintergründe informiert ist. Es reicht, wenn es eine kleine Schicht Intellektueller in der AfD gibt, die die Strategien entwickeln und die Reden schreiben. Deren Konzeption wird dann in Schlagwörtern nach unten durchgereicht. Wie überall woanders auch kommen unten immer nur die Versatzstücke an.

Ein anderes geschichtspolitisches Feld der Umdeutung ist in Ihrem Buch Ostdeutschland. Sie führen eine Rede des Identitären Götz Kubitschek an, der 2015 in Leipzig das Volk zunächst als Souverän einführt, um den Inhalt dann Schritt für Schritt zur Blut- und Schicksalsgemeinschaft zu verschieben. 2019 war im brandenburgischen Wahlkampf auf AfD-Plakaten zu lesen: „Damals wie heute: Wir sind das Volk!“ Was ist das? Das Paradox einer antikommunistischen DDR-Nostalgie?

Auch hier gibt es Widersprüche, aber solange das funktioniert, sind sie kein Problem. Die DDR wird nostalgisch als intakte Gesellschaft mit bestimmten ­Sicherheiten und vor allem mit wenig Mi­gration erinnert, als Ordnungsstaat, gleichzeitig beruft man sich auch auf die Bürgerrechtsbewegung. Und obwohl die Bürgerrechtsbewegung auch eine ökologische war, was die Rolle der damaligen Umweltbibliotheken zeigt, sind heute die Grünen das zentrale Feindbild. Da wird ein altes DDR-Ressentiment ­tradiert.

Und aus den Montagsdemonstrationen des Neuen Forums werden so die Demonstration für das „Deutsche Demokratische Reich“?

Das haben allerdings andere auch schon gemacht, der Montag war nach der Wende immer ein beliebter Demonstrationstag. Wirklich eskaliert ist es in meinen Augen nach der Krimbesetzung 2014. Damals stiegen Akteure wie Jürgen Elsässer in die sogenannten Friedensmahnwachen ein. Hier wurden Symbole und Parolen der alten Friedensbewegungen wiederverwertet, die in Westdeutschland relevant waren, die aber auch in die Oppositionsgeschichte der DDR gehörten. Das Resultat war schließlich dieser abstruse Ruf nach einem „Deutschen Demokratischen Reich“ als Synthese aus DDR und Nationalsozialismus.

„Sammlung im Osten“ heißt Ihr Kapitel. Ist der Osten für die extreme Rechte ein Modell, das ausgeweitet werden soll auf das ganze Land, also auf den Westen?

Es gibt Martin Sellners Idee, dass man sich erst mal sammelt, regeneriert, stabilisiert und dann in eine neue Offensive kommt. Entweder dadurch, dass man das Leben für alle, die nicht ins Raster passen, entsprechend ungemütlich macht. Das findet bereits statt, in Ostdeutschland ist inzwischen der Typus des Hooligan-Nazis aus den Neunzigerjahren wieder präsent. Und damit andere gar nicht erst kommen, wird Druck auf die bürgerlichen Parteien ausgeübt, Migration unmöglich zu machen. Wenn die Lage konsolidiert ist, will man sich dann selbst sukzessive auch im Westen weiter ausbreiten.

„Remigration“ ist ein Wort, das man jetzt auch in Österreich hört. Alice Weidel hat es auf dem AfD-Parteitag offensiv benutzt. So verwenden Akteure ein bestimmtes Vokabular, schreiben es durch Wiederholung fest und sagen gleichzeitig: Es sei ja nur ein Wort. Dann wird das Wort noch mal vorgeführt, in seine Bestandteile zerlegt und als Kampfbegriff verharmlost. Ist das die Strategie?

Das ist die klassische Strategie, wobei jede politische Strömung versucht, ihre Schlüsselwörter, die ja an die Inhalte gekoppelt sind, durchzusetzen. Sobald die Inhalte unter Druck geraten, kann man sich darauf zurückziehen, man habe lediglich einen ganz normalen Begriff benutzen wollen. Nach diesem Muster versuchte Frauke Petry in der Anfangsphase der AfD den Begriff des Völkischen zu rehabilitieren, der historisch eindeutig definiert und belastet ist. Sie argumentierte: Das Völkische habe ja mit Volk zu tun, das gehöre doch zusammen, sie verstehe gar nicht, wo das Problem sei. Es hat damals noch nicht funktioniert, aber heute geht es mit Begriffen wie „Remigration“, die nicht ganz so bekannt sind, leichter.

Könnten Sie sich vorstellen, dass etwa Mitglieder der CDU/CSU diesen Begriff bald auch verwenden, weil er so oft genannt worden ist, dass er sagbar wird, auch für Demokraten?

Durchaus, wir haben ja schon vor einigen Jahren erlebt, dass Dobrindt aus der CSU plötzlich von einer „Konservativen Revolution“ sprach.

Welche Möglichkeiten sehen Sie überhaupt, die politische Mitte zu stärken? Wir haben zum Teil einen großen Zuwachs von Leuten, die AfD wählen, wie lässt sich dem entgegenwirken?

Zunächst gilt es zu rekapitulieren, was passiert ist. Das versuche ich mit der Analyse der Agitationsmechanismen, um die notwendige Abgrenzung von der AfD zu stärken. Dann müssen wir sehen, wer wo mit welchem Ziel agiert.

Es geht also darum, zu beobachten, wo die Akteure sitzen, die die geschichtspolitischen Strategien in die Partei und ins politische Geschehen einspeisen?

Ja, aber das ist nicht immer sichtbar, da es sich hier mehr um die Referentenebene handelt, weniger um die Abgeordneten. Es geht ihnen darum, wie wir es schon bei Carl Schmitt lernen können, die Vorzimmer der Macht zu besetzen, um Kontrolle des Zugangs zur Macht zu haben. Hier kommen Strukturen wie das Schnellroda-Netzwerk um Kubitschek oder die Bibliothek des Konservatismus als Rekrutierungsfelder für Personal ins Spiel. Auch Erika Steinbach ist nicht zu unterschätzen, weil sie schon so lange im Geschäft ist. Als Präsidentin des Bundes der Vertriebenen in Deutschland zählte sie zum rechten Flügel der CDU, ehe sie schließlich zur AfD wechselte. Mittlerweile ist Steinbach Vorsitzende der AfD-nahen Desiderius-Erasmus-Stiftung, die wachsen und über viel Geld verfügen wird. Von hier aus können Schlüsselpositionen besetzt werden.

Alice Weidel sitzt nicht im Vorzimmer, sie betreibt die geschichtspolitischen Umdeutungen auf offener Bühne, von Parteitagen bis hin zu ihren Auftritten in Talkshows.

Weidel wurde lange für ein domestizierendes Element gehalten, weil sie aus der Wirtschaft kommt. Sie beruft sich auf Maggie Thatcher und Friedrich Hayek, spricht angeblich Mandarin, lebt in einer homosexuellen Beziehung. Doch all das ist kein Widerspruch zum Rechtsextremismus. Tatsächlich radikalisiert sie das wirtschaftsfreundliche Lager der Partei mit den gewollten Grausamkeiten gegenüber den Sozialsystemen, gegenüber dem Arbeitsrecht, gegenüber den Gewerkschaften. Sie hat überhaupt keine Probleme damit, die Rhetoriken des völkischen Flügels selbst zu verwenden, und passt hervorragend in das neue Bild des modernisierten Rechtsextremismus.

Und findet schützende Hilfe von Elon Musk. Das ist ja eine neue Ebene und eine Verbindung mit dem Hyperkapital.

Ironischerweise ist das Gerede von der nationalen Souveränität das Letzte, was einen Elon Musk interessiert. Daher fungieren Leute wie Kubitschek am Ende als nützliche Idioten, die hierzulande die letzten Reste des Liberalismus einreißen und das Feld frei machen für Akteure wie Musk. Intern wird das auch diskutiert, der Rechtsextreme Martin Sellner hat beispielsweise Bedenken, dass es mit einer völligen Zerstörung des Staates auch keinen Grenzschutz mehr geben wird. Doch gibt es in den USA bereits Debatten, ob sich nicht eine private Abschiebeindustrie aufbauen ließe.

Was bedeutet das?

Nach dem Ende der liberalen Ära des Kapitalismus soll eine autoritäre beginnen, in der Staaten durch Konzerne abgelöst werden. Und bei dieser Entwicklung leistet die extreme Rechte gerade Geburtshilfe.


Samstag, 15. Februar 2025

Ukraine, Anfang 2025

Timothy Garton Ash

Trumps sinnlose Kapitulation vor Putin ist ein Verrat an der Ukraine – und ein schreckliches Abkommen. Während die USA und ihre europäischen Verbündeten zur Münchner Sicherheitskonferenz aufbrechen, muss Europa aus seiner tragischen Geschichte lernen und sich gegen eine Beschwichtigungspolitik stellen

Guardian 13 Feb 2025 

Donald Trumps Beschwichtigungspolitik gegenüber Wladimir Putin lässt Neville Chamberlain wie einen prinzipientreuen, mutigen Realisten erscheinen. Immerhin versuchte Chamberlain, einen großen europäischen Krieg zu verhindern, während Trump mittendrin agiert. Trumps „München“ (im Englischen synonym für den Deal von 1938, bei dem Großbritannien und Frankreich die Tschechoslowakei an Nazideutschland verkauften) findet am Vorabend der großen Sicherheitskonferenz in der heutigen bayerischen Landeshauptstadt statt, bei der seine Abgesandten mit westlichen Verbündeten zusammentreffen werden. Diese Münchner Sicherheitskonferenz muss der Beginn einer entschiedenen europäischen Reaktion sein, die aus unserer eigenen tragischen Geschichte lernt, um eine Wiederholung zu vermeiden.

Der nächste Schritt, den Trump vorschlägt, ist de facto ein neues „Jalta“ (wobei er sich auf das Gipfeltreffen zwischen den USA, der Sowjetunion und Großbritannien im Februar 1945 im Ferienort Jalta auf der Krim bezieht, das zum Synonym für Supermächte geworden ist, die über das Schicksal europäischer Länder hinweg entscheiden). In diesem Fall sieht Trumps Vorschlag vor, dass die USA und Russland über das Schicksal der Ukraine entscheiden sollten , mit marginaler oder gar keiner Beteiligung der Ukraine und anderer europäischer Länder. Doch dieses Mal sollten sich die Bewohner des Weißen Hauses und des Kremls zuerst in Saudi-Arabien und dann in ihren jeweiligen Hauptstädten treffen, während das eigentliche Jalta auf der Krim offenbar an Russland abgetreten werden soll. Denn in der schönen neuen Welt von Trump und Putin gilt das Recht des Stärkeren, und territoriale Expansion ist das, was Großmächte tun, sei es Russland gegenüber der Ukraine, die USA gegenüber Kanada und Grönland – oder China gegenüber Taiwan.

Alle historischen Analogien haben ihre Grenzen, und die mit „München“ und „Jalta“ sind überstrapaziert. Doch hier scheinen sie ausnahmsweise einmal angebracht – solange wir Unterschiede ebenso wie Gemeinsamkeiten hervorheben.

Einige Wochen nach Trumps Wahl hatten wir die leise Hoffnung, dass seine Regierung in der Ukraine ihrem erklärten Motto „Frieden durch Stärke“ folgen würde, weil sie wusste, dass Stärke die einzige Sprache ist, die Putin versteht. Jetzt sehen wir, dass Trump nicht nur die Freunde seines Landes tyrannisiert, sondern sich auch bei seinen Feinden einschmeichelt.

Dieser sogenannte starke Mann ist in Wirklichkeit ein schwacher Mann, wenn es darum geht, den feindseligen Autoritären dieser Welt die Stirn zu bieten. An nur einem Tag hat er vier große, unnötige und schädliche Zugeständnisse gemacht. Erstens hat er nicht nur über einen Vermittler Sondierungsgespräche mit Putin aufgenommen, was vertretbar wäre, sondern dem russischen Diktator persönlich überschwängliche und unterwürfige Anerkennung als Weltführer zuteilwerden lassen. „Wir haben beide über die große Geschichte unserer Nationen nachgedacht“, berichtete er in einem Social-Media-Beitrag über ihr langes Telefonat . Sie haben „den großen Nutzen besprochen, den wir eines Tages aus der Zusammenarbeit ziehen werden. Aber zuerst, da waren wir uns beide einig, wollen wir die Millionen von Todesopfern im Krieg mit Russland/der Ukraine verhindern.“ Stellen Sie sich vor, der Präsident der Vereinigten Staaten hätte 1941, statt auf der Seite Großbritanniens und anderer verbündeter europäischer Nationen in den Krieg gegen Nazi-Deutschland einzutreten, Hitler angerufen, über „die große Geschichte unserer Nationen“ nachgedacht und dann davon gesprochen, gemeinsam „den Krieg mit Deutschland/Großbritannien“ zu beende

Zweitens hat er dem russischen Präsidenten bilaterale Verhandlungen zwischen den USA und Russland über die Köpfe der Ukrainer hinweg angeboten – genau die Art von neuem Jalta, das Putin sich immer gewünscht hat. Und drittens und viertens hat er erklärt, dass die Ukraine mit ziemlicher Sicherheit Territorium aufgeben muss und dass die USA ihre NATO-Mitgliedschaft nicht unterstützen werden. Beides wurde in Washington und anderen westlichen Hauptstädten schon seit einiger Zeit im Geheimen gesagt, aber sie von vornherein öffentlich zuzugeben, ist ein Musterbeispiel dafür, wie man die „ Kunst des Deals “ nicht praktiziert. (Etwas Ähnliches tat er bei den Verhandlungen mit den Taliban über Afghanistan, als er sie mit einem Zeitplan für den US-Abzug begann, anstatt sie damit zu beenden.) Historiker verfügen heute über die Notizen und Erinnerungen von Menschen aus Hitlers Umfeld, die seine Freude über den Deal dokumentieren, den er Chamberlain abgerungen hat. Eines Tages werden wir vielleicht ähnliche Beweise für Putins private Schadenfreude über die Zugeständnisse Trumps haben.

Das heißt aber nicht, dass es in naher Zukunft etwas geben wird, das den Namen Frieden verdient. Die erste öffentliche Stellungnahme des Kremls zum Telefonat zwischen Trump und Putin war ausgesprochen zurückhaltend und warnte, es sei „unverzichtbar, die Gründe für den Konflikt zu klären“. Putins Idealszenario wäre vermutlich, weiterhin mit Trump über Frieden zu verhandeln, und zwar in einer Reihe von gemütlichen Gipfeltreffen in Saudi-Arabien, den USA und Russland, während Russland weiterhin auf dem Schlachtfeld vorrückt, die Energieinfrastruktur der Ukraine zerstört und ihre Wirtschaft, Gesellschaft und politische Einheit auf andere Weise untergräbt. (Als Trump nach der Beteiligung der Ukraine an den Gesprächen gefragt wurde, erwähnte er die Notwendigkeit einer Präsidentschaftswahl dort und plapperte damit eine russische Angriffslinie über die Legitimität von Präsident Wolodymyr Selenskyj nach.)

Es gibt einen großen Unterschied zwischen dem Europa zur Zeit des ursprünglichen München und Jalta und dem heutigen Europa. Das heutige Europa ist reich, frei, demokratisch und eine eng integrierte Gemeinschaft von Partnern und Verbündeten. Ja, wie die jüngsten Umfragen des European Council on Foreign Relations erneut zeigen, ist es auch gespalten und verwirrt über den besten Weg für die Ukraine. Aber mit einer hinreichend entschlossenen Koalition williger und fähiger Länder, zu denen auf jeden Fall Großbritannien gehört, kann Europa der Ukraine immer noch ermöglichen, die Frontlinie zu stabilisieren, wirtschaftlich standzuhalten und schließlich aus einer Position der Stärke und nicht der Schwäche heraus zu verhandeln. Deshalb muss die Münchner Sicherheitskonferenz dieses Wochenendes der Beginn einer europäischen Antwort auf Trumps Münchner Konferenz sein.


Austerität

Clara Mattei

Der „Deal“ zur US-Schuldenobergrenze war eine gigantische Übung im parteiübergreifenden Klassenkampf. Der Konsens der Eliten ist klar: Ausgaben sind in Ordnung, wenn sie militärische Unternehmungen unterstützen, aber schlecht, wenn sie der sozialen Wohlfahrt dienen.

The Guardian Mi 14. Juni 2023 (automatisch übersetzt)

Die Schlagzeilen rund um die Schuldenobergrenzen-Gesetzgebung konzentrierten sich auf die Fähigkeit der USA, ihren finanziellen Verpflichtungen bis 2024 pünktlich und vollständig nachzukommen. Dies war keine geringe Leistung, insbesondere angesichts der Tatsache, dass sie in einem seit jeher zersplitterten politischen Umfeld und nur 18 Monate vor den Präsidentschaftswahlen erfolgte.

Doch die tatsächlichen Bedingungen des Schuldenobergrenzengesetzes offenbaren einen politischen Konsens, der zugleich beunruhigend und seit langem vorhanden ist. Zwar werden die US-Staatsausgaben in diesem und im nächsten Jahr steigen, doch ist dieser Anstieg fast ausschließlich der Verteidigung und der medizinischen Versorgung von Veteranen vorbehalten. Auch andere Programme, darunter die Sozialhilfe und die Durchsetzung der Steuergesetzgebung durch die IRS, werden mit Budgetkürzungen konfrontiert. Amerikaner, die Lebensmittelmarken beziehen, werden zudem mit höheren Arbeitsanforderungen konfrontiert – eine seltsamerweise damit nicht zusammenhängende Nebenpolitik, die einen seit langem gehegten Wunsch der Republikaner und einiger Demokraten widerspiegelt.

Hier ist der parteiübergreifende Konsens eindeutig: Übermäßige Staatsausgaben sind in Ordnung, wenn sie militärische Unternehmungen unterstützen; sie sind jedoch problematisch, wenn sie der sozialen Wohlfahrt zugutekommen. Bei der Bewältigung der Schuldenobergrenze und der im letzten Jahr anhaltenden Preisinflation haben sich die US-Politiker konsequent auf die gescheiterte ökonomische Doktrin der Austerität gestützt – die im 20. Jahrhundert populär wurde und heute noch weit verbreitet ist –, um in eine dysfunktionale Wirtschaft einzugreifen. Indem sie diese wirtschaftlichen Instrumente einsetzen, von denen bekannt ist, dass sie versagen, offenbaren sie ihre politischen Ziele.

Wer profitiert von der Sparpolitik? Die Oberschicht einer Gesellschaft – die Kapitalklasse

Im Kern handelt es sich bei der Austeritätspolitik um eine Reihe wirtschaftspolitischer Maßnahmen, die darauf abzielen, die Gesamtnachfrage der größten Bevölkerungsgruppe einer Gesellschaft – der Arbeiterklasse – zu senken. Steigende Zinsen und reduzierte Sozialleistungen, insbesondere in einer inflationären Wirtschaft, zwingen die Arbeiterklasse, mit weniger mehr zu leisten. Das bedeutet, mehr Stunden für weniger Geld zu arbeiten. Und wer profitiert von diesem Umfeld? Die Oberschicht einer Gesellschaft – die Kapitalklasse.

Die jüngste Einigung zur Schuldenobergrenze wurde ebenso wie die fortgesetzten Zinserhöhungen der Federal Reserve unter dem falschen Vorwand präsentiert, dass Ausgabenkürzungen ein notwendiger Eingriff in eine Wirtschaft seien, die über ihre Verhältnisse lebt. Dieses Narrativ ist schlichtweg falsch. In einer kapitalistischen Wirtschaft wie der unseren kommt es nie auf die Höhe der Schulden an. Entscheidend ist, wie diese Schulden eingesetzt werden können, um die Amerikaner davon zu überzeugen, wirtschaftliche Entscheidungen als irgendwie unvermeidlich zu akzeptieren – schmerzhafte Zugeständnisse, die das Ergebnis rationaler Überlegungen von Wirtschaftsexperten sind.

Dieselbe Entschuldigung für wirtschaftliche Not wird verwendet, um Militärausgaben auf Kosten sozialer Ausgaben zu rechtfertigen. Viele haben überzeugend argumentiert, dass der militärisch-industrielle Komplex für diese Doppelmoral verantwortlich sei, da Verteidigungsausgaben gleichzeitig als Mittel zur wirtschaftlichen Umverteilung nach oben zugunsten derjenigen mit Einfluss und Macht dienen. Aber selbst für diejenigen, die dieser Darstellung kritisch gegenüberstehen, bleibt die Frage: Wo ist die bundesstaatliche Debatte um unbegrenzte Verteidigungsausgaben? Wo sind die Wirtschaftsfalken, die die undisziplinierten Exzesse militärischer Abenteuer beklagen?

Die Wirtschaftspolitik wird als wichtigster wirtschaftlicher Hebel zur Aufrechterhaltung des Klassenkampfes eingesetzt.

Dieser Mangel an wirtschaftlicher Selbstreflexion veranschaulicht die Macht eines weiteren falschen Prinzips, das die amerikanische Wirtschaft leitet, einschließlich ihrer Tendenz zur Austerität: Es geht nicht darum, ob der Staat Geld ausgibt, sondern wo er es ausgibt. Im Austeritätskapitalismus ist es akzeptabel, öffentliche Mittel zu verwenden, um die wenigen zu bereichern, die vom wirklichen Reichtum profitieren in Form von Dividenden und Zinsen), während weitverbreitete strukturelle Enteignung ausdrücklich dazu dient, die arbeitende Bevölkerung zu „disziplinieren“. Mit anderen Worten: Die Wirtschaftspolitik wird als wichtigster wirtschaftlicher Hebel eingesetzt, um den Klassenkampf aufrechtzuerhalten.

Dieses Prinzip wird in der jüngsten Gesetzgebung zur Schuldenobergrenze deutlich und konkret umgesetzt. Von den 15 Billionen Dollar überschüssiger US-Schulden ist mehr als die Hälfte (8 Billionen) auf Kriegsausgaben zurückzuführen.

Entgegen dem Zwang zur Ausgabenkürzung nimmt das jüngste Schuldenabkommen die Militärausgaben auffällig von allen Kürzungen aus. Gleichzeitig werden die US-Ausgaben für den Krieg in der Ukraine in den kommenden Jahren voraussichtlich steigen und im Jahr 2025 895 Milliarden Dollar erreichen. Das sind beispiellose Zahlen, schockierende 40 % der weltweiten Militärausgaben.

Und während die Staatsausgaben die Profite der Großaktionäre des militärisch-industriellen Komplexes steigern und die Anteilseigner der Mountain Valley Pipeline trotz der Proteste von Klimaaktivisten in den Appalachen stützen, entzieht dieselbe Politik dem Internal Revenue Service, der Behörde, die für die Untersuchung von Steuerhinterziehung zuständig ist, die Mittel. Wie selbst die oberflächlichste Betrachtung deutlich macht, dient der Impuls der USA, Geld für das Militär auszugeben, denselben Interessen wie ihre Weigerung, ihre Steuergesetze durchzusetzen.

Die Befürworter des Schuldenobergrenzengesetzes der Biden-Regierung argumentieren plausibel, dass das Gesetz für die arbeitende Bevölkerung noch schlimmer hätte ausfallen können, wenn die Prioritäten der konservativsten Republikaner erfüllt worden wären. Doch die Einzelheiten dieses Worst-Case-Szenarios bieten kaum einen Hinweis darauf, was wir stattdessen bekommen haben: eine Konkretisierung der Austeritätspolitik und eine ganze Reihe neuer Hebel für einen einseitigen Klassenkampf.

Clara E Mattei ist Assistenzprofessorin für Wirtschaftswissenschaften an der New School for Social Research in New York City und Autorin von The Capital Order: Wie Ökonomen die Austerität erfanden und den Weg zum Faschismus ebneten. 

Mittwoch, 12. Februar 2025

Fantastilliardäre

A. L. Kennedy 

Nicht mit mir, Leute. Zu Trump und dem Siegeszug der Rechten

Süddeutsche Zeitung 21. Januar 2025

Ich schreibe dies in den verschneiten Wäldern des US-Bundesstaats New York nieder, die schweigend, möglicherweise erwartungsvoll und fast so strahlend weiß daliegen wie das Kabinett des neuen Präsidenten. Nicht weit von hier ermordeten europäische Kolonisten alle Bewohner eines Dorfes namens Nanichiestawack. Hunderte wurden in der Nacht nach einem winterlichen Maisfest niedergemetzelt, einige verbrannten in ihren Häusern. Der Schnee war rot von Blut und Flammen. Doch da diese Fakten die unangemessene Voreingenommenheit der Geschichtsschreibung gegenüber Weißen demonstrieren, die doch einfach nur furchtbare Sachen tun möchten, muss ich jetzt meinen Kopf gegen eine Wand schlagen, bis diese Fakten aus meinem Hirn verschwinden. Fakten und Faktenüberprüfungen sind ohnehin passé. Lügner finden sie unbequem – und die Lügner haben jetzt das Sagen.

Im selbst herbeigeführten Untergang der Fantastilliardäre liegt keineswegs auch nur ein Hauch von Trost

Uneingeschränktes Glück bleibt also allen versagt. Trump lässt seine Anhänger in Washington in der Kälte stehen. Melania trägt Trauer und sieht noch unglücklicher aus, als ich mich fühle. Elon Musks jüngstes Ringen mit der Schwerkraft endet in einem Regen aus gleißenden Splitterteilen, der über diversen Flugrouten und einer tropischen Steueroase für Millionäre herniedergeht. Vielleicht ist das eine Metapher für irgendwas? Die Wahlkampfversprechen an die Maga-Gläubigen werden sich auflösen, und eine Orgie des gaslighting droht, mit kognitiver Dissonanz für alle. Überlebende häuslicher Gewalt sehen, wie der homophobe Chef-Missbraucher zu den Village People tanzt. Der Russland-Unterstützer Mike Flynn treibt seine QAnon-Legionen zu weiteren absurden Selbstverletzungen an. Die großen US-Marken kapitulieren präventiv vor dem Extremismus. Die Welt taumelt ins Zeitalter der Techno-Oligarchen. Empörung und Grausamkeit zu Showzwecken, in der Politik wie in den Medien, haben den Weg für eine reine Showpolitik geebnet, die nur noch zu unserer Unterhaltung da ist, während ein bunt gemischtes Häuflein dysfunktionaler Fantastilliardäre versucht, die Welt nach seinen eigenen Vorstellungen umzuformen. Während die Reichen in Kalifornien über der Frage brüten, warum eine Naturkatastrophe ihre Häuser nicht verschont hat – „Wusste das Feuer nicht, wer ich bin?“ –, versuchen die Mega-Mega-Mega-Reichen, jede höhere Gewalt zu überwinden, einschließlich der Realität.

Die Tatsache, dass das auch zu ihrer eigenen Zerstörung führen wird, ist kein Trost für alle, die sie dabei mit in den Ruin reißen.

Es gibt ein Instrumentarium, das wir nutzen können, um die Realität zu retten – den einzigen Ort, an dem wir leben können

Wie viele Amerikaner habe ich die Amtseinführung des Klamauk-Präsidenten nicht verfolgt. Stattdessen habe ich den Martin-Luther-King-Tag gefeiert. Er erinnert an einen Menschen, der sagte: „Ich glaube, dass unbewaffnete Wahrheit und bedingungslose Liebe das letzte Wort in der Wirklichkeit haben werden. Deshalb ist selbst das vorübergehend besiegte Recht stärker als das triumphierende Böse.“ Diese Pause gönnte ich mir zugunsten meiner geistigen Gesundheit, aber es ging nicht darum, mich von der Realität zurückzuziehen. Sondern darum, eine der meistunterschätzten Kräfte der Welt zu aktivieren: uns. Kings Vermächtnis der intersektionellen Zusammenarbeit, des mutigen gewaltlosen Widerstands und des beharrlichen, freudvollen Engagements für den Wandel bietet ein Instrumentarium, das wir nutzen können, um die Realität zu retten, den einzigen Ort, an dem wir leben können. In den kommenden Wochen und Monaten wird die Berichterstattung über Trump und seine Clique rechtsextreme Fantasien weltweit beflügeln. Klassische wie Online-Medien werden einen aufmerksamkeitsheischenden, verurteilten Vergewaltiger nutzen, um Klicks und Werbung zu generieren. Aber niemand kann uns zwingen zu schlucken, was sie uns servieren.

Überall auf der Welt tun Hofjournalisten, Kommentatoren und sogar Gegner der Republikaner so, als werde schon alles irgendwie weitergehen. Sie suggerieren sich selbst und uns, die mächtigste Regierung der Welt führe die Geschäfte wie gehabt, während ein Panoptikum von Vandalen, Eugenikern und unterqualifizierten rechtsextremen Ideologen an den Hebeln der Macht reißen, bis sie brechen. In meiner britischen Heimat – und in Ihrer, liebe deutsche Leserinnen und Leser – werden unsere eigenen unterqualifizierten Ideologen die Themen der neuen amerikanischen Regierung aufgreifen. Sie werden versuchen, etwas von der Cashlawine abzukriegen, die dieser trickbetrügerische Präsident mit seinem Programm losgetreten hat, in dem sich Kryptowährungsbetrug und Aktienmarkt-Manipulation mit Steuervermeidung, Profitgier und der Aneignung öffentlicher Mittel mischen. Allgegenwärtige Idiotie und interne Machtkämpfe werden die Apokalypse verlangsamen. Rechtsstaatlichkeit, demokratische Institutionen und schlichter menschlicher Anstand werden einige Stückchen des gigantischen Maga-Gebäudes wegmeißeln. Aber dennoch: Es wird großer Schaden entstehen.

Jeff Bezos macht Amazon immer mehr zu etwas, das den Borg aus „Raumschiff Enterprise“ gleicht

Wer wird dazu Beihilfe leisten? Erstens Mark Zuckerberg, Zen-Meister der Incels und „Westworld“-Figur. Die Besucher seines zunehmend solipsistischen „Meta“-versums werden jetzt nach seinem Willen mit einem aus Hass und Wahnsinn angemischten Brei gefüttert, bis irgendwas platzt. Das läuft allerdings nicht ganz so gut, wie er gehofft hatte. Verärgerte Tiktok-Nutzer sind sogar zur chinesischen Regierungsplattform Rednote abgewandert, um nach einer möglichen Maga/Meta-Übernahme nicht mit noch schlimmerer Datensammelei rechnen zu müssen. Zweitens: Jeff Bezos macht Amazon immer mehr zu etwas, das den Borg aus „Raumschiff Enterprise“ gleicht – mit dem Unterschied, dass seine „Widerstand ist zwecklos“-Drohung erst nach mehreren fehlgeschlagenen Zustellversuchen ankommt. Dennoch zeigt sich der Online-Gigant überraschend anfällig, wenn seine Mitarbeiter sich gewerkschaftlich organisieren oder die Kunden woandershin abwandern. Abonnenten und Journalisten verlassen Bezos’ kompromittierte Washington Post und wechseln zu Plattformen wie The Contrarian, die nur eine von vielen Alternativen in einer rasch expandierenden demokratischen Medienwelt ist. Die Millionen von Mikro-Spendern, die Milliardären wie Bezos ein Vermögen eingebracht haben, können genauso gut politische Bewegungen finanzieren oder Medien, die auch „schlecht informierte“ Wähler erreichen, oder Websites, die nützliche Tipps verbreiten, zum Beispiel „Wie man die Infektion mit Kinderlähmung vermeidet“.

Elon Musks permanente Sichtbarkeit schadet dem Kult um seine Person. Selbst wir Briten hassen ihn

Elon Musk, Nepo-Baby der Apartheid und Imperator des Fragilen Weißen Egos, ist natürlich die größte Bedrohung für alles und alle, überall. Jetzt, da Trump wieder im Weißen Haus sitzt, beansprucht Elon die Vormachtstellung, nach der er sich immer gesehnt hat. So wie Trump die Billigversion eines reichen Mannes ist, ist Elon die Idiotenversion eines Genies. Beide Männer wurden als Kinder von lieblosen und wenig liebenswerten Vätern schikaniert, beide sind zu promisken, nihilistischen Narzissten ohne Freunde herangewachsen, alles, was sie anfassen, vergiften und zerstören sie. Doch mit je mehr Energie Musk Twitter in den Propagandasender X verwandelt, desto mehr Nutzer verliert er. Zudem schadet Elons permanente Sichtbarkeit dem Kult um seine Person. Wenn man den Tesla-Mann, Antisemiten und Rassisten kennt, kann man ihn gar nicht mögen, selbst dann nicht lange, wenn man selbst für Rassismus und Antisemitismus wäre. Selbst wir Briten hassen Musk, und wir haben Nigel Farage ins Unterhaus gewählt! Elon hat es sogar geschafft, bei euch in Deutschland dem Ruf der AfD zu schaden – wer hätte das vorher gedacht, dass das möglich ist? Möge eine sinnvolle Spendengesetzgebung uns alle recht bald vor seinen Eingriffen in die Wahlkampffinanzierung schützen.

Trumps Hass-Zirkus wird Amerika in einen Dschungel militarisierter Razzien, elender Masseninternierungszentren und profitorientierter Deportationen verwandeln.  Wir müssen dafür sorgen, dass die Augen der Welt auf diese Quelle des Leids gerichtet bleiben, auch wenn es noch viele andere gibt, und wir müssen alle friedlichen Mittel des Widerstands nutzen. Erzwungene Abschiebungen dürften vor allem Amtsmissbrauch bei Uniformträgern befördern und die USA Milliarden kosten, während das Ausbleiben der finanziellen und materiellen Beiträge von Immigranten die Wirtschaft lähmen wird. Wir müssen weitere Forderungen nach ähnlichen Grausamkeiten ablehnen, verzögern und zurückweisen. Eine US-Regierung, die den Bürgern dienen und sie schützen sollte, liegt jetzt in den Händen derjenigen, die die Regierungsarbeit zerstören wollen. Ähnliche Zerstörer lauern im Vereinigten Königreich, in Deutschland und in der gesamten EU. Und wir müssen deutlich machen, dass ihre Politik zu ähnlichen Trump’schen Dystopien führen wird – mit all den Konsequenzen, die sich daraus ergeben.

Wir alle können Politiker mit Kleinstbeiträgen unterstützen, die Kompetenz, Fantasie und echte Verbesserungen bieten

Wir sind mehr als ausbeutbare Ressourcen. Wir – und damit meine ich Millionen – sind Triebkräfte des Wandels, die in einer stark vernetzten Welt leben. Wir können schnell handeln und Dinge verbessern. Wir können darauf bestehen, dass unsere Politiker dasselbe tun, zum Schutz der Demokratie, dieses unvollkommenen Systems, das noch immer unsere beste Option ist.

Noch haben wir die Chance, uns und unseren Planeten vor dem totalen Korporatismus zu retten, der auf ungezügelten Kapitalismus folgt. Er schleicht sich bereits in Großbritannien ein. Unser Premierminister ist, wie seine Tory-Vorgänger, ein Freund von Sonderwirtschaftszonen und Freihäfen. Diese undurchsichtigen Bezirke unterregulierter Vorherrschaft von Unternehmen werden die Möglichkeit, wieder in die EU mit ihren Menschenrechts-, Arbeits- und Umweltschutzregularien einzutreten, erschweren. Und das gerade in dem Moment, in dem eine solche Mitgliedschaft uns vor dem Raubtierkapitalismus der USA schützen könnte. Aber wir alle können Politiker und Organisationen, die den Wählern Kompetenz, Fantasie, Unterstützung und echte Verbesserungen bieten, mit Kleinstbeträgen unterstützen. Wenn die Scheindemokratien nur eine Fortsetzung des verwirrenden Schmerzes bieten, ist der nächste Schritt für manche Wähler nicht die Demokratie, sondern eine politische Wildnis, aus der man nur schwer wieder herausfindet.

Ich schließe meine Geschichte aus Nordamerika mit einer Erzählung, die vom Volk der Anishinaabe stammt: An einem verschneiten Tag trifft ein Mann Nanabozho, den Trickster. Er fragt Nanabozho: „Wie bist du so klug geworden?“ Nanabozho antwortet: „Ich esse Schlauheitsbeeren.“ Dann führt er den Mann zu einer Kaninchenfährte im Schnee. Am Ende des Weges steht ein Busch. Nanabozho zeigt auf einen Haufen kleiner dunkler Kügelchen unter dem Busch und sagt: „Da sind sie. Iss ein paar.“ Der Mann tut das, spuckt aber die ersten gleich wieder aus und sagt: „Das sind keine Schlauheitsbeeren – das sind Kaninchenköttel!“ Nanabozho, der Trickster, sieht ihn an und sagt: „Siehst du, schon bist du schlauer.“

Einige Leute verdienen sehr gut daran, uns Schlauheitsbeeren zu verkaufen. Andere versuchen, uns damit zwangszuernähren. Deshalb müssen wir jetzt damit aufhören, Schlauheitsbeeren zu schlucken. Wir haben bereits alles gelernt, was es zu lernen gab. 

Umbau der USA

Andrian Kreye

Falsche Vorbilder

Süddeutsche Zeitung 10. Februar 2025

Wie soll man aus der Geschichte lernen, wenn die Ereignisse einzigartig sind? Es geht mal wieder um Amerika, das Land, in dem Präsidenten und sonstige Politiker gerne mit Geschichtsbildern an große Vergangenheiten erinnern. John F. Kennedy etwa ist immer ein Zitat wert, egal ob man den Europäern vor dem Brandenburger Tor die transatlantische Freundschaft versichert oder mit den „Moonshots“ Amerikas Innovationskraft beschwört. Thomas Jefferson, Franklin D. Roosevelt und Ronald Reagan sind Figuren, an die man sich gerne anlehnt, wenn der eigene Platz in der Geschichte noch nicht so klar ist.

In der Antrittsrede zu seiner zweiten Amtszeit nannte Donald Trump vor drei Wochen William McKinley als seinen Lieblingspräsidenten. Das bezog sich vor allem auf die Zölle, mit denen der 1897 den Grundstein für die Wirtschaftsweltmacht USA legte, aber auch auf dessen Pläne, in Nicaragua einen Kanal zu bauen, Hawaii zu annektieren und die Dänischen Antillen zu kaufen. Der Kanal wurde dann zwar in Panama gegraben, aber ansonsten ist Hawaii der 51. Bundesstaat und die Karibikinseln gingen für fünf Millionen Dollar an die USA.

Wenn die Technologiefirmen Trump nicht darin bremsen, seine brutale Weltsicht zu verbreiten, verstärken sie diese sogar. Die frühere Meta-Mitarbeiterin Alexis Crews über digitale Regulierung, ihren früheren Chef und darüber, was Europa tun kann.

Trumps Vizepräsident J. D. Vance suchte als Vorbild für den radikalen Umbau der amerikanischen Regierung in einem Podcast vor einigen Jahren nach Vorbildern in der jüngeren Vergangenheit. Da sagte er: „Wir brauchen so etwas wie ein Entbaathifizierungsprogramm, also ein Entwokeifizierungsprogramm für die Vereinigten Staaten.“ Er spielte damit auf George W. Bushs Maßnahmen an, den Irak nach dem Einmarsch 2003 von allen Funktionären, Beamten und Mitläufern von Saddam Husseins Baath-Partei zu säubern. Rund 100 000 Mitarbeiter und Beamte wurden damals von der sogenannten Coalition Provisional Authority gefeuert. Das lief nicht so rund, bescherte dem Irak einen Bürgerkrieg und der Welt den „Islamischen Staat“. Im Kern aber meint Vance natürlich, dass die Progressiven und Linken im Land eine ideologiegetriebene Quasi-Diktatur stellten, die man nun ausräuchern muss. Das ist schon recht nahe an den Verschwörungsmythen der QAnon-Bewegung.

Öffentliche Schulen sind für Trump längst woke Propagandamaschinen

Nun, da die zweite Amtszeit Trumps in ihre vierte Woche geht, zeigt sich, dass all die Vergleiche schief sind. Der derzeitige Umbau des Staates ist für die USA historisch einzigartig. Anekdotische Beweise gibt es dafür genügend. Am vergangenen Freitag etwa wollte ein gutes Dutzend Abgeordnete der Demokraten im Kongress in Washington mal nachsehen, was im Bildungsministerium so vor sich geht. Es war einer dieser klirrend kalten Sonnenvormittage, die einem sagen, dass der Winter noch lange dauern wird. Vor der Türe hatte sich ein Herr im braunen Polohemd aufgebaut, der ihnen den Zutritt verwehrte. Er arbeite für das Ministerium, sagte er, gab sich aber sonst nicht zu erkennen. In der Lobby sammelten sich schon die Wachleute, falls die Abgeordneten hereindrängen sollten. Die wiederum vermuteten, dass Elon Musks Horden junger Tech-Ingenieure aus seinem inoffiziellen Amt für Regierungseffizienz (DOGE) Präsident Trumps Versprechen vorbereiten, das Bildungsministerium dichtzumachen. Denn öffentliche Schulen sind mit ihren liberalen Werten, ihrem Sexualkundeunterricht und ihren Inklusionsgedanken für ihn und Musk und ihre Anhänger längst Propagandamaschinen des Woke. Was wohl noch ein Weilchen dauern wird, weil seine Kandidatin für das Amt der Bildungsministerin, Linda McMahon (milliardenschwere Mitgründerin des Unternehmens World Wrestling Entertainment), noch nicht vom Senat bestätigt wurde.

Aus dem Besuch wurde dann ein Protest vor dem Gebäude. Nicht zum ersten Mal. Abgeordnete der Demokraten wurden schon nicht ins Entwicklungshilfeorganisation USAID, das Amt für Umweltschutz und das Finanzministerium eingelassen. Formaljuristisch waren die Zugangssperren zwar korrekt. Im Sinne der Demokratie ist es jedoch unerhört, dass Abgeordnete aus einem Ministerium ausgesperrt werden, das von Unbekannten aus der Privatwirtschaft auseinandergenommen wird.

Die Unbekannten sind inzwischen auch keine Unbekannten mehr. Das Zentralorgan des Silicon Valley, die Zeitschrift Wired, hat herausgefunden, wer da im Auftrag von Elon Musk in den Buchhaltungen der Ministerien und Ämter herumwühlt, wer die Empfehlungen für die Tausenden vorübergehenden Beurlaubungen, die Kündigungen und Budgetstreichungen ausspricht. Das ist eine Gruppe junger Männer und auch ein paar Frauen, die Musk aus seinen Firmen Space-X, Tesla, Neuralink, xAI und X rekrutierte. Die Kerngruppe, die Wired identifizierte, bilden Akash Bobba, Edward Coristine, Luke Farritor, Gautier Cole Killian, Gavin Kliger und Ethan Shaotran, allesamt zwischen 19 und 25 Jahren alt. Sie wurden von drei Mitarbeitern der Softwarefirma Palantir rekrutiert, gegründet von Musks einstigem Weggefährten Peter Thiel. Eines der Stellenangebote lief dabei über Discord, das Chatsystem für Videogamer auf dem Kanal für Space-X-Praktikanten.

Ein anderer ist Marko Elez, ein 25-jähriger Mitarbeiter von Space-X und X, musste von seiner Aufgabe im Finanzministerium zurücktreten, als herauskam, dass er im vergangenen Jahr unter Pseudonym rassistische Posts auf X abgesetzt hatte. Im Juli schrieb er zum Beispiel: „Nur fürs Protokoll: Ich war schon rassistisch, bevor es cool war.“ Und im September: „Ich würde nicht mal gegen Bezahlung jemanden außerhalb meiner ethnischen Gruppe heiraten.“ Musk hat am Wochenende versprochen, ihn wieder einzustellen. Vizepräsident Vance unterstützte ihn dabei mit der Ansage: „Dumme Social-Media-Aktivitäten sollten nicht das Leben eines Jungen ruinieren.“

Das klingt eher nach Science Fiction als nach amerikanischer Geschichte

Die Qualifikationen der DOGE-Leute sind zweifelhaft. Die neue Stabschefin im Amt für Personalverwaltung, das derzeit eine Kündigungswelle in Ministerien, Ämtern und Behörden vorbereitet, ist Amanda Scales. Die arbeitete zuletzt in Musks Firma für KI-Entwicklung xAI und davor in der Personalabteilung der Taxi-App Uber. Einige der Personalgespräche in Washington führte dann Edward Coristine, frisch von der Highschool, der ein paar Monate als Praktikant bei Neuralink hospitierte, Musks Firma, die einen Chip entwickelt, mit dem man Gehirne mit Rechnern verbinden kann.

Das klingt eher nach Science Fiction als nach amerikanischer Geschichte. Man muss sich die intellektuellen und ideologischen Unterbauten der Trump-Regierung und ihres Vollstreckers Elon Musk deswegen schon selbst zusammensuchen. Beide sind von Haus aus Geschäftsleute. So betrachten sie die Bundesregierung der USA auch als maroden Traditionsbetrieb, den sie nach den Regeln von Private-Equity-Gesellschaften und Firmenberatungen auf ihre Grundsubstanz reduzieren wollen. Dazu gehört immer auch der massive Personalabbau.

Material, wo man das nachlesen kann, gibt es genug. Donald Trumps Selbstbeweihräucherungsbuch „The Art of the Deal“. Peter Thiels Manifest für zentrale Führungsstrukturen, „Zero to One“. Der neunte Band der „Mandate for Leadership“-Reihe der Heritage Foundation, der unter dem Namen „Project 2025“ als Gebrauchsanweisung für den Abbau des Rechtsstaates und der Demokratie gilt.

Man kann aber auch noch mal Grover Norquists Schriften rauskramen. Der 68-jährige Gründer und Präsident hatte 1985 im Auftrag von Ronald Reagan die Organisation „Americans for Tax Reform“ gegründet. Diese „Amerikaner für Steuerreform“ sind inzwischen eine der mächtigsten Lobbygruppen in Washington. Norquist selbst ist so etwas wie einer der geistigen Väter des Libertarismus, eine treibende Kraft in der Neuausrichtung der Partei der Republikaner nach rechts und damit auch der Trump-Regierung. Seine offizielle Mission ist zwar die Vereinfachung und der Abbau von Steuern. In Wahrheit geht seine Stoßrichtung sehr viel weiter: Denn die Konsequenz aller Steuersenkungen ist für ihn auch der Abbau des Staates. Der Titel seines jüngsten, 2023 erschienenen Buches ist da so etwas wie Programm: „Lasst uns in Ruhe: Wie wir die Regierung dazu bringen, ihre Hände von unserem Geld, unseren Waffen und unseren Leben lassen“.

Die grobe Ironie der libertären Bewegung beherrschte er von Anfang an. Es geht die Mär, er sei als Student nachts mit Freunden durch Washington gefahren und habe Kampflieder der Anarchisten krakeelt. Und ausgerechnet in einem Interview mit dem National Public Radio, das Trump abschaffen will, sagte er 2001 schon: „Ich will die Regierung nicht abschaffen. Ich will sie nur so weit verkleinern, dass ich sie ins Badezimmer schleppen und in der Badewanne ertränken kann.“ Wie es aussieht, setzen Elon Musk und seine Praktikanten das nun in die Tat um.


Broligarchie USA

A.L. Kennedy

Musk, Trump und die Broligarchen in den USA. Was tun gegen Junkie-Sadisten?

Süddeutsche Zeitung 10. Februar 2025

Bayard Rustin, ein schwarzer Quäker-Aktivist aus Philadelphia, schrieb einmal: „Wir sind alle eins. Und wenn uns das nicht bewusst ist, werden wir es auf die harte Tour lernen.“ Mittlerweile sind in unserer bequemen demokratischen Welt so viele hinters Licht geführt worden, dass wir es nun alle auf die harte Tour lernen. Mein Heimatland Großbritannien schlittert in höfliche Repression und Kollaps. Und hier in Amerika ist mein Leben seltsam ruhig, während zugleich die Demokratie brennt.

Ich erlebe hier wunderbare Dinners – manchmal mit Menschen, die sich in Zeiten sozialer Mobilität finanzielle Stabilität, zum Teil sogar erheblichen Wohlstand erarbeitet haben. Sie sind gebildet, kultiviert, sie spenden Geld für gute Zwecke. Einige haben wirklichen Einfluss. Sie sind vernünftig und sprechen vernünftig mit anderen. Sie sind es gewohnt, als Individuen behandelt zu werden, nicht als Klischees oder als Repräsentanten bestimmter Gruppen. Ebenso wie den traditionellen Printmedien, die sie lesen, macht ihnen das neue Regime Sorgen. Sie sprechen von den Absurditäten des Präsidenten, als seien diese Absurditäten ausgeklügelte Strategien im Geiste Nixons, und sie sagen: Dieses und jenes Gesetz wird womöglich gerade gebrochen. Sie versuchen immer noch, das Chaos zu verstehen und es mit Cleverness zu besiegen.

Sie wirken wie Träumer, die auf einer hohen, hohen Mauer tanzen, während Verrückte unten die Backsteine weghämmern.

In Wirklichkeit erleben wir gerade natürlich einen Staatsstreich, der sehr schnell vonstattengeht. Der Widerstand dagegen kommt nicht aus der politischen Mitte, dem Establishment. Stattdessen hat sich eine ungewöhnliche Allianz gebildet. Sie besteht aus Neuen Medien, Aktivisten, Nationalpark-Angestellten, Quäkern und Minderheiten, die sich einer existenziellen Bedrohung gegenübersehen, Menschen, die jetzt schon viel verloren haben und wissen, dass sie noch mehr verlieren werden. Es sind meist die Glücklosen, die sich auflehnen. Wie meine Freundin, die jetzt immer ihren amerikanischen Pass mitnimmt, wenn sie einkaufen geht, weil ihr gesagt wurde, dass sie „wie ein Hispanic“ aussehe. Sie hat Angst, dass sie verhaftet und in einem Lager interniert wird. Dies ist keine Zeit zum Träumen.

Trump hatte Glück. Aber er hat aus diesem Glück nichts Gutes gemacht

Der MAGA-Feldzug gibt vor, Amerika gegen Amerika zu repräsentieren. In Wirklichkeit erleben wir eine Schlacht, in der eine bizarre Clique von Megareichen ohne jede staatsbürgerliche Loyalität versucht, unsere Spezies auf außerordentlich dumme Weise zu unterjochen und umzugestalten. Ihr Projekt wird am Ende in die Luft gehen, aber das Elend und der Tod bis dahin sind unverzeihlich. Genau genommen ist es ein Konflikt zwischen Menschen, die Glück haben, und solchen, die keines haben. Trump, der Teflon-Betrüger, der zufällig ein Vermögen geerbt hat, ist ständig ängstlich darum bemüht, zu beweisen, dass er etwas wert ist, während er Wertloses tut und repräsentiert. Er hatte Glück, und er hat aus seinem Glück nichts Gutes gemacht. Noch mehr Glück hat der Eugenik- und Ketamin- und „Römischer Gruß“-Fan Elon Musk. Er ist besessen von jener Meritokratie, die er selbst dank seines ererbten Reichtums spielend umgehen konnte. Die Architekten von MAGA-World sind so sehr vom Glück verwöhnt worden, dass sie nie ein Verständnis für die Konsequenzen ihres Handelns entwickelt haben. Sie betrachten die Realität als optional, veränderbar, immer wieder auch als persönliche Beleidigung.

Meine Förderer hier in den USA, meine Bekanntschaften aus dem Journalisten-Establishment – auch sie sind Glückskinder. Der Silver Surfer mit den ethnisch gemischten Enkeln, die fast genauso behandelt werden wie alle anderen, weil sie auf einer „guten“ Schule sind – Glückskinder. Sie arbeiten hart und menschenfreundlich auf Basis dieses Glücks. Sie stammen aus glücklichen und stabilen Familien. Sie kennen die üblichen Herausforderungen des Lebens. Aber die Logik der Tyrannen, der bösartigen Narzissten, die zerstören um des Zerstörens willen, die Bosheit der Raubtiere, die nach Schönheit suchen, um sie zu ruinieren, das alles verwirrt sie. Sie wissen nicht, wie es ist, beim Geräusch eines sich im Schloss drehenden Schlüssels zusammenzuzucken, weil der Mensch, der sie missbraucht hat, gerade wieder ihr Haus betreten hat und erneut ihre Sicherheit, ihre körperliche und geistige Unversehrtheit bedroht.

Sie mussten nie denken: „Diesmal sterbe ich vielleicht.“

Ich wuchs in der Annahme auf, eine Kindheit, in der man betet, dass die eigene Mutter überlebt, sei normal. Danach lebte ich in einer Beziehung voller körperlicher Risiken, von denen ich immer noch annahm, sie seien normal. Menschen, die einen missbrauchen, schlagen nicht immer einfach zu. Oft bereitet es ihnen mehr Vergnügen, ihr Opfer zum Komplizen ihrer Untaten zu machen, und es sogar dazu zu bringen, sie zu vermissen, es zu bitten, zu ihm zurückzukehren. Es ist leicht, auf diese Art und Weise das einzige Mitglied eines finsteren, intimen Kults zu werden.

Wir, die Glücklosen, die so etwas überlebt haben, erkannten die wahre Natur des orangefarbenen Mannes in der Sekunde, in der wir ihn sahen. Wir kannten die MAGA-Tricks schon lange. Wir brauchten keinen zusätzlichen Hinweis eines für antisemitische Ausfälle bekannten Schauspielers wie Mel Gibson, der kurz nach der Wiederwahl eines verurteilten Vergewaltigers diesen mit den Worten feierte: „Es ist, als wäre Daddy zurück – und jetzt nimmt er seinen Gürtel ab.“ Amerika wird derzeit darauf trainiert zusammenzuzucken, wenn es Daddys Schlüssel im Schloss hört. Jeden Morgen wartet er mit seinen Drohungen und Schlägen, die von den willfährigen Medien in Millionen Haushalten verbreitet werden.

Sie fordern die Unterdrückung dessen, was „weiblich“, anders, unkonventionell ist. Sie wollen das Ende der Liebe

Meine eigenen Missbrauchserfahrungen habe ich mit heterosexuellen Männern gemacht. Missbrauchen können Angehörige jedes Geschlechts und jeder Orientierung. Bei MAGA geht es jedoch vor allem um straight white daddies – „starke“ Männer, deren Liebessprache der Schmerz ist. Eine Weile war diese Haltung nicht mehr so präsent, die alten Vorurteile und Abneigungen wurden anders kanalisiert. Jetzt zeigt sich diese Haltung wieder offen, weil das Umfeld es erlaubt, und sie fordert Geld, Loyalität und Grausamkeit von uns.

Die immer laut formulierten Pseudolösungen der extremen Rechten sind darauf ausgelegt, von möglichst vielen gehört zu werden. Sie fordern die Unterdrückung und letztlich die vollständige Beseitigung dessen, was angeblich „weiblich“, anders, fremd, unkonventionell, flexibel, kreativ, grenzüberschreitend ist. Sie wollen das Ende der Liebe. Das ist beängstigend, aber wir Unglücklichen wissen, dass unsere Gegner das am heftigsten angreifen, was sie am meisten fürchten. Vielleicht besteht doch noch die Möglichkeit, das „Weibliche“, das Ungewöhnliche, das Kreative, das Unklassifizierbare, das Freudige, das Liebevolle zu umarmen, zu verstärken und zu verkörpern, so sehr wir nur können.

Vielleicht können wir unsere Medien zurückgewinnen und sie nutzen, um prosoziales Verhalten zu fördern. Vielleicht gelingt es uns, die Plattformen und Einnahmequellen der Tech-Bros zu untergraben, bevor sie Amerika einfach ausplündern, um ihre eigenen Verluste auszugleichen.

Ich weiß, dass es schwer ist, sich auf Widerstand zu konzentrieren, wenn man von derartig viel Lärm umgeben ist. Der Faschismus liebt Chaos. Auch dieser Artikel hier könnte zu einer Liste der wilden, zerstörerischen Dinge mutieren, die der Präsident heute schon wieder gesagt, getwittert und getan hat. Gefolgt von einer Liste derjenigen, die neuerdings zu den Glücklosen gehören. Gefolgt von einer Liste weitreichender und koordinierter Angriffe auf die Kernfunktionen der Demokratie und auf jegliche Manifestation von Mitmenschlichkeit. Es ist leicht für Freunde der Demokratie – Glückskinder wie Glücklose –, ihre Stimmen in diesem Sturm zu verlieren. Der Führer der unfreien Welt rülpst jeden Tag monströse Soundbites aus, um den Nachrichtenstrom zu beherrschen und die Schmerztoleranz der Nation neu zu kalibrieren. Im Moment ist er ein Facebook-Empörungsalgorithmus in (gerade noch) menschlicher Form. In der Zwischenzeit fackelt Musk alles ab, von der Bildung über die Seuchenbekämpfung bis hin zur nationalen Sicherheit, unterstützt von einem knabenhaften Mob von Incels, die minimale Lebenserfahrung mit amoralischer Rücksichtslosigkeit kombinieren. Es ist ein Angriff auf vielen Ebenen. Aber das kennen die Glücklosen schon.

Konzentrieren wir uns also auf die Wahrheit. Die Versprechen des Faschismus sind immer vergiftet, ansteckend, absurd. Sie können nicht in Frieden gedeihen, wollen nie genau untersucht werden. Schon deshalb müssen wir Frieden schaffen –  mental, spirituell, physisch –, wir müssen Frieden schaffen, wo immer es geht. Wir verstärken Kreativität, Fluidität, gegenseitige Unterstützung. Warum hasst die extreme Rechte die Natur, die Kunst, die Schönheit? Weil Stärke, Klarheit, Einheit und Fantasie für sie im selben Maße eine Bedrohung darstellen, wie sie uns helfen. Warum versucht sie, die Geschichte auszulöschen? Weil diejenigen, die planen, die schlimmsten Fehler der Geschichte zu wiederholen, nicht wollen, dass wir vorhersehen, wie viele Menschen dabei umkommen werden. Für die Mitglieder des Nouveau Reich ist Männlichkeit das A und O, aber eben eine extrem dünnhäutige, paranoide, sadistische und streitlustig ignorante Männlichkeit. (Im Fall von Elon Musk gehört auch noch missglückte Schönheitschirurgie dazu.) Frauen sind Zielscheiben, Trophäen, Opfer. Aber die Realität und die medizinische Wissenschaft widersprechen dem immer wieder. Das neue Gilead der Christofaschisten ist äußerst fragil. Deshalb müssen wir Modelle menschlicher Identität fördern und verkörpern, die in unserer reichen Vielfalt und Zuneigung wurzeln.

Bei der Dämonisierung von Flüchtlingen, der LGBTQ+-Gemeinschaft und Immigranten ging es immer darum, uns darauf vorzubereiten, schließlich auch unsere eigenen Rechte als fremdauferlegt zu betrachten und zu vergessen, dass wir Menschen sind. Selbst wenn wir einander vielleicht nicht mögen, können wir immer so handeln, als liebten wir einander. Wir können uns der Passivität, der erlernten Hilflosigkeit und der Ablenkungsmanöver des Chaos erwehren. Die Ausgestoßenen, die Minderheiten, die Flüchtlinge, die Überlebenden, die Menschen, die keine Zeit zu verlieren haben, kurz: die Glücklosen wissen, wie das geht.

Die Broligarchen der Welt haben sich den Bevölkerungsrückgang im Westen angesehen und eine Zukunft ins Auge gefasst, in der Legebatterie-Mütter „Handmaid“-Hauben tragen und angemessen isoliert aufwachsenden Nachwuchs produzieren. Dieser Nachwuchs wird die Hautfarbe des Nachschubs an Unternehmensdrohnen aufhellen und durch psychologische Beeinflussungsmaßnahmen emotional elend und allein gehalten in Richtung Soziopathie getrieben werden. KI soll nach dem Willen der Broligarchen nicht unsere Zukunft sichern oder uns ein leichteres Leben auf unserem Planeten ermöglichen, sondern sie soll jede humane Funktion der Menschheit usurpieren und untergraben. Zudem fänden sie es gut, wenn von ihnen verursachtes wirtschaftliches Chaos, Umweltkollaps und eskalierende Krankheiten die Schwachen beseitigen. Es ist all dies ein großer Haufen selbstzerstörerischer Fantasien von Junkie-Sadisten.

Trotzdem lernen wir dazu. Auch während wir massenhaft zu Glücklosen werden, haben wir immer noch die Chance, Führungspersönlichkeiten zu wählen und Bewegungen zu schaffen, deren Liebessprache nicht Schmerz ist, sondern tatsächlich: Liebe. Wo immer dies eine Option ist, wo immer sich Wähler dafür entscheiden, zieht der Faschismus sich zurück. Höflichkeit, der Status quo, das alles reicht nicht mehr aus. Um es mit den Worten der polnischen Literaturnobelpreisträgerin Wisława Szymborska zu sagen: „Ich ziehe schlaue Freundlichkeit der allzu vertrauensvollen vor.“

Mögest du immer schlauer werden, liebes Deutschland, und von immer radikalerer Freundlichkeit sein.

A. L. Kennedy ist eine schottische Schriftstellerin. Zuletzt erschien von ihr der Roman „Als lebten wir in einem barmherzigen Land“ im Hanser-Verlag. Aus dem Englischen von Alexander Menden.