Sonntag, 6. Juli 2025

Drohnen, Sheherezade und der eitle Dämon Krieg

 Alexander Kluge


"Ich muss mich ganz in die Perspektive des Gegners hineinversetzen". Über die Kunst, Frieden zu schließen. Interview: Dr.Peter Neumann

Aus der ZEIT Nr. 28/2025 2. Juli 2025 


DIE ZEIT: Herr Kluge, überall wird aufgerüstet, sprechen die Waffen. Haben wir verlernt, den Frieden zu denken?

Alexander Kluge: Ich hätte mir nie träumen lassen, dass wir nach den Erfahrungen von 1918 und 1945 noch einmal so grundsätzlich neu denken müssen. Aber genau das steht uns jetzt bevor.

ZEIT: Inwiefern?

Kluge: Wenn man heute glaubt, man könne mit Drohnen, Raketen, Fernwaffen einen Krieg gewinnen, ist das eine Illusion. Der Krieg ist ein Dämon. Er folgt einer Eigenlogik, die weder von denen, die ihn beginnen, noch von denen, die ihn bekämpfen, vollständig beherrscht werden kann. Niemand kann sich zum Richter über Gut und Böse aufschwingen, weil der Krieg sich jedem Urteil entzieht. Er ist unberechenbar, wandelt nur seine Gestalt, aber nie sein Wesen. Auf diese Erfahrung müssen wir eine Antwort finden.

ZEIT: Momentan erleben wir eher das Gegenteil. Nach den jüngsten Luftangriffen auf den Iran durch Israel und die USA ist die ohnehin fragile Konfliktzone Naher Osten noch weiter ins Wanken geraten.

Kluge: Das hat mich als Kriegskind unmittelbar an den Zweiten Weltkrieg erinnert. Ich war 13 Jahre alt, der Kronprinz meiner Eltern, als ich erlebte, wie meine Heimatstadt Halberstadt am 8. April 1945 im Feuersturm der alliierten Bomber unterging. Das hat mich tief erschüttert. Und doch: Selbst bis zum 8. Mai, bis in die letzten Tage des Krieges, haben die Bombenangriffe kaum etwas bewirkt.

ZEIT: Der Alltag ging einfach weiter?

Kluge: Ja. Man kann den Willen eines Volkes nicht durch Bomben brechen, selbst dann nicht, wenn es selbst keinen guten Grund mehr für den Krieg sieht. Man verlängert ihn dadurch nur. Unsere Putzfrau in Halberstadt, Frau Anna Will, hat einmal einen Satz gesagt, der mich sehr beeindruckt hat: "An einem bestimmten Punkt des Unglücks ist es gleich, wer es begangen hat. Es soll nur aufhören."

ZEIT: Sie meinen, militärische Gewalt allein reicht nicht?

Kluge: Nein, das kann sie gar nicht.

ZEIT: Warum nicht?

Kluge: Weil die Idee, den Feind restlos zu vernichten, ein Irrtum ist. Denken Sie nur an die Zerschlagung des antiken Karthago durch die Römer. Zerstörte Städte, zertrümmerte Steine bilden kein Fundament für einen echten Frieden.

ZEIT: Sie sprechen vom Dritten Punischen Krieg im 2. Jahrhundert vor Christus. Von Cato dem Älteren, einem römischen Staatsmann, ist das berühmte Wort überliefert: "Im Übrigen bin ich der Meinung, dass Karthago zerstört werden muss."

Kluge: Ja. Und nicht einmal die Zerstörung schien Cato zu genügen. Er schlug vor, Pflüge aus Tunis nach Karthago zu bringen, um die Trümmer, die zerschlagenen Steinblöcke der Paläste und Mauern, noch einmal umzupflügen.

ZEIT: Ein symbolischer Akt der Verwüstung.

Kluge: Genau, das ist das Prinzip: Nach dem Sieg soll es keine Versöhnung geben, sondern radikale Auslöschung. Das ist das schlechteste Rezept überhaupt. Es verlängert den Krieg ins Unendliche. Und vergiftet jeden künftigen Frieden.

Alexander Kluge: "Ich muss mich ganz in die Perspektive des Gegners hineinversetzen"

ZEIT: Kann man denn Kriege überhaupt gewinnen?

Kluge: Nein. Man kann einen Krieg nicht wirklich gewinnen. Das ist das eigentliche Paradox: Von Troja bis heute bleibt es eine Illusion, dass der Sieger tatsächlich siegt. Agamemnon, der König der Griechen, kehrt als Triumphator heim und wird im Badehaus blutig geschlachtet. Die Deutschen besiegen 1870 bei Sedan die Franzosen und besiegeln damit ihr eigenes Elend im Jahr 1918. Die Franzosen wiederum nutzen den Sieg von 1918 und stehen 1940 vor dem Scherbenhaufen. Wer auch immer siegt, stürzt ab.

ZEIT: Dennoch: War es nicht notwendig, dass Hitler-Deutschland durch die Alliierten vollständig besiegt wurde?

Kluge: Der militärische Sieg war zweifellos zentral. Doch ebenso wichtig war das, was darauf folgte: der Marshallplan, der wirtschaftliche Wiederaufbau des Landes. Dieses Programm hatte in Europa enorme moralische Autorität und trug maßgeblich zum Sieg des Westens im Kalten Krieg bei.

ZEIT: Sie haben in diesen Tagen in Chemnitz eine Ausstellung über den Krieg eröffnet und darüber, wie man ihm vielleicht entkommen kann. Was wäre ein gutes Rezept, um Frieden zu schließen?

Kluge: Der erste Schritt ist: Man muss die Generosität finden, für einen Moment mit dem Kopf des anderen zu denken. Ich muss mich ganz in die Perspektive des Gegners hineinversetzen: Was könnte ihm so wichtig sein, dass er bereit ist, seine Verbrechen zu beenden, seine Irrtümer einzusehen? Es geht darum, den Punkt zu finden, an dem selbst ein Tyrann oder ein Böser bereit wäre, einem Deal zuzustimmen.

"Der Krieg ist ein eitler Dämon, er hört sich gern selbst zu"

ZEIT: Trump hat versucht, einen Deal mit Putin in der Ukraine zu erreichen. Bisher allerdings ohne Erfolg.

Kluge: Trump hat versucht, diesen Punkt zu finden. Dafür braucht es aber Vorstellungsmögen, Fantasie. Das ist der zweite Schritt: Gäbe es ernsthafte Forschung, fänden sich viele verhandlungsfähige Themen, etwa eine Anpassung der Sanktionen rund um Kaliningrad, immerhin der Geburts- und Sterbeort Immanuel Kants, der für Russland wertvoller sein könnte als Mariupol mit einer widerwilligen Bevölkerung. Oder gemeinsame Zukunftsprojekte, etwa in der Raumfahrt. Möglich wäre das allemal. Jetzt müsste man solche Optionen sammeln und sorgfältig abwägen, ohne in Verhandlungen sofort Zugeständnisse zu machen.

ZEIT: Übertreiben Sie nicht?

Kluge: Es gibt einen Satz, der Herakles, dem größten Helden der Antike, zugeschrieben wird: "Der Pfeil, den ich ins Herz meines Gegners schieße, trifft mein eigenes Herz." Das ist die Dialektik des Krieges, die man nicht unterschätzen darf: Der Pfeil der physikalischen Zeit lässt sich nicht umkehren, aber in der chaotischen Zeit des Krieges sind die logischen Gesetze, die Ordnung von Nacheinander und Nebeneinander, aufgehoben. Alles versinkt im "Nebel des Krieges", wie es der preußische Kriegstheoretiker Carl von Clausewitz einmal genannt hat. Und deshalb kehrt der Pfeil, den man auf den Gegner abschießt, am Ende wieder zurück. Das ist das Prinzip des Krieges, er schiebt die Dauer der Zeit bis zum Frieden in die Länge.

ZEIT: Heute wird aber nicht mehr mit Pfeil und Bogen gekämpft. Man lässt Drohnen aufsteigen.

Kluge: Drohnen sind im Grunde atavistische Geräte.

ZEIT: Wie meinen Sie das?

Kluge: Sie sind unbemannte Kampfflugzeuge, operieren ohne Piloten. Das heißt: Man kann größere Risiken eingehen. Sie fliegen bodennah, sind kaum ortbar, entziehen sich dem Radar. Ihre Kleinheit, ihre schlichte Bauweise, all das macht sie nahezu unaufhaltbar. Mich erinnern sie an die Drachen, mit denen wir als Kinder gespielt haben. Diese Schlichtheit ist ihre Gefahr: eine Waffe, die sich nicht wirklich besiegen lässt.

ZEIT: Heute bekommt man sie sogar im Baumarkt. Im Ukrainekrieg werden Minen daran befestigt und über die Front geschickt. Ist das also – trotz aller Technologie – im Kern eine primitive Waffe?

Kluge: Ja, man könnte sagen: Die Drohne ist die Rückkehr der Höhlenmalerei im Krieg.

ZEIT: Aber es muss doch einen Ausweg geben.

Kluge: Ich würde nie behaupten, dass der Verblendungszusammenhang des Krieges – oder, wie Hegel es nannte, die "Schlachtbank" der Geschichte – unüberwindbar ist.

ZEIT: Nur wie?

Kluge: Vielleicht kann man ihn nicht beenden, aber einschläfern. Zum Verstummen bringen.

ZEIT: Woran denken Sie?

Kluge: Ich denke an die alten persischen Geschichten aus Tausendundeiner Nacht. Scheherazade, die Tochter eines Wesirs, eines hohen Beamten, weiß, dass sie sterben wird. Der König hat beschlossen, jede Nacht eine neue Frau zu heiraten, um seine Begierde zu stillen, und sie am nächsten Morgen töten zu lassen, aus Angst vor Verrat. Doch Scheherazade will diesen Kreislauf der Gewalt mit einer List durchbrechen.

ZEIT: Sie beginnt, zu erzählen ...

Kluge: Ja. Sie erzählt ihm jede Nacht eine Geschichte. Immer bleibt ein Faden offen, der den König neugierig macht. Also verschont er sie, Nacht für Nacht, um zu hören, wie es weitergeht. So spinnt sie ihre Erzählungen über tausendundeine Nacht, bis der König seinen Schwur bricht, das Töten beendet und ihr Gnade gewährt.

ZEIT: Sie meinen, auch der Krieg vergisst, dass er da ist?

Kluge: Ja. Der Krieg ist ein eitler Dämon, er hört sich gern selbst zu. Und wenn er je zur Ruhe kommt, dann am ehesten durch Geschichten über ihn. Solche Geschichten sind verstreut, versprengt, aber wir müssen sie sammeln und neu zusammensetzen. Es sind kollektive Erfahrungen aus drei-, viertausend Jahren, und sie können uns helfen, nicht immer wieder dieselben Fehler zu begehen.




Dienstag, 1. Juli 2025

Israel, Iran

"Vorherrschend ist ein Szenario, das man die Villa im Dschungel nennt"

Welches Kriegsziel hat Israel? Premier Netanjahu träume vom absoluten Sieg, sagt der Historiker Moshe Zimmermann. Und beobachtet eine Verrohung von Israels Gesellschaft. Interview: Lenz Jacobsen

DIE ZEIT 16. Juni 2025

"Es gibt einen weitverbreiteten Satz in Israel: Wenn die Gewalt nicht reicht, braucht es eben mehr Gewalt."

Der Historiker Moshe Zimmermann, Jahrgang 1943, forscht und schreibt über den Nahostkonflikt, die Geschichte der Juden in Deutschland und Antisemitismus. Er lebt in Israel, ist aber aktuell in Berlin, wohin er "immer wieder vor dem Wahnsinn zu Hause flieht", wie er sagt. 

ZEIT ONLINE: Herr Zimmermann, wie wirken sich die Militärschläge gegen den Iran kurzfristig auf die politische Situation in Israel aus?

Moshe Zimmermann: Die erste Phase ist Erleichterung und Genugtuung: Wir haben die Iraner überlistet, unser Militär ist trotz allem genial, und das, was am 7. Oktober passierte, war ein Zufall, der sich nicht wiederholt. Die zweite Phase ist dann die konkrete Unsicherheit, die von den Gegenangriffen der Iraner mit Raketen und Drohnen ausgeht. Man kann sich nicht hermetisch wehren gegen diese Angriffe, es gibt schon Tote, Verletzte und Zerstörung. So ändert sich mittelfristig der Alltag.

ZEIT ONLINE: Wie meinen Sie das? Wie wird sich der israelische Alltag ändern?

Zimmermann: Es wird um Fragen gehen wie: Wie oft muss man in die Bunker? Was passiert mit den Auslandsreisen? Traut man sich noch, entspannt im Restaurant zu sitzen? Was gibt es im Supermarkt nicht zu kaufen? Und so weiter und so fort. Das muss man in Kauf nehmen, wenn man sich in einen Krieg gegen den Iran verwickelt.  

ZEIT ONLINE: Und langfristig?

Ziele von Israel: "Vorherrschend ist ein Szenario, das man die Villa im Dschungel nennt"

Zimmermann: Schon nach einigen Tagen oder Wochen wird man sich fragen: Was bezweckt dieser Angriff? Gibt es ein konkretes, langfristiges Ziel, oder sind die Angriffe nur Teil dieses israelischen Automatismus, immer erst zuzuschlagen, ohne zu wissen, was am Ende des Prozesses steht? Geht es nicht allein um Netanjahus Machterhalt? Das ist das gleiche Muster wie im Gazakrieg. Aber sie wird sich stellen, die immer gleiche Frage nach "hayom sheacharei", wie es auf Hebräisch heißt: dem Tag danach.

ZEIT ONLINE: Wie lautet die Antwort der Regierung Netanjahu?

Zimmermann: Die Antwort ist seit dem 7. Oktober 2023 immer die gleiche: Wir kämpfen bis zum absoluten Sieg. Das ist Netanjahus Formulierung: der absolute Sieg.

ZEIT ONLINE: Wie sieht dieser absolute Sieg konkret aus?

Zimmermann: Ich bezweifle, dass er davon selbst eine konkrete Vorstellung hat. Netanjahu verspricht seinen Anhängern seit dem 7. Oktober 2023 die Zerstörung der Hamas, nicht nur als Kampforganisation, sondern auch als zivile Einrichtung. Sie soll nie wieder die Möglichkeit haben, Gaza zu beherrschen. Das Gebiet soll stattdessen vollständig unter israelische Kontrolle. Diese Ziele aber sind nicht präzise genug formuliert und unerreichbar, das weiß nach anderthalb Jahren in Israel eigentlich jeder.

ZEIT ONLINE: Und was hieße Netanjahus "absoluter Sieg" mit Bezug auf den Iran?

Zimmermann: Es hieße erstens, dass der Iran keine Nuklearmacht ist und werden kann. Zweitens, dass Iran die Handlanger Hisbollah, Hamas und Huthi in ihren Attacken auf Israel nicht mehr unterstützen kann. Und drittens – das ist vermutlich die heimliche Hoffnung der Regierung Netanjahus – dass es im Iran zu einem Umsturz kommt. Aber Menschen, die sich mit dem Iran besser auskennen als ich, sagen auch diesmal, dass israelische Angriffe einen solchen Umsturz nicht gerade wahrscheinlicher machen. Und: Auch nach einem Umsturz würde das iranische Volk nicht plötzlich zu Israelfreunden, wenn Israel seine Palästinapolitik nicht ändert. Netanjahus Idee vom absoluten Sieg ist unerreichbar.

"Seit 1979 hat sich der Iran zum Ziel gesetzt, Israel zu zerstören"

ZEIT ONLINE: Israel hat sich die Feindschaft des Iran ja nicht gewünscht, es hat sich generell den ständigen Konflikt mit Milizen und Nachbarländern nicht ausgesucht. Die Militärschläge sind auch eine Antwort darauf, und offenbar eine effektive. Wie hängen hier israelische Innenpolitik und außenpolitische Lage zusammen?

Zimmermann: Seit 1979, seitdem die Ajatollahs dort herrschen, hat es sich der Iran zum Ziel gesetzt, den zionistischen Staat Israel zu zerstören. Das allein ist aus israelischer Sicht, egal welche politische Einstellung man hat, schon Grund genug, sich auch militärisch zur Wehr zu setzen. Erst recht, wenn die Iraner auch noch nach der Atomwaffe greifen. Das ist eine Existenzfrage für den Staat Israel. Die Angriffe vom 7. Oktober durch die vom Iran unterstützte Hamas lassen das jetzige Vorgehen nur noch notwendiger erscheinen. Doch es gibt darüber hinaus beim Thema Iran für Netanjahu noch andere politische Erwägungen. Mit der Innenpolitik hängt das insofern zusammen, als dass Netanjahu die Iranfrage von Beginn an als Ablenkung von der Palästinafrage benutzte, und in den letzten Wochen vor der Wahl zwischen Skylla und Charybdis stand: entweder die Ultraorthodoxen die Regierung sprengen lassen, oder sie durch einen aggressiven, demonstrativen Akt wie eben diese Angriffe zum Zusammenhalt zu bringen. Netanjahu hat mit den Angriffen auf den Iran auch seine Regierung stabilisiert, zumindest vorübergehend.

ZEIT ONLINE: Was macht es mit der israelischen Gesellschaft, ständig im Kampfmodus zu sein? Das hat ja nicht erst jetzt oder mit dem 7. Oktober 2023 begonnen.

Zimmermann: Wir haben es mit einem Crescendo zu tun, einer ständigen Steigerung, über Jahre. Die Gesellschaft gewöhnt sich an die Gewalt, nach außen, aber auch nach innen. Die israelische Gesellschaft verroht. Zum Beispiel kommt es insbesondere im arabischen Teil der Bevölkerung, das sind circa 20 Prozent, fast täglich zu Mord und Totschlag. Konflikte werden zunehmend mit Gewalt gelöst. Die Zahlen steigen da rasant, die Statistiken sind eindeutig. Das hat mit dieser Atmosphäre der Verrohung zu tun. Es gibt einen weitverbreiteten Satz in Israel: Wenn die Gewalt nicht reicht, braucht es eben mehr Gewalt.

ZEIT ONLINE: Unter anderem der Soziologe Natan Sznaider hat kürzlich erneut dargelegt, dass Israel als erster und einziger jüdischer Staat sich von der sonstigen jüdischen Geschichte und Gegenwart vor allem durch seine Handlungsfähigkeit abhebt, durch seine Souveränität. Anders als vor der Staatsgründung und anders als in der Diaspora haben Juden in Israel die staatliche Macht selbst in der Hand. Sie können sich wehren und eben auch Gewalt anwenden. Sie sind Historiker, kann diese besondere Konstellation einen Teil der israelischen Beziehung zur Gewalt erklären?

Zimmermann: Der Zionismus bietet eine Lösung der Judenfrage an, die betont, dass in Israel die Juden ein normales Volk geworden sind. Normal bedeutet, dass man einen Staat hat. Einen Staat haben bedeutet, dass Juden – anders als in der Diaspora – ein Militär haben und Gewalt anwenden können. Es hat sich aber aufgrund der geschichtlichen Erfahrungen der Juden, die Sie ansprechen, tatsächlich der Mythos entwickelt, dass die jüdische Staatlichkeit, als Reaktion auf die Machtlosigkeit der Diasporajuden, eng mit Gewalt verknüpft sein muss. Feinden muss mit Gewalt begegnet werden. Der Weg der Verständigung oder des Kompromisses – das ist dann etwas für die armen Juden in der Diaspora. Der souveräne jüdische Staat aber hat ja die Instrumente der Gewalt.

ZEIT ONLINE: Aber Sie sagen, das sei ein Mythos?

Zimmermann: Ja. Erstens gab es den sogenannten "Muskeljuden" bereits in der Diaspora. Und zweitens ist es ein völlig falsches Verständnis, den Staat auf sein Potenzial zur Gewaltanwendung zu reduzieren. Staaten sind auch für vieles andere zuständig, unter anderem dafür, Freiheiten zu garantieren, soziale Sicherheit und Kooperation durch internationale und nationale Vereinbarungen herzustellen. Aber das wird übersehen, wenn man die Gewaltbereitschaft in den Vordergrund rückt. Wenn man in ihrem Sinne erzogen wird in Israel, ist ein Ausstieg aus dem Strudel der Gewalt unmöglich.

"Der Zionismus hat utopisches Potenzial verloren"

ZEIT ONLINE: War das denn in der Geschichte Israels mal anders, gab es mal eine andere Perspektive?

Zimmermann: Schaut man sich die israelische Politik in den ersten Jahren nach Gründung des Staates an, mit David Ben Gurion als Regierungschef, sieht man zwar einerseits, dass es für ihn sehr wichtig war, dass Israel sich jetzt mit Waffengewalt wehren kann. Aber daneben gab es noch etwas Zweites: Israel sollte das Licht sein, das aus dem Osten kommt, Ex Oriente Lux. Eine Mustergesellschaft, die sozial und politisch etwas anbietet, was das Leben besser macht, das beispielhaft sein wird für die ganze Welt. Ein sozialer Staat, vielleicht sogar ein sozialistischer Staat. Aber das ist mit der Zeit immer mehr an den Rand gedrückt worden. Der Zionismus hat sich verändert. Übrig geblieben sind der Fokus auf Militär und die Gewaltanwendung gegen Feinde, neben einem jüdischen Fundamentalismus.

ZEIT ONLINE: Waren die Kibbuzim nicht mal gedacht als Verwirklichung dieser idealen Gesellschaft? Als zionistische Utopie und Antwort auf die Frage nach dem "Tag danach"?

Zimmermann: Das ist ein sehr gutes Beispiel. Der Kibbuz war eine Idee aus dem ersten Jahrzehnt des 20. Jahrhunderts. Eine neue Art von Siedlung, basierend auf Gemeinschaft, auf gegenseitiger Hilfe. Jeder trägt etwas und erhält das, was er braucht. Der Kibbuz war das Vorzeigemodell der israelischen Mythologie! Der Beleg, dass der Zionismus versucht, eine gerechte Gesellschaft zu schaffen.

ZEIT ONLINE: Heute ist davon wenig übrig.

Zimmermann: Als im Jahr 1977 die Nationalisten an die Macht kamen, haben sie die Kibbuzim und deren Idee zum Buhmann, zum Feind erklärt: Sie seien falsch, sozialistisch, und ihre Bewohner bloß Ausbeuter der orientalischen Juden. Seit damals hat sich dieser Prozess nur radikalisiert, heute sind die Kibbuzim verpönt. Der Zionismus hat sein utopisches Potenzial verloren.

ZEIT ONLINE: Vielleicht ist es von Israel auch zu viel verlangt, nicht nur die eigene Existenz zu sichern gegen die tatsächlichen und potenziellen Feinde in der Region, sondern dabei auch noch eine ideale Gesellschaft anzustreben?

Zimmermann: Aber in diese endlose Konfrontation mit dem ewigen Feind hat Israel sich auch zum Teil selbst hineinmanövriert. Die jüdische Nationalbewegung war nicht etwa auf Erzfeindschaften ausgelegt, es musste nicht so kommen. Dass es so gekommen ist, daran sind selbstverständlich nicht nur die Israelis, die Zionisten, schuld. Die arabische Welt hatte auch nicht gewusst, wie sie mit der Situation konstruktiv umgehen sollte.

ZEIT ONLINE: Kann Israel sich zum Frieden siegen?

Zimmermann: Siege gibt es im Fußball. Dort muss man nur Tore zählen, um festzustellen, wer Sieger ist. Für die Auseinandersetzung zwischen Israel und seiner Umgebung passt der Begriff nicht. Die Schlachten, die wir gewonnen haben, 1948, 1956, 1967, und auch danach noch – sie haben ja nicht dazu geführt, dass die andere Seite bereit war, in Frieden mit uns zu leben. Zum Frieden oder zumindest zu Annäherungen ist es eher dann gekommen, wenn der Sieg auf dem Schlachtfeld weniger eindeutig war, wenn beide Seiten behaupten konnten, etwas erreicht zu haben. So war es nach dem Jom-Kippur-Krieg 1973 mit Ägypten, der zum Friedensabkommen mit Israel 1979 führte, so war es nach der Intifada 1987 bis 1993, die zu den Osloer Abkommen mit der PLO unter Jassir Arafat.

ZEIT ONLINE: Wenn wir zurück in die Gegenwart kommen und zur Frage, wie sich Israel die Zukunft vorstellt: Die Rechtsextremisten in der Regierung, zum Beispiel Bezalel Smotrich, haben ja durchaus genaue Vorstellungen davon, wie Israel aussehen und was dafür beispielsweise mit Gaza passieren soll. Smotrich strebt dort einen "historisch beispiellosen Trümmerhaufen" an und hält es für moralisch geboten, die Palästinenser zu vertreiben. Sind das die Ideen, die jetzt Netanjahus Ideenlosigkeit ersetzen?

"Die arabische Welt argumentiert mit mittelalterlicher Geschichte"

Zimmermann: Netanjahu ist mehr oder weniger derselben Meinung wie diese Extremisten, er sagt sie als Regierungschef nur nicht ganz so offen. Der absolute Sieg in Gaza, von dem er spricht, und die israelische Siedlungspolitik im Westjordanland sollen letztlich die Vision von Großisrael erfüllen. Erez Yisrael Ha'shlema heißt das auf Hebräisch, ganz Israel. Vom Meer bis zum Jordan, alles soll den Juden gehören. Und dann gibt es noch etwas, was hinzukommt.

ZEIT ONLINE: Was?

Zimmermann: Diese israelische Gemeinschaft soll eine rein jüdische sein, nicht nur im nationalistischen Sinne, sondern auch im Sinne einer echten Religiosität. Obwohl Netanjahu selbst nicht religiös ist, braucht es diese religiöse Inbrunst, um für die Vision zu kämpfen. Dieses religiöse Großisrael ist das eigentliche Ziel. Dazu gehört auch eine Besiedlung des Gazastreifens durch Israelis, der Ausbau der illegalen Siedlungen im Westjordanland, die Anpassung oder "Auswanderung" der arabischen Bevölkerung und so weiter. Solche Sachen bekommt man jetzt seit anderthalb Jahren viel häufiger und offener zu hören als zuvor. Auch wenn sie latent bei den Nationalisten immer schon Programm waren, egal welcher Partei. 

ZEIT ONLINE: Das heißt, die Vision eines religiösen Großisraels, herbeigeführt durch immer mehr Gewalt, ist jetzt die Antwort auf die Frage nach dem "Tag danach"? Und nicht mehr der Kibbuzim?

Zimmermann: Andere, weniger gewaltvolle Zukunftsvorstellungen sind genauso verschwunden wie die Kibbuzim. Seit dem Wahlsieg der Rechten 1977 hat sich nicht nur die Politik, sondern auch das Erziehungssystem und die Sozialisation in Israel radikal verändert. So, dass es mittlerweile für die alternativen Stimmen kaum noch einen Platz gibt. Auch Menschen wie ich gelten heute den meisten als Verräter an der richtigen, zionistischen Sache.

ZEIT ONLINE: Kann sich die israelische Gesellschaft Frieden noch vorstellen?

Zimmermann: Das kommt darauf an, was man unter Frieden versteht. Auf einem Friedhof herrscht auch Frieden, oder? Vorherrschend ist in Israel ein Szenario, das man nach einem Satz des früheren Ministerpräsidenten Ehud Barak die Villa im Dschungel nennt: Ringsherum ist alles voller wilder Feinde, die nicht sind wie wir selbst, und mit denen wir nicht zusammenfinden können. Aber unter uns, in der Villa, schaffen wir eine Art Burgfrieden, der alle Unterschiede einebnet. Da ist dann auch kein Platz mehr für Streit zwischen links und rechts, zwischen religiös und säkular. Einen Frieden aber, wie man sich ihn außerhalb der Region für Israel vorstellt, ein friedliches Zusammen- oder Nebeneinanderleben von Israelis und Palästinensern, von Israelis und Arabern: daran denken die allermeisten hier gar nicht mehr. "Vom Schwert leben" zu müssen, wie es Netanjahu formulierte.

ZEIT ONLINE: Wenn wir noch mal zu den Militärschlägen gegen den Iran zurückkommen: Verstehe ich Sie richtig, dass Sie diese für einen Teil des Problems halten und nicht der Lösung?

Zimmermann: Man kann ein iranisches Atomprogramm auf diese Art hinauszögern, aber man kann die Bedrohung durch den Iran so nicht beenden. Dazu müssten die Iraner ihre Grundeinstellung gegenüber Israel verändern. Der israelische Irrweg ist, zu glauben, dass militärische Überlegenheit allein das Problem lösen kann. Und auf der anderen Seite argumentiert die arabische Welt seit jeher vor dem Hintergrund der mittelalterlichen Geschichte: Die Kreuzzügler kamen nach Palästina, schienen überlegen zu sein, aber es dauerte etwas mehr als hundert Jahre, zweihundert Jahre maximal, und dann waren sie alle weg. Wenn das die Lehre für den Umgang mit Israel heute ist, dann sind die Perspektiven tatsächlich düster. Es wird nur besser werden, wenn sich Israel auf Verständigung mit der Umwelt einstellt und gleichzeitig auch die arabische Welt sich mit der Idee versöhnt, dass auch eine jüdische Minderheit in der Region leben und einen Staat haben kann.

ZEIT ONLINE: Eine Vorstellung, die heute weiter weg scheint als vielleicht je zuvor.

Zimmermann: Ja, deshalb werden die israelische Linke und ich in der Regel für Spinner gehalten. Die Realität scheint uns zu widerlegen. Aber man muss verstehen, dass das, was die Nationalisten vorantreiben, erst recht realitätsfremd und katastrophal ist. Es wird schlicht nicht eintreten, dass Israel sich mit militärischer Gewalt einen Weg zum friedlichen Leben ebnen kann, zu einem geglückten "Tag danach". Nicht im nahöstlichen Dschungel.

Mittwoch, 11. Juni 2025

Queere Tiere

Das Berliner Naturkundemuseum bietet einen Audioguide an, der unter dem Titel „Queering Nature“ unterschiedliche Formen von Geschlechteridentität bei Tieren erläutert und über den generellen Umgang mit Queerness in Wissenskommunikation und Gesellschaft informiert.

Die taz berichtet darüber: "Es geht um Fische, deren Geschlecht sich ändert. Darum, ob Pa­lä­on­to­lo­g*in­nen überhaupt feststellen können, welches Geschlecht ein Dinosaurier hatte, und wieso ein Wissenschaftler lieber wieder aus seinen Aufzeichnungen gestrichen hat, welche Sexualpraktiken er bei Pinguinen beobachten konnte." 


 

Dienstag, 3. Juni 2025

Wem gehört der Holocaust?

Avraham Burg

Niemand hat ein Monopol auf den Holocaust

Der frühere britische Premier Edward Heath bemerkte einmal, dass ein Diplomat „eine Person ist, die zweimal nachdenkt, bevor sie nichts sagt". Israels Botschafter Ron Prosor scheint für seine jüngsten Artikel in der israelischen und der deutschen Presse nicht ein einziges Mal nachgedacht zu haben, bevor er eine doppelte Portion an Propaganda und logischen Verzerrungen veröffentlichte. In dieser Zeitung griff er den israelischen Holocaust-Forscher Omri Boehm als „Sprachrohr des Antisemitismus von links" an. In der israelischen Presse ging er noch einen Schritt weiter: Boehm und andere, so Prosors Vorwurf dort, betrieben eine „kulturelle Geiselnahme" am Holocaust, indem sie ihn „in einen universellen Kontext" einbetteten und seiner „jüdischen Züge" beraubten. 

Getarnt mit der Sprache der „Gerechtigkeit", der „Menschenrechte" und der „legitimen Kritik an Israel", werde hier der Holocaust relativiert und Israel als jüdischer Staat delegitimiert. Heute, angesichts des wachsenden Antisemitismus und des verheerenden Krieges in Gaza, müssen wir erkennen: Es ist keine kulturelle Geiselnahme, dem Holocaust eine universelle Bedeutung zuzumessen. Es ist eine vitale Entwicklung des Gedenkens hin zu Verantwortung. Der Horror des 7. Oktobers hat das Trauma Holocaust mit der Gegenwart verbunden und damit eine politische Atmosphäre befeuert, in der für Israel „alles erlaubt ist", um einen weiteren Holocaust an den Juden zu verhindern. Das müssen wir kategorisch zurückweisen. Nichts, was Israel den Palästinensern im vergangenen Jahrhundert zugefügt hat, rechtfertigt die Gräueltaten der Hamas, und nichts, was die Hamas getan hat, rechtfertigt Israels anhaltende Verwüstung im Gazastreifen. Ein Verbrechen wiegt ein anderes nicht auf. Die schrecklichen Taten der Hamas waren kein Holocaust. Und gerade weil wir den Holocaust erfahren haben, müssen wir mehr als alle anderen die ethischen v und rechtlichen Grenzen von Macht und Brutalität verstehen.

Doch stattdessen nutzen zu viele Israelis den Holocaust, um diese Grenzen aufzuheben. Wer die Universalisierung der Lehren aus dem Holocaust als Bedrohung der jüdischen Identität darstellt, verrät eine zentrale jüdische Tradition: Israels Gründer strebten in der Folge der biblischen Propheten eine Gesellschaft an, die von Gerechtigkeit geleitet wird und nicht von Militarismus oder Opferdenken. Prosors Artikel propagieren hingegen eine engstirnige, isolationistische Agenda, die das Gedenken als Waffe einsetzt, um das Unentschuldbare zu entschuldigen. Sich auf den Holocaust zu berufen, um sich gegen die Menschenrechte und das Völkerrecht zu stellen, ist keine Erinnerung es ist eine Form der Holocaust-Leugnung. Das Argument, dass es die Einzigartigkeit des Holocausts schmälere, wenn seine Lehren verallgemeinert würden, ist eine gefährliche Täuschung. Die Besonderheit des Holocausts des systematischen Völkermords am jüdischen Volk bleibt vollkommen unversehrt, wenn seine Lehren für Juden, Palästinenser und alle Menschen gleichermaßen universell angewendet werden. 

Wenn Prosor diejenigen, die die universelle Bedeutung des Holocausts anerkennen, beschuldigt, ihn seiner jüdischen Züge zu berauben, ist das eine Manipulation, die die Realität auf den Kopf stellt: Die jüdische Zivilisation hat die Menschheit immer wieder in ihren Bann gezogen, nicht aber sich selbst isoliert. Den Holocaust als Ereignis mit universeller Geltung zu verstehen, stärkt seinen Platz in der Geschichte der Menschheit und sichert seine Lehren für zukünftige Generationen. Prosor wirft anderen vor, die Erinnerung an den Holocaust zu politisieren. Doch er verkörpert selbst diesen Missbrauch. Seine Behauptung, die Ausweitung der Bedeutung des Holocausts bedrohe die Legitimität Israels, ist ein intellektueller Bankrott. Und während er den linken Antisemitismus anprangert, verbündet sich seine Regierung mit Figuren wie Marine Le Pen, Viktor Orbán, Matteo Salvini und Geert Wilders und legitimiert sie als Gäste in Yad Vashem. Enge Beziehungen zu Donald Trump und Elon Musk, Unterstützern der AfD, runden diese groteske Allianz ab. 

Sollen diese Leute für uns künftig die Erinnerung an den Holocaust definieren? Für uns, die wir aus Sorge um das Gedeihen Israels seit Monaten davor warnen, dass die Zerstörung des Gazastreifens und des Westjordanlandes untrennbar mit der Gefahr eines inneren Zusammenbruchs moralisch wie politisch verbunden ist? Sollen wir zulassen, dass diejenigen, die Le Pen und die AfD unterstützen, diktieren, dass die Verteidigung der Menschenrechte und des Völkerrechts linker Antisemitismus sind? Können wir diese Leute und ihren Botschafter als selbst ernannte Wächter über die deutsche und israelische Moral akzeptieren? Auf keinen Fall! Die Erinnerung an den Holocaust ist nicht das Privateigentum einer Gruppe. Sie ist ein lebendiges, sich entwickelndes Erbe. Im Laufe der Zeit muss die Erinnerung wachsen und für jede neue Generation Relevanz gewinnen. In einer Zeit des wiederauflebenden Antisemitismus ist die Monopolisierung des Holocausts kein Schutz sie ist Verrat. Seine Einzigartigkeit muss bewahrt werden, die Lehren aber müssen universell gelten. Nur so stellen wir sicher, dass niemand vergisst. 

Der Autor war Präsident der israelischen Knesset.                  

Sonntag, 25. Mai 2025

Männerphantasien

 Klaus Theweleit

"Diese Männer sind nicht zu Ende geboren"

Wir leben in einer undenkbaren Zeit, sagt der Kulturwissenschaftler Klaus Theweleit. Soldatische Körper, leere Sprache, dreiste Lügen: Da entsteht eine neue Wirklichkeit.

Interview: Lenz Jacobsen und Livia Sarai Lergenmüller

Aus: DIE ZEIT, 16. Mai 2025


Sein Buch "Männerphantasien" war ein Ereignis: Der Kulturwissenschaftler Klaus Theweleit hat 1973 als einer der Ersten den Zusammenhang zwischen Männlichkeit und Gewalt auch psychoanalytisch untersucht und damit den Diskurs bis heute geprägt. Seit dem russischen Angriff auf die Ukraine hat er sich kaum öffentlich geäußert. Jetzt empfängt uns Theweleit in seinem Haus in Freiburg zum Gespräch. Es wird um Trump und Putin gehen, um die Rückkehr der soldatischen Männlichkeit, um Incels – und die Frage, ob man diese Gegenwart überhaupt verstehen kann.

ZEIT ONLINE: Herr Theweleit, wir hätten Sie für dieses Interview gern fotografiert. Sie wollten das nicht. Warum?

Theweleit: Es ist gerade nicht die Zeit für solche Personenunterstreichungen. Vor ein paar Wochen war in der Süddeutschen Zeitung ein Interview mit Herfried Münkler, auf dem Foto ist er mit denkerischer Stirn zu sehen. In dem Gespräch trifft er lauter Voraussagen, was man von Putin erwarten kann, von Europa, von Trump. Willkürliche Einschätzungen, von denen die allermeisten wahrscheinlich nie eintreffen. Die Schrecken des Krieges, die fürchterliche Wirklichkeit, die zerfetzten Körper, die zerstörten Leben, die durch den Krieg zerstörten Gesellschaften kommen in dieser kühlen strategischen Rede nicht vor. Es ist so völlig unangemessen. Real ist an dieser Rede nur die maßlose Überschätzung der Eigenbedeutung des Redners. Das gilt genauso für die Fotos und die Äußerungen von Jürgen Habermas in derselben Zeitung ein paar Tage später.

ZEIT ONLINE: Sie stören sich an der Inszenierung und an der Selbstgewissheit?

Theweleit: Absolut. Am gesamten Sprachgestus, nicht nur bei Münkler und Habermas. In einem Zeitungskommentar schrieb ein Journalist neulich, "Putin spielt auf Zeit". Was sind das für irre Wörter? Wie zu einem Fußballspiel. Oder wie aus einem Politikseminar: Wir hören deutsche Politikerinnen, die in jedem Land der Erde verbreitet haben, dass zu Putins Krieg immer das Adjektiv "völkerrechtswidrig" gehört. Das ist das Bodenloseste überhaupt: Das Völkerrecht ist Gerede. Daran können sich Leute halten, die einmal der Menschenrechtscharta zugestimmt haben, die anderen aber interessiert das null, Putin, Trump oder Netanjahu. Die politischen Reden geschehen mit großer Selbstverständlichkeit im Irrealen. Und die sogenannten Experten reden ihnen hinterher, als hätten ihre Stimmen Weltbedeutung.

Klaus Theweleit: "Diese Männer sind nicht zu Ende geboren"

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ZEIT ONLINE: Wie ginge es anders, wie könnten wir anders über die Welt reden?

Theweleit: In Claude Lanzmanns Filmen zur Schoah kommt der polnische Offizier Jan Karski vor. Dem war es während des Zweiten Weltkriegs gelungen, sich in eines der Vernichtungslager der Nazis in Polen einzuschleusen. Er sah, was die Nazis dort anrichteten, und berichtete an die polnische Exilregierung in London. 1943 bekam er Audienzen, auch bei Franklin D. Roosevelt in Washington. Roosevelt leitete ihn weiter an einen seiner Berater, Felix Frankfurter, einen der obersten Richter der USA, einen in Wien geborenen Juden. Als Karski fertig war mit seinem Bericht aus den Vernichtungslagern, stand der Richter auf und sagte: "Junger Mann, ich glaube Ihnen nicht." Denn: Er kenne die Menschheit, das menschliche Gehirn. Er sage nicht, dass Karski lüge, "ich sage, dass ich ihm nicht glaube". Als Karski Jahrzehnte später im Film Lanzmann davon erzählt, fügt er dem hinzu, wie zur Entschuldigung Frankfurters, dass er es selbst immer noch nicht glaube, obwohl er es gesehen habe. Niemand auf der ganzen Welt habe das glauben können.  

ZEIT ONLINE: Wir kommen nicht ganz mit. Warum erzählen Sie uns diese Geschichte?

Theweleit: Wegen des Schlusses, den Claude Lanzmann mit Karskis Hilfe daraus gezogen hat. Die Reaktion des Richters Frankfurter ist ihnen der Beleg dafür, dass es den Nazis tatsächlich gelungen war, jenen "neuen Typ Mensch" zu schaffen, von dem sie dauernd redeten. Mit den Nazis sei ein neues Denken und Handeln in die Welt gekommen, das man vorher nicht für möglich gehalten hätte. Es war zu unfasslich. Es legte das Handeln lahm und ließ das eigene Hirn daran zweifeln, was die Augen gesehen hatten. Mir scheint im Moment in der Welt etwas Ähnliches zu passieren. Was Trump und Putin und andere Potentaten tun, wie die reden – ich zum Beispiel habe das nicht für möglich gehalten.

“Daraus folgt, dass wir nicht so tun sollten, als könnten wir das alles, was um uns herum abläuft, verstehen und erklären wie den Lauf von Billardkugeln.”

ZEIT ONLINE: Und was folgt daraus?

Theweleit: Daraus folgt, dass wir nicht so tun sollten, als könnten wir das alles, was um uns herum abläuft, verstehen und erklären wie den Lauf von Billardkugeln. Ich habe am Abend vor Putins Überfall auf die Ukraine in einer Diskussion in einem Buchladen hier in Freiburg gesagt: Das macht er nicht, das ist ausgeschlossen. Und morgens um sieben sagt mir meine Frau, ich solle Radio hören. An meiner Einschätzung stimmte nichts. Das sagt doch etwas aus über die Mängel der eigenen Wahrnehmung.

ZEIT ONLINE: Sie haben sich deshalb seitdem drei Jahre lang kaum öffentlich geäußert. Jetzt aber geben Sie uns dieses Interview. Warum?

Theweleit: Ich möchte zumindest die Frage stellen, ob sich mit der Spezies Mensch nicht gerade wieder etwas vollzieht, wie in der Geschichte von Karski, das unsere Auffassungsmöglichkeit übersteigt. Und ob die floskelhafte und bescheidwisserische Sprache, in der öffentlich gesprochen wird, uns nicht eher im Weg steht. Politiker und andere tun so, als wüssten sie, wovon sie reden. Sie wissen es meist nicht.

ZEIT ONLINE: Wir haben eigentlich den Eindruck, dass das, was Sie vor fast 50 Jahren in Ihrem Buch Männerphantasien geschrieben haben, auch verstehen hilft, was heute passiert. Besonders das erneute Auftrumpfen einer bestimmten Form von gewalttätiger Männlichkeit. Wir haben Ihnen ein Bild mitgebracht, das Elon Musk gepostet hat.

Das erinnert uns sehr an die "Panzermenschen", die Sie in Männerphantasien gezeigt und beschrieben haben.


Theweleit: Ja, das ist sehr ähnlich. Ohne massive Gewaltanwendung könne man auch nicht friedlich sein, sagt Mr. Musk. So wie der Körpertyp, um den es hier geht, immer behauptet, aus Notwehr zu handeln – weil der Rest der Welt ihm den Platz zum Leben nimmt und seine Körperlichkeit zu zerstören droht. Sein Körper droht ständig zu fragmentieren. Wogegen er sich zu panzern versucht. Seine Daseinsweise ist Gewalt.

ZEIT ONLINE: Was meinen Sie mit fragmentierendem Körper?

Theweleit: Diese Männer sind, wie ich das nenne, "nicht zu Ende geboren".

"Das ist das angstbesetzte Männlichkeitsprinzip"

ZEIT ONLINE: Wir Menschen kommen alle unfertig auf die Welt.

Theweleit: Aber wie man sich dann entwickelt, ist bei jedem verschieden. Ein Babykörper, der freundlich behandelt wird, entwickelt das, was die Psychoanalyse die libidinöse Besetzung der Haut nennt, der eigenen Außengrenze; durch Berührung, durchs Gehaltenwerden, durchs Füttern. Diese Erfahrungen ermöglichen es kleinen Kindern, sich aus der Symbiose mit der Mutter herauszuentwickeln. Das Kind lernt, sich als ein von der Umwelt und anderen Menschen unterschiedliches Selbst wahrzunehmen. Es entwickelt ein Gefühl für die eigenen Grenzen. Es wird ein Ich. Wenn man geprügelt wird, kaltgelassen, nicht regelmäßig gefüttert oder anders abgelehnt wird, gelingt das nicht.

ZEIT ONLINE: Was passiert dann?

Theweleit: Dann flüchtet man vor diesen intensiven und negativen Reizen nach Innen. Der Körper füllt sich mit Ängsten, die nicht nach außen abführbar sind. Das ist das angstbesetzte Männlichkeitsprinzip, das ich beschrieben habe. Deshalb versuchen sich diese Männer, einen Panzer zu bauen, und deshalb sprechen diese Männer immer in Notwehr. Ihr Hauptmittel der "Kommunikation" wird Gewalt. Die Selbstpanzerung ersetzt ihr Ich.

ZEIT ONLINE: Auch bei Politikern.

Theweleit: Hitler redete nur in behaupteter Notwehr. Die ganzen Dreißigerjahre hindurch sagte er, Deutschland sei zerschnitten worden. Elsass-Lothringen, Saarland und Nordschleswig weg, Oberschlesien weg und polnischer Korridor. Das sollte alles wieder dran sein, eine Körperganzheit werden. Die Nazis haben ihre Deutschlandkarten mit dicken Rändern gezeichnet: Deutschland ausgeschnitten aus der Welt. Dann fügten sie einen Teil nach dem anderen wieder an: Saarland, Nordschleswig, polnischer Korridor, Oberschlesien, Münchner Abkommen. Und als er so weit war, griff Hitler Polen an. "Make Germany Great Again" war das Programm. Mit Österreich dran war der Körper dann komplett, "heil". Was Trump jetzt erzählt, mit der Bay of America, Grönland, Gaza oder Panama, ist etwas sehr Ähnliches.

“Männer weltweit sind nach wie vor eine Spezies, die Leute hervorbringt, die Lust am Töten haben.”

ZEIT ONLINE: Sie skizzieren in Männerphantasien das, was Sie "soldatische Männlichkeit" nennen. Beobachten Sie seit dem Überfall Putins auf die Ukraine und der Aufrüstung in Europa eine Rückkehr dieser Form von Männlichkeit?

Theweleit: Natürlich, das ist leicht zu sehen und läuft schon seit spätestens dem jugoslawischen Zerfallskrieg in den 1990er-Jahren. An den Befunden ist nicht viel zu ändern: Die Töter töten, die Vergewaltigungen geschehen, Opfer sind überwiegend Zivilisten. Die Zahl der Femizide steigt. Männer weltweit sind nach wie vor eine Spezies, die Leute hervorbringt, die Lust am Töten haben. Auch der Terror der Hamas fügt dem nichts hinzu, was wir nicht schon an anderer Stelle gesehen hätten. Wer all dies kennen will, kennt das. Wechselnd ist die Intensität, mit der der Horror abläuft in den verschiedenen Weltteilen. Über Krieg habe ich dabei nie geschrieben. Sondern über Gewalt von bestimmten Männern. Über die Lust an der Gewalt und die Lust am Töten. Die ist nicht an den Krieg gebunden.

ZEIT ONLINE: Was macht diese Lust aus, warum ist gerade das Militär so attraktiv für die Sorte gewalttätiger Männer, die Sie beschreiben?

Theweleit: Vielen dieser Männer mit den angsterfüllten Körpern hilft das Militär. Sie genossen und genießen seine Zwangsstruktur. In Deutschland bis 1945 galt das Militär als Stätte männlicher Neugeburt. Es half, aus der als negativ empfundenen Verbindung mit dem Prinzip Weiblichkeit herauszukommen. Der Typ, der sich panzert, wandelt die körperlichen Symbiosen in Hierarchien um. Das ist der Grundprozess des sogenannten faschistischen Handelns. Alles, was mal symbiotisch war, alles was in Beziehungen wurzelte, wird in ein abgestuftes, hierarchisches Gesellschaftsprinzip umgewandelt. Das geht, wie wir jetzt lernen, auch ohne Militär.

“Wir haben es aber zu tun mit Menschen, die sozusagen körperlich antidemokratisch sind.”

ZEIT ONLINE: Die klaren Hierarchien ersparen mühsame Beziehungsarbeit.

Theweleit: Die ja eine Arbeit unter Gleichen sein sollte. Wir haben es aber zu tun mit Menschen, die sozusagen körperlich antidemokratisch sind. So viel kann man sagen. Sie bauen zwanghaft ihr Leben lang an der Unverletzlichkeit ihrer Körpergrenzen. Ihr Panzer wird brüchig, sobald komplizierte Situationen an den Körper herankommen. Dazu gehören Forderungen von Frauen, dazu gehört auch die Erotik. Jede differenzierte Wirklichkeit bedroht sie sofort, alles um sie herum soll genau so funktionieren, wie sie sich das zwanghaft vorstellen. Deshalb kommt dann bei den Incels raus: Keine Frau genügt meinen Ansprüchen.

ZEIT ONLINE: Ausgangspunkt ihrer Analyse in Männerphantasien waren die Aufzeichnungen von Freikorpskämpfern in den 1910er- und 1920er-Jahren. Das ist nun hundert Jahre her. Seitdem hat sich doch einiges verändert, Jungs werden anders erzogen, einfühlsamer, liebevoller.

Theweleit: Natürlich, da hat sich ungeheuer viel verändert! Mein Vater sagte noch: Wer seine Kinder liebt, züchtigt sie. Das stehe in der Bibel. Das war der einzige Satz, den er je aus der Bibel zitierte. Meine Generation musste aber nicht mehr zum Militär. In den Fünfziger- und Sechzigerjahren haben wir als Jugendliche einen spezifischen Blick entwickelt. In der Stadt flanierend, von Flipperhalle zu Flipperhalle, sagten wir: "Sieh mal den da drüben. In welchem KZ der wohl Wächter war." Das war unser Blick auf "die Alten". Dann kamen in den Sechzigern und Siebzigern politisch der Antikolonialismus dazu, der Feminismus und die Ökos. Durch all das ist der Giftpegel, wie ich das nenne, bei uns deutlich gesunken.

ZEIT ONLINE: Aber jetzt steigt er wieder.

Theweleit: Ja, jetzt steigt der Giftpegel wieder.

ZEIT ONLINE: Wie erklären Sie sich das?

"Rechts aus Verlassenheit"

Theweleit: Erklären wäre zu viel gesagt. Aber es könnte die Reaktion auf ein Vakuum sein. Es passiert ja nicht zum ersten Mal. Thomas Heise hat in den Neunzigern den Dokumentarfilm Stau gemacht, über rechte Jugendliche in der Ex-DDR, in Halle-Neustadt. Die liefen durch die Straßen und grölten rassistische Parolen. Viele waren Kinder alleinerziehender Mütter, die mit der sogenannten Wende die Strukturen verloren, die sie sich in der DDR aufgebaut hatten. Diese Jungen kamen nicht aus dem Militär, hatten nicht die prügelnden Väter erlebt wie die Freikorpsleute. Einige waren arbeitslos, mit 16, suchten eine Stelle, bestanden eine Prüfung nicht, flogen raus, hatten nichts. Vorher gab es in der FDJ immer jemanden, den sie ansprechen konnten, sagt einer. Dieses Gerüst fiel weg. Manche waren aus Überzeugung rechts, andere aber waren rechts aus Verlassenheit, weil sie in einem Vakuum waren.

ZEIT ONLINE: Und dieses Vakuum füllten dann Neonazis.

Theweleit: Westdeutsche Neonazirechte, die sich um die Jugendlichen kümmerten. Während der "liberale Westen" ihre Jugendzentren dichtmachte. Diese Jugendlichen sind heute im guten AfD-Alter.

ZEIT ONLINE: Auf welches Vakuum ist dann der jetzige maskuline Backlash eine Reaktion?

Theweleit: Das Vakuum ist an verschiedenen Stellen der Welt und zu verschiedenen Zeiten ein anderes. Wir sollten nicht glauben, wir könnten alles mit einer Sache erklären. Im neuen Nachwort der Männerphantasien habe ich Untersuchungen von Shereen El Feki an arabischen jungen Männern aus Ägypten, dem Libanon, Marokko und Palästina zitiert, die sich regelrecht "entmannt" fühlen, wenn sie keinen Job haben. Sie sollen ihre Familie ernähren, können es aber nicht. Sie fühlen sich im Geschlechtsteil bedroht, sprechen tatsächlich von Kastration. Das ist in unserer Kultur nicht ganz so krass.

ZEIT ONLINE: Auch in westlichen Ländern ist das männliche Versorgermodell auf dem Rückzug, alte Industriejobs gehen verloren, Jungs schwächeln in der Schule. Das sind ja reale Erfahrungen. Bei der Bundestagswahl war die AfD bei Männern zwischen 35 und 44 Jahren die stärkste Partei.

Theweleit: Ja, aber ich vermute mittlerweile, man kann von der Struktur der laufenden Entwicklungen am ehesten etwas wahrnehmen, wenn man auf das große Wort "verstehen" verzichtet. Das Eingeständnis, dass wir es mit etwas Ungewohntem zu tun haben, womöglich mit einer neuen Art Wirklichkeitsauffassung, wäre angemessener.

ZEIT ONLINE: Neue Art der Wirklichkeitsauffassung – was meinen Sie damit?

Theweleit: Ich habe die angstbesetzte, gewalttätige Männlichkeit beschrieben. Denken Sie an den Attentäter von Halle: Als es ihm nicht gelingt, die Tür zur Synagoge aufzubrechen, beschimpft er sich selbst als Flasche, die wieder mal alles verkackt hat. Dabei filmt er sich. Aber das, was jetzt passiert, was Trump, Putin oder auch Le Pen oder Weidel machen, das hat eine Seite, die angstfrei scheint. Eine neue Sorte auftrumpfender Überlegenheit. Das zieht Leute an. Sie lügen und betrügen völlig unverblümt, sie verdrehen alles, wie es ihnen passt, und sie sind sicher, dass ihre Anhänger genau das wollen. Es ist ein Sprung in eine neue Art des Umgangs mit der Wirklichkeit.

“Man hört sie immer dasselbe sagen, als seien wir alle schwer von Begriff.”

ZEIT ONLINE: Für die Ihnen aber noch das Instrumentarium fehlt, die Sprache?

Theweleit: Ja, die Sprache, die ich allenthalben höre, fasst es nicht. Das ist wie bei den Quantenphysikern, die keine Worte mehr finden für die Fähigkeiten der neuen Computergenerationen, die sie erfinden. Gottfried Benn schrieb, unsere Sprache sei hinter der tatsächlichen Entwicklung der Menschheit weit zurück. Auch deshalb wirkt das Gerede von Politikern heute so formelhaft. Man hört sie immer dasselbe sagen, als seien wir alle schwer von Begriff. Diese Sprache ist auch eine Art Panzer, der vor dem schützt, was schon real ist, aber was man nicht beschreiben kann oder will. Ich bin allerdings in der glücklicheren Lage, mich nicht äußern zu müssen. Diese Freiheit haben die Politprofis nicht.

ZEIT ONLINE: Das Spektakuläre an den Männerphantasien war, dass es Ihnen gelang, mithilfe der Psychoanalyse eine neue Sprache für männliche Gewalt zu finden. Was ist in der jetzigen Phase psychoanalytisch das Neue, was gibt es hinter den Ideologien zu entdecken?

Theweleit: Es gibt Neues zu entdecken, wenn man die Elektronik miteinbezieht. Eine riesige Masse von Leuten, die vorher im Dunkel saßen, können sich heute übers Netz verbinden und für jede Scheiße, die sie schreiben, Millionen Klicks und eine imaginäre Macht kriegen, die sich politisch in Wirklichkeiten umsetzen lässt. Auch die Strategie Flood the zone with shit geht nur dank der Elektronik. Man darf über jeden irgendeinen Blödsinn verbreiten, vollkommen egal, ob das stimmt, und kommt damit durch.

ZEIT ONLINE: Warum?

Theweleit: Weil zum Beispiel die Fernsehmoderatoren völlig hilflos damit umgehen. Die glauben noch, wir könnten mit solchen Leuten argumentieren. Jedes Mal wieder reden sie auf die ein und rechnen denen vor: Das stimmt doch nicht, was Sie sagen, Frau Weidel. Aber man kann doch nicht mit Leuten argumentieren, die erstens wissen, dass es nicht stimmt, was sie erzählen, und die zweitens triumphieren, dass sie damit durchkommen. Sie wissen, dass ihre Anhänger das, was andere "Argumente" nennen, lächerlich finden.

“Man kommt nicht umhin, heute das Elektronische als Körperteil wahrzunehmen.”

ZEIT ONLINE: Wie kommt es zu diesem neuen Denken und was haben die elektronischen Medien damit zu tun?

Theweleit: Man kommt nicht umhin, heute das Elektronische als Körperteil wahrzunehmen. So wie in den Jahrhunderten zuvor das Maschinelle zum Teil unserer Körperlichkeit wurde. Die Elektronik verändert früh die Gehirne, verschaltet die Synapsen anders. Das kann man mittlerweile neurologisch nachweisen. Ich bin nicht etwa gegen Elektronik, im Gegenteil. Die Bekämpfung des Klimawandels geht nur unter Anwendung neuester Technologien. Aber meiner Frau, mit ihrem Blick als Psychoanalytikerin auch für Kinder, fallen dauernd Kinder auf, die schon im Kinderwagen einen Monitor in der Hand haben. Angeschoben von Eltern, die am Handy hängen. Auch da entsteht so etwas wie ein Beziehungsvakuum.

"Das geht nur mithilfe von Frauen"

ZEIT ONLINE: Junge Männer scheinen auch davon besonders betroffen, sie orientieren sich im Digitalen teils an Vorbildern, die man heute toxisch nennt. Für sie bräuchte es doch ein Angebot, eine attraktive Männlichkeit, in die sie hineinwachsen können, die weder gewalttätig ist, noch einfach nur in der Übernahme weiblich konnotierter Eigenschaften besteht.

Theweleit: Man muss dafür keine feminisierten Rollen annehmen. Wieso sollte das Kümmern um Kinder nur eine weiblich konnotierte Eigenschaft sein? Meine Frau und ich haben uns die Kinderbetreuung geteilt, beide mit Halbtagsjob, sie als Psychologin in der Kinder- und Jugendpsychiatrie, ich als Halbtagsschriftsteller. Das war gut machbar. Es ist nur schlecht für die Rente, sonst war das prima. Zur männlichen Selbstverpflichtung gehört es in meinen Augen, die in den eigenen Körper eingegangenen Gewaltformen zu bemerken und sich davon zu entfernen, sie abzubauen – so etwas wie die zivilisierende Aufgabe für Männlichkeit heute. Das geht nur mithilfe von Frauen.

ZEIT ONLINE: Das ist auch ihre persönliche Erfahrung?

Theweleit: Ich war als Junge ein ziemlich cholerischer Typ und habe mich dauernd geprügelt. Fußball half schon mal, aber wenn ich ein einigermaßen aushaltbarer Mensch geworden sein sollte, geht das überwiegend auf Frauen zurück.

“Das einzelne Subjekt aber gibt es nicht, das ist eine historische Schimäre.”

ZEIT ONLINE: Aus eigener Kraft kann der Mann es nicht schaffen.

Theweleit: Man sollte immer davon ausgehen, dass ein Mensch nicht alleine existiert. Die Zahl eins wäre zu streichen. Philosophen und Historiker gehen immer von der Zahl eins aus: Das Hirn denkt, das Subjekt agiert. Das einzelne Subjekt aber gibt es nicht, das ist eine historische Schimäre. Das Subjekt beginnt zwischen Zweien; dann Dreien, Vieren – die Konstellation ist erweiterbar. 

ZEIT ONLINE: Sie meinen, man steht immer in Beziehung zu anderen.

Theweleit: Ja, und wenn man diese Beziehungen abschneidet, wie es bei den bekannten Attentätern gut belegt ist, endet das in Gewalt. Menschen können sich überhaupt nur durch Beziehungen verändern und entwickeln. Man selbst bildet sich ja alles Mögliche über die eigene Struktur ein, das bedeutet aber nichts.

ZEIT ONLINE: Was bedeutet das für die Politik? Gibt es beispielsweise einen Umgang mit der Bedrohung durch Russland, mit der Möglichkeit eines Krieges, der nicht in die alten Muster soldatischer Männlichkeit zurückfällt?  

Theweleit: Das Erste wäre, zu begreifen, dass die eigene Redeposition keine Machtposition ist. Das, was wir ins Private oder ins Literaturhaus hineinreden, kümmert sonst ja keinen Menschen. Das halten die meisten Leute schon nicht aus. Sie wollen, dass das, was sie sagen, bedeutungsvoll ist. Darin steckt der Anspruch einer Machtausübung, der leicht dazu führt, dass alles, was diese Machtausübung stört, unterdrückt wird; zum Beispiel andere Positionen oder die leidigen, sogenannten Widersprüche, die als störend empfunden werden und verschwinden sollen.

ZEIT ONLINE: Sie meinen die ganze performative Kriegsdiensterklärung, Promis, die sagen: "Ich würde kämpfen!"

Theweleit: Furchtbar! Ebenso wie diese Männer und auch Frauen, die aus ihren Talkshowsesseln heraus Waffen und Bomben fordern. So zu sprechen, finde ich, um es freundlich zu sagen, gedankenlos. Wenn man mal mit dem Nachdenken anfinge, würde man feststellen, wie tief man in den sogenannten Widersprüchen feststeckt. Ich kann sagen: Ich bin absolut gegen den Krieg. Was Putin tut, wird an dieser Haltung nichts ändern. Trotzdem hat die Ukraine natürlich das Recht, sich zu wehren. Und sie brauchen Waffen dafür, irgendwer muss ihnen die geben. Das widerstrebt vollkommen dem, was ich als absoluter Kriegsgegner denke. Ich gehe aber deshalb nicht auf die Straße und halte Transparente hoch mit der Aufschrift "Keine Waffen für die Ukraine". Passiver Widerstand zum Beispiel wurde nicht einmal erwogen. Solche Gemengelagen sind voller Widersprüche, sie sind nicht mit irgendeiner Logik auflösbar.

ZEIT ONLINE: Gilt das auch jenseits des Ukrainekriegs?

Theweleit: Ja. Die Hamas will Israel auslöschen, Netanjahu die Hamas. Das heißt, diese Lage ist ein unlösbares Problem. Das dauerpräsente Allmachtsgerede, das auch dazu beinahe alle Medien durchzieht, das so tut, als hätte es Lösungen, löst nichts.

ZEIT ONLINE: Wie hält man das aus?

Theweleit: Nicht irre zu werden an der "Konstruktion Mensch" ist schon eine ziemliche Kunst. Man kann von der Psychoanalyse unter anderem lernen, sich mit der eigenen tatsächlichen Ohnmacht vertraut zu machen. Denken wir noch mal an die Geschichte von Karski. Hitler und Eichmann waren nicht zu stoppen, schlossen Karski und Lanzmann, da kein real existierender Mensch es glauben konnte, was die betreiben. An solche Verschiebungen im Realen kommt man nicht heran, indem man einer Partei beitritt oder sowas. Das funktioniert alles nicht. Es geht nur über die Art des Zusammenlebens. Das ist meiner Meinung nach ein wirklicher, für die einzelnen Menschen gangbarer Weg. Es gibt doch genug Vernünftiges und Hilfreiches, was man im Alltag tun kann, in aufmerksamen Lebensabläufen, und in dem, was man schreibt und sagt. Ich muss mir dabei nicht einbilden, ich könnte einen Putin oder einen Trump bekehren. Die können mich mal. Oder nein: besser nicht zu nah ranlassen.



Samstag, 24. Mai 2025

Höre Israel!

 Elfriede Jelinek

Auf ihrer Website hat sie am 2.April 2025 folgenden Text veröffentlicht:

"Höre, Israel!
Ich versuche das für mich große Wagnis, an Stelle eines reflexhaften und auch ausgehöhlten, formelhaften Kampfs gegen Antisemitismus, der jedoch leider immer noch sehr nötig ist, alle Opfer des Gazakrieges in den Blick zu nehmen. Ich versuche es, hier, es ist ja nur geschrieben, Geschriebenes tut niemandem weh:
Schmerz verheißen dagegen breitbeinige Herrenmenschen in palästinensischen Siedlungen, mehr Einschüchterung geht von keinem Körper aus, der irgendwo steht, doch dieser Körper steht im Irgendwo, in fremdem Leben, auf fremdem Grund.
Wir aber hangeln uns von einer Antifaschismus-Demo zur nächsten, schleppen uns im Chor der Gleichgesinnten, die nur auf Gutes sinnen, über die Straßen. Von irgendwoher schreit eine Gegendemonstration, aber wir stehen bomben-fest auf unserer anständigen Gesinnung, die ausnahmsweise wirklich anständig ist, sich nicht nur als solche herausgeputzt hat. Wir meinen es ernst und ehrlich, wir meinen es gut mit allen Seiten, aber mit einer etwas mehr, sehr viel mehr. Israel muß leben, die Palästinenser soll man aber auch leben lassen. Haben wir nicht große Opfer aufeinandergehäuft, indem wir große Teile der europäischen Judenheit (na ja, es waren unsere Eltern und Großeltern, die das getan haben, doch wir nehmen sie auf uns, vor Rechtschaffenheit in diesem kollektiven schuldhaften Wir) vernichtet haben wie Ungeziefer? Wir stehen zurecht da, auf sicherem Grund, den wir uns aber durch kein Opfer verdient haben, den uns aber auch niemand streitig macht, sonst würden wir nicht immer wieder und zu Recht, es ist unsere Pflicht! aufstehen gegen Rechts und Antisemitismus, wir sind dabei! Wir sind da immer dabei, wie die lieben Soletti-Salzstangerln!
Dienen sollen diesem edlen Ziele andre, wir sind ja nicht dort, sondern hier, und zahlen sollen sie auch noch, mit der Zerstörung ihrer Häuser, der Schleifung ihrer Siedlungen, dem Tod von Zehntausenden, mehrheitlich Frauen und Kindern. Für unsere philosemitische Symbolpolitik, in der wir uns wohlig einrichten, wir sind ja die Guten, ist das ganz schön viel Arbeit. Zum Glück müssen wir sie nicht machen. Immer andere müssen es machen.
Doch der moralische Schutzwall, den wir, um unserer, der Nachgeborenen Rechtschaffenheit auch ordentlich zu beweisen (und uns bequem darin zu suhlen, gestorben wird ja woanders), errichtet und, wenn es um nichts geht, für uns geht es ja auch um nichts!, schön geschmückt und mit unserem Eifer bemalt haben, dieser Wall muß teuer bezahlt werden: Siedlerkolonialismus unter Mißachtung von Völkerrecht und Menschenrechten, ethnische Säuberung für ein gelobtes Land, das allen Juden gehört, ja, allen, aber sonst niemandem, egal, wer vorher dort gelebt hat. Die noch da sind, müssen alle weg. Die jetzt noch woanders sind, sollen kommen. Sie allein gehören dort hin, sonst niemand, höre, Israel! Du bist Alleinherr! Der Ewige, unser Gott, ist eins. Wir sind uns doch einig? Nur einer, nur unsrer soll es sein, und hier in diesem geschundenen Land soll er wohnen.
Israel ist, verglichen mit den arabischen Despotien, ein demokratisches Land mit freien Wahlen, und die Politik eines verbrecherischen Bibi (was für ein netter Kosename!) Netanyahu wird wohl nirgends so bekämpft wie in Israel selbst, von Demokraten, die gegen diese rechtsextreme Regierung aufstehen, immer wieder. Und nur diese Menschen, die da auch über die Straßen ziehen, wie wir, haben das Wohl der Geiseln im Auge, die es ja noch gibt, wer weiß, ob sie noch leben. Hauptsache, Bibi sitzt fest im Sattel!
Doch der Inhalt einer einzigen Internetausgabe der israelischen Tageszeitung Haaretz reicht aus, um den Bogen von den historischen Plänen zur Annexion Gazas (unter "Ausdünnung" seiner Bevölkerung) nach dem Sechstagekrieg, die jetzt, zum heuchlerischen Erstaunen der Öffentlichkeit, Realität zu werden drohen, bis zu den Vertreibungsphantasien und der entsprechenden Kriegsführung der Regierung Netanyahu zu spannen.
Und dazu die faktisch bedingungslose Israel-Solidarität Deutschlands und Österreichs, der ehemaligen Täterländer, die aber mit immer größer werdenden wirtschaftlichen Interessen auftreten (Kurz-und-Klein-Schlagen nehmen die Profiteure in Kauf, sie müssen ja nicht um Boden kämpfen, der Boden wird ihnen schon fertig aufbereitet und serviert für ihre Geschäfte und die andrer. Irgendwann werden hier Luxushotels stehen! Wer könnte das nicht wollen!). Die von den Nazis zerstörten Leben der europäischen Juden werden als neue Währung auf den Tisch der Geschichte geworfen, diesmal zahlen andre, darunter eine Unzahl genauso Unschuldiger. Hören Sie: Nicht alle Palästinenser sind Hamas-Sympathisanten, nicht alle Palästinenser setzen auf einen Terror, der ja auch gegen sie ausgeübt wird.
Die faktisch bedingungslose Solidarität mit Israel als Doktrin der Außenpolitik unserer Länder, die zur Staatsräson erklärt wurde, das ist aus dem berühmten, aber leeren "Nie Wieder" geworden, eine leere Schrapnellhülle, ein mit Bombenteppichen belegter Boden, auf dem nichts mehr wächst und nichts mehr aufsteht, aber unseren rechtschaffenen Bürgern, die auf der richtigen Seite sind, wie immer, die Füße wärmt.
Wir, die es wagen, sowas und ähnliches zu schreiben, sollten uns, an Stelle einer nur reflexhaften, geschichtsgeblendeten und unreflektierten "proisraelischen" Position der Politik und Öffentlichkeit unserer Länder, besser an der Seite der verzweifelten Bemühungen israelischer Menschenrechtsgruppen wie z.B., des israelischen Informationszentrums für Menschenrechte in den besetzten Gebieten stellen, die unausgesetzt ignoriert oder desavouiert werden.
Bis auch noch die letzte Geisel tot ist. Von den immer noch schmachtenden Geiseln ist nämlich immer weniger die Rede, als hätten sie sich alle in Luft aufgelöst. Wie die europäische Judenheit im Rauch der Konzentrationslager. In der Vergangenheit haben immer wieder Politiker (Kreisky, Brandt und wenige andre) versucht, dieser geschundenen Region Frieden zu verschaffen. Dem Frieden dienen wir derzeit nicht.
Der ist offenbar derzeit nicht zu schaffen ohne Waffen. Aber Frieden wird er sich dann nicht mehr nennen dürfen. Er muß aber zu schaffen sein, endlich ohne Waffen."
Veröffentlicht am 02.04.2025 auf elfriedejelinek.com

Freitag, 9. Mai 2025

Populistische Kulturpolitik

Valeria Heintges

Bedrohen, einschüchtern, absetzen und totsparen

Was droht der Kultur, wenn populistische Regierungen das Sagen haben? Ein Blick in die USA, nach Ungarn, Deutschland – und in die Schweiz.

Aus: Republik, 12.04.2025


Die neuen Führer grüssen von der Wand des John F. Kennedy Center for the Performing Arts in Washington. Links ein Porträt von Donald Trump. Daneben Melania, die sich resolut auf einem Tisch abstützt. Rechts daneben Vize­präsident J. D. Vance. Und schliesslich Usha Vance, drapiert vor einer amerikanischen Flagge.

Das Präsidenten- und das Vizepräsidenten­paar der USA. Und gleichzeitig die Leitungs­ebene, von rechts nach rechts aussen: der Vorsitzende des Kuratoriums, die Ehren­vorsitzende und, neben dem Ehemann, ein Mitglied des Kuratoriums.

Es war eine Nachricht, die die Welt erstaunte: Am 10. Februar entliess Donald Trump David Rubenstein, den Chairman des grössten amerikanischen Kultur­zentrums, und machte sich selbst zu dessen Nachfolger; er ernannte Richard Grenell zum neuen Interims­präsidenten und 14 neue Kuratoriums­mitglieder. Darunter Stabs­chefin Susie Wiles und Usha Vance, die Frau des Vize­präsidenten. Die meisten Demokraten im Komitee wurden entlassen, ebenso die noch amtierende Präsidentin Deborah Rutter.

Doch alarmierende Nachrichten kommen längst nicht nur aus den USA.

Der Kulturkampf von rechts findet nicht erst irgendwann in ferner Zukunft statt, sondern jetzt (…). Sein Ziel ist nicht allein, Feindbilder zu schaffen und Ressentiments zu bedienen – er richtet sich letztlich gegen die Aufklärung, die Menschen­rechte und die universelle Idee der Gleichheit aller Menschen.


Die Sätze aus der Broschüre «Alles nur Theater? Zum Umgang mit dem Kultur­kampf von rechts» stammen von 2019. Sie beschreiben einen Trend, der in Deutschland seit Jahren andauert und mit den Wahl­erfolgen der rechts­populistischen AfD an Dynamik gewinnt.

Die Kultur wird angefeindet. Nicht nur in den USA oder in Deutschland, sondern weltweit. Zum Beispiel in Argentinien, Russland, Serbien, im Iran, in der Slowakei, in Bulgarien.

«Kultur ist immer das erste Opfer rechter Regierungen», sagte der Schweizer Theater­macher Milo Rau letztes Jahr im Republik-Interview. Rau selbst erlebte die Folgen erst als Theater­leiter in Belgien. Und jetzt fürchtet er sie als Festival­chef in Österreich. In all diesen Ländern versuchen rechte und vor allem rechts­extreme Regierungen, die Opposition zu ersticken.

Und deshalb begrenzen sie zuerst die Macht der Kultur. Weil sich Kultur­betriebe für eine offene, diverse Gesellschaft engagieren, abwägend und diskussions­freudig Debatten offenhalten; weil sie tendenziell in Opposition zur Regierung stehen und sich für die Rechte von Minder­heiten einsetzen.

Rechtspopulistische Politik bedroht alle Kunst­sparten und viele Kultur­institutionen. Aber immer wieder stehen Theater im Kreuzfeuer der Anfeindungen. Sie sind besonders gefährdet, weil sie nur überleben, wenn sie staatlich subventioniert werden. Um ihre Arbeit zu behindern und langfristig unmöglich zu machen, müssen ihre Gegnerinnen ihnen nur die Zuwendungen streichen. Oder mit einer Politik der Nadel­stiche wie in der Schweiz deren Sinn, Zweck und deren Höhe immer wieder neu infrage stellen:

Deshalb kämpft die SVP einerseits gegen die Aufblähung der Kultur­bürokratie und andererseits gegen ideologisch motivierte, einseitige Förder­massnahmen, welche die aktuelle Kultur­politik prägen. Dasselbe gilt für unverhältnis­mässige Veranstaltungen, die nicht auf eine Nachfrage der Bevölkerung reagieren.

Aus dem SVP-Parteiprogramm.

Eine offene Kultur­gesellschaft stirbt nicht über Nacht. Aber Attacken wie in den USA überlebt sie nicht lange.

Es dauerte allerdings auch in Ungarn Jahre, bis die Kultur­betriebe ausgehöhlt waren. Heute kann man dort besichtigen, was übrig bleibt, wenn Populisten an die Macht kommen. Von ungarischen Verhältnissen sind Deutschland und die Schweiz noch weit entfernt. Noch.

1. USA: Kunst in Gefahr

Musicals, Musicals, Musicals. Und Auszeichnungen an Sportler. Das ist in etwa das Kultur­programm, das Donald Trump für das Kennedy Center vorschwebt. «Das Beste aus den Vierzigern bis Neunzigern, nichts von heute», fasste «Die Zeit» zusammen.

Das Kennedy Center wurde 1958 vom republikanischen Präsidenten Dwight D. Eisenhower geplant. Seine demokratischen Nachfolger John F. Kennedy und Lyndon B. Johnson führten die Idee fort. Das Kennedy Center for the Performing Arts ist einer der ganz wenigen nationalen Kultur­betriebe der USA – und war damit schnelle Beute für Donald Trump.

In einem Post auf seinem eigenen Social-Media-Kanal verhiess Trump, Richard Grenell würde seine Vision eines «GOLDENEN ZEITALTERS» der amerikanischen Kunst und Kultur teilen. Weiter hiess es: «NO MORE DRAG SHOWS, OR OTHER ANTI-AMERICAN PROPAGANDA – ONLY THE BEST. RIC, WELCOME TO SHOW BUSINESS!» (Keine Dragshows oder andere antiamerikanische Propaganda mehr – nur das Beste. Ric, willkommen im Show-Geschäft!)

In der Kulturszene wurde das als feindliche Übernahme gesehen und stiess auf breite Kritik, mehrere Künstlerinnen haben ihre Auftritte abgesagt, darunter Schauspielerin Whoopi Goldberg und Sängerin Rhiannon Giddens, die immer wieder auf die afro­amerikanischen Wurzeln der Country­musik hinweist.

Die neue Führung des Hauses cancelte derweil bereits diverse Vorstellungen, darunter eine Serie der Komödie «Eureka Day». Diese spiegelt die Diskussionen zwischen Lehrern und Eltern an einer privaten Grundschule wider, «die Inklusion über alles stellt» – bis ein Ausbruch von Mumps alle dazu bringt, «die liberale Impf­politik der Schule zu überdenken», wie es in der Ankündigung heisst. Als Grund für die Absage wurden finanzielle Probleme genannt. Das ist vorgeschoben: Das Stück lief kurz vorher erfolgreich am Broadway.

Noch immer heisst es im Credo des Kennedy Center, «Multi­kulturalismus ist einer der grössten Plus­punkte unseres Landes und seit Generationen die Seele unseres künstlerischen Ausdrucks». Man darf mutmassen, dass dieser Text demnächst geändert wird.

Denn das Wort multicultural steht auf der Liste der Wörter, die die Trump-Regierung laut einer Recherche der «New York Times» zum Verschwinden bringen will. Grob gerechnet zwei Drittel der fast 200 aufgeführten Wörter lassen sich mit den Programmen kritischer Kultur­betriebe verbinden: von activism oder anti-racism über climate crisis, cultural differences, diverse, female oder gender bis hin zu immigrants, inclusiveness, pronouns, transgender, underprivileged und women in Kombination mit under­represented. Die Begriffe tauchen bereits auf Tausenden Regierungs- und Behörden­websites nicht mehr oder deutlich weniger auf. Das ist Zensur. Kritische Stimmen reden sogar von «digitaler Bücher­verbrennung».

Längst hat sich Trump auch die anderen Künste vorgenommen. Bereits am ersten Tag seiner Präsidentschaft zog er die Executive Order – und 77 andere – zurück, mit der Präsident Joe Biden das «President’s Committee on the Arts and Humanities» wieder eingesetzt hatte. Es hatte bei politischen Entscheidungen und der Zusammen­arbeit mit dem privaten Sektor beraten.

Zudem will Trump Museen von «unangemessener Ideologie säubern» und die US-Geschichts­schreibung ändern; es habe in den letzten Jahren «konzertierte und weitverbreitete Versuche gegeben», die Historie umzuschreiben und Fakten durch ein verzerrtes Narrativ zu ersetzen, das eher von Ideologie als von Wahrheit bestimmt gewesen sei. (Dass eher das Gegenteil wahr ist und diese Verdrehung der Tatsachen Teil der Strategie ist, steht auf einem anderen Blatt.) Vize­präsident J. D. Vance soll deshalb die renommierte Smithsonian-Institution auf Linie bringen. Sie umfasst 21 Museen, 14 Bildungs- und Forschungs­zentren und den Nationalzoo in Washington.

Wohin wird das führen? Zu einer Kunst, die gleich­geschaltet ist und kaputt­gespart. Wie in Ungarn.

2. Ungarn: Gleich­geschaltete Kunst

Nach Jahren der Repression holte die ungarische Regierung 2019 zum finalen Schlag gegen die subventionierten Häuser aus. Mit dem sogenannten «Kulturgesetz» stellte sie viele der bisher noch eigenständigen Kultur­betriebe, vor allem Theater, unter die Kontrolle eines «Nationalen Kulturrats». Das sollte «die strategische Lenkung der kulturellen Sektoren durch die Regierung gewährleisten». Von da an hatten die Institutionen die Wahl: entweder auf Subventionen verzichten oder staatliche Eingriffe akzeptieren.

Manche Theaterleute gründeten eigene Ensembles, mit denen sie in Häusern der freien Szene ab und zu noch arbeiten konnten. 2023 kam der Todesstoss, als den freien Häusern, die ohnehin nur noch dank internationaler Koproduktionen überlebten, die Subventionen erneut um 40 Prozent gekürzt wurden. In der Folge schlossen die Kunstorte, die Künstler verlegten ihre Aktivität endgültig ins Ausland. «Kultur kann in Ostmittel­europa nicht ohne staatliche Förderung bestehen», konstatiert der Theater­kritiker Tamás Jászay.

Um die Kultur auszuhöhlen, war keine brachiale Gewalt nötig, wie der renommierte ungarische Theaterregisseur Árpád Schilling erklärt:

In Ungarn werden Theater­regisseure und -intendanten nicht inhaftiert oder unter Haus­arrest gestellt wie in Russland. Orbáns Ordnung braucht keine Gewalt und keine Repressionen, sie funktioniert über Geld und gesetzliche Bestimmungen. Kritiker werden ausgeblutet, viele wandern einfach aus.

Schilling lebt mittlerweile in Paris und arbeitet an internationalen Häusern, im Januar inszenierte er die Oper «Eugen Onegin» an den Bühnen Bern. Auch seine Kollegen Viktor Bodó oder Kornél Mundruczó arbeiten international, Mundruczós letzte Arbeit «Parallax» feierte Premiere an den Wiener Festwochen und konnte nur zustande kommen, weil sich elf Koproduktions­partner beteiligten. Der Abend, der über drei Generationen die Geschichte einer Familie zwischen Holocaust und Antisemitismus, Identitäts­findung und Leben in der LGBTQIA+-Szene erzählt, ist die erste Arbeit des Künstlers, die überhaupt nicht in Ungarn gezeigt wurde.

Dort sind mittlerweile andere Werke gefragt. Die auch auf Deutsch erscheinende Website «Ungarn heute» lässt wissen, dass der stellvertretende Staats­sekretär des Verteidigungs­ministeriums, János Czermann, und der Generaldirektor des National­theaters in Budapest, Attila Vidnyánszky, im Kultur­zentrum der Streitkräfte eine Kooperations­vereinbarung unterzeichnet hätten.

Czermann sagte demnach, die Militär­kultur und die künstlerischen Aktivitäten, die von den Soldaten repräsentiert werden, einschliesslich der Militär­musik, der Militär­lieder und der historischen Lieder, seien eindeutig Teil der Kultur und auch wichtige Instrumente der Verteidigungs­erziehung und der -ausbildung.

Vidnyánszky erklärte, das National­theater und das Verteidigungs­ministerium verbinde das gleiche Ziel, eine sich entwickelnde, sich bildende Generation dazu zu erziehen, ihr Land zu lieben und ihm zu dienen. Stücke würden deshalb an den Heldenmut der ungarischen Soldaten im Ersten Weltkrieg erinnern. Ohnehin habe sich das National­theater auf die Fahnen geschrieben, Inszenierungen zu präsentieren, «in denen man sich mit den Protagonisten identifizieren kann und die Werte vermitteln, die das Land aufbauen».

Ob dies das Theater ist, das die Leute sehen wollen?

Es ist mit seinem klar didaktisch-populistischen Auftrag jedenfalls ein Theater, wie es auch der deutschen AfD gefällt.

3. Deutschland: Kunst­anfeindungen in der Fläche

Im Juni 2017 schlug Hans-Thomas Tillschneider, der kultur­politische Sprecher der AfD-Landtags­fraktion Sachsen-Anhalt, vor, den Operndirektor der Bühnen Halle zu ersetzen und als Nachfolger einen «Charakter­kopf vom Format eines Attila Vidnyánszky» zu suchen. Tillschneider, der dem rechts­extremen Flügel um Björn Höcke zugeordnet wird, hat auch Ideen, wie die Theater auf gesicherte Beine gestellt werden können. Statt etwa das Rainer-Werner-Fassbinder-Stück «Angst essen Seele auf» zu zeigen – der Filmer und Dramatiker gilt immerhin als einer der wichtigsten Vertreter des Neuen Deutschen Films – und Flüchtlingen vergünstigte Tickets zu gewähren, schlägt Tillschneider vor:

Würden zeitgemässe und gediegene, stolze und intelligente Werk­interpretationen geliefert statt hohler Experimente und statt dümmlicher Willkommens­propaganda – ich bin mir sicher, wir würden die Krise des Theaters, und zwar nicht nur die finanzielle, überwinden.

Die AfD hat konkrete Pläne für die Kultur. Als Marc Jongen 2018 die Aufgabe als kultur­politischer Sprecher der AfD-Bundestags­fraktion übernahm, gab er als Parole aus: «Es wird mir eine Ehre und Freude sein, dieses Amt auszuüben und die Entsiffung des Kultur­betriebs in Angriff zu nehmen …»

Das AfD-Parteiprogramm gibt sich zu Kultur­fragen eher kurz angebunden. Punkt 7 «Kultur, Sprache und Identität» widmet der Kultur zwei Absätze, bevor «die deutsche Sprache als Zentrum unserer Identität» beschworen, das Gendern abgelehnt und erklärt wird: «Der Islam gehört nicht zu Deutschland.»

Eine AfD-Kulturpolitik «will den Einfluss der Parteien auf das Kultur­leben zurück­drängen, gemeinnützige private Kultur­stiftungen und bürgerschaftliche Kultur­initiativen stärken» und weg von der Aufarbeitung des National­sozialismus hin zu einer «erweiterten Geschichts­betrachtung aufbrechen, die auch die positiven, identitäts­stiftenden Aspekte deutscher Geschichte mit umfasst».

Zudem bekennt sich die Partei zu einer «deutschen Leitkultur» und sieht in der «Ideologie des Multi­kulturalismus» (Sie erinnern sich an die trumpsche Wörter­liste?) eine «ernste Bedrohung für den sozialen Frieden und für den Fortbestand der Nation als kulturelle Einheit». Demgegenüber müssten «der Staat und die Zivil­gesellschaft die deutsche kulturelle Identität selbst­bewusst verteidigen».

Die Politik der AfD ist längst zu einer realen Bedrohung vor allem auf Landes­ebene geworden. Mit dem Einzug der Partei in die Kultur­ausschüsse des Bundestags und aller 16 Landes­parlamente haben Vorstösse gegen Kultur­einrichtungen zugenommen, «um deren Integrität in Abrede zu stellen – und sei es in der bekannten Rhetorik der Verschwendung von Steuer­geldern», schreibt die Mobile Beratung gegen Rechts­extremismus Berlin. Sie arbeitet seit 2001 als Anlauf­stelle für alle, die bei konkreten rechts­extremen, rechts­populistischen, rassistischen und antisemitischen Anlässen «sprech- und handlungs­sicher» werden wollen.

Die Redaktion der ARD-Sendung «Titel, Thesen, Temperamente» und die «Süddeutsche Zeitung» sammelten bereits 2019 in einer schier endlosen Liste Angriffe gegen die Kultur: Deutlich wird eine Politik der versuchten Einfluss­nahme, der Bedrohung und der Einschüchterung – auch über Social Media. Die Angriffe reichen von Hassmails und Bomben­drohungen über Strafanzeigen und Demonstrationen bis zu übermässig vielen Anfragen in den Parlamenten und Ausschüssen. Zwei Jahre später erneuerte die «Süddeutsche Zeitung» die Liste mit aktuellen Beispielen. Das Fazit des Journalisten Peter Laudenbach:

Insgesamt umfasst die Chronik rund 100 Übergriffe aus den vergangenen fünf Jahren, darunter mehrere Brand- und Sprengstoff­anschläge, zahlreiche, zum Teil sehr konkrete Mord­drohungen, versuchte Körper­verletzung, Sach­beschädigungen und die Verletzung der Privat­sphäre der attackierten Künstler.

Die AfD schreckt auch vor Angriffen auf berühmte Institutionen nicht zurück. So demonstrierten rechts­extreme Gruppen gegen ein Konzert der – dezidiert linken – Punkband Feine Sahne Fischfilet, die für das ZDF auf einer historischen Bühne am Bauhaus Dessau auftreten sollte. Daraufhin stellte die AfD-Fraktion den Antrag, der Landtag solle sich «kritisch» mit der Design- und Architekturschule des Bauhauses auseinander­setzen und dabei auch «problematische Aspekte» beachten. Wohlbemerkt: Die Rede ist vom Bauhaus in Dessau. Das ist Weltkulturerbe.

Wie reagieren auf solche Attacken?

Auf diese Frage gibt es keine eindeutige Antwort. Wegducken ist sicherlich keine Lösung. Die Bauhaus-Stiftung liess das Konzert absagen und teilte mit: «Politisch extreme Positionen, ob von rechts, links oder andere, finden am Bauhaus Dessau keine Plattform, da diese die demokratische Gesellschaft – auf der auch das historische Bauhaus beruht – spalten und damit gefährden.»

Die Reaktion führte zu einem Aufschrei: Während Mitglieder der CDU den Fehler bereits bei der Einladung an die Punk­band sahen, kritisierte die Fraktions­vorsitzende der Grünen Cornelia Lüddemann: «Das Bauhaus ist 1932 auf Betreiben der Nazis aus politischen und ideologischen Gründen geschlossen worden. Jetzt aus politischen Erwägungen in die Programm­gestaltung des ZDF einzugreifen, halte ich für gefährlich geschichts­vergessen.»

4. Schweiz: Politik der Nadel­stiche gegen die Kunst

Wer denkt, gegen solche Eingriffe sei die Schweiz gefeit, dem sei die Lektüre des SVP-Partei­programms empfohlen. Das unterscheidet sich nur marginal von dem der AfD; es wird in manchen Punkten sogar noch deutlicher. Würde es komplett umgesetzt, drohten amerikanische und ungarische Verhältnisse. Offen werden «Gender-Terror» und «Auswüchse der Trans-Kultur» (die Trump-Liste …) angeprangert. Gleichstellungs­büros will die SVP abschaffen und den «staatlich finanzierten Einrichtungen aus dem Bildungs-, Kultur- und Sozial­bereich, die diese Ideologien unterstützen und verbreiten, die Steuer­gelder» streichen.

Die zu erwartenden Angriffe auf die Kultur werden aber noch deutlicher benannt. Schliesslich bräuchten «Amateur­theater und -orchester, Gesangs­vereine, Musik­vereine, Volksmusik­gruppen bis hin zu Guggenmusik­formationen und Rockbands» keine Subventionen, sondern nur «Anerkennung und faire Bedingungen».

Während also die Volks- und Amateur­kunst hoch­gehalten wird, geht es der subventionierten Kunst an den Kragen: «Der Staat soll keine Kultur­botschaften vorschlagen, die ständig Ausgaben­erhöhungen vorsehen, um zu unverantwortlichen Budgets zu gelangen.» Denn «eine Produktion, die das Publikum nicht interessiert, hat kaum einen Nutzen. Der kommerzielle Erfolg gebührt der Kultur, die dem Publikum gefällt.»

Daraus folgt: «Nein zu einer vom Staat aufgezwungenen Kultur!» Wieder werden die Theater explizit als Ziel der Veränderungen genannt: «Die SVP lehnt die millionen­teure Zwangs­subventionierung städtischer Kultur­einrichtungen ab und verlangt, dass überkommene Kultur­strukturen, wie zum Beispiel die Theater­häuser, den heutigen Bedürfnissen angepasst und reduziert werden.»

Da ist es wieder, das altbekannte Prinzip: weg mit den Subventionen für kritische Künste.

Das schweizerische System der Konkordanz­politik mag der vollständigen Umsetzung dieser Ideen einen Riegel vorschieben. Doch können die Partei­mitglieder in diversen Gremien mit einer Politik der Nadel­stiche ihre Ideen immer wieder einfordern. Vor allem dann, wenn Inszenierungen aus politischen Gründen nicht genehm sind.

Im Kleinen erreichen die Populisten in der Schweiz längst, dass Aufführungen abgesagt werden. So erlebten Schauspielerin Brandy Butler und Dragqueen Ivy Monteiro, dass Mitglieder der Neonazi-Gruppe Junge Tat ihre «Drag Story Time» im Tanzhaus Zürich störten. Das Angebot wurde, obwohl beliebt, beendet: «Ich konnte die Sicherheit der Kinder nicht mehr garantieren», sagte Butler.

Und wer die Angriffe auf «Gender-Terror, Woke-Wahnsinn und Cancel-Culture» im Partei­programm liest, die angeblich «auf Ausgrenzung und Zensur» abzielten, erinnert sich natürlich an die Diskussionen um das Zürcher Schauspiel­haus, wo FDP-Gemeinde­rätin Yasmine Bourgeois befand: «Der woke Einheitsbrei vergrault die Zuschauer.» Genau diese Vorwürfe im Verbund mit den angeblich zu hohen Subventionen brachten das Intendanten-Duo Nicolas Stemann und Benjamin von Blomberg zu Fall.

Der Kampf um die Kultur, er hat auch in der Schweiz längst begonnen. 

Mittwoch, 23. April 2025

Neufaschismus

Neuerfindung des Faschismus

Sven Reichardt: Trump und Co. Neuerfindung des Faschismus, aus: FAZ (online) 20. April 2025 

Aus Protest gegen die amerikanische Regierung, die die Universitäten mit Antisemitismusvorwürfen gängelt und mit finanziellen Druckmitteln erpressen will, wird der Philosoph Jason Stanley die Eliteuniversität Yale in Richtung der Universität Toronto verlassen. Auf die Frage, ob er gegenwärtig von „faschistischen Zuständen“ in den USA sprechen würde, antwortete Stanley: „Ja, natürlich.“ Er sieht keine anderen, treffenderen Begriffe: „Trump ist ein Faschist, seine Bewegung ist faschistisch.“

Liegen die Dinge so eindeutig? Robert Paxton von der Columbia University, eine Koryphäe der vergleichenden Faschismusforschung, hat darauf hingewiesen, dass Trump im Gegensatz zum historischen Faschismus keinen starken Staat will und keine uniformierten Paramilitärs befehligt. Darin ist er sich mit den meisten deutschen Historikern einig. Für viele ist der Begriff des Faschismus durch seine polemische Übernutzung diffus und ausgeleiert. Dass Trump oder Giorgia Meloni sich in keiner Feier des Krieges oder der Anwendung paramilitärischer Gewalt ergehen, ist in der Tat ein triftiges Argument gegen die Begriffswahl. Und so klar Robert Paxton die Unterschiede benannt hat – schon unter der ersten Regierung Trump erkannte er zahlreiche Elemente faschistischer Rhetorik in Sprache und Inszenierung des Präsidenten. Die Aggressivität, die Verherrlichung des Rechts des Stärkeren, der Ultranationalismus, die rassistischen Attacken gegen Migranten, die obsessiven Untergangsphantasien – all dies stamme aus dem Arsenal des klassischen Faschismus. Daran erinnerten auch die personalistische Ausrichtung seiner Politik und die Hartnäckigkeit, mit der Trump sein erratisches Programm verfolge. Auch die Auftritte vor seinen Anhängern folgen einer aus dem Faschismus bekannten Liturgie: Trump schwört seine Bewegung auf unbedingte Gefolgschaft ein und präsentiert sich als charismatischer Führer.

Kampf gegen „parasitäre Elemente“

Auch in Frankreich stimmt man spätestens seit der zweiten Trump-Regierung den amerikanischen Faschismusprognosen zunehmend zu. Intellektuelle wie Olivier Mannoni vergleichen Trumps und Hitlers Propaganda: „Inkohärenz als Rhetorik, extreme Vereinfachung als Argumentation, Anhäufung von Lügen als Beweisführung“. Und der argentinische Faschismusforscher Federico Finchelstein bezeichnet Trump als „Wannabe“-Faschisten in Stil und Verhalten – auch wenn er keine vergleichbare Gewalt anwende und die Gewaltenteilung in den USA noch nicht so stark aufgeweicht sei wie im historischen Faschismus.

Bei einer Tagung führender Faschismusforscher im Januar 2025 in Rom hielt der italienische Historiker Enzo Traverso einen aufsehenerregenden Vortrag: Die Faschismusforschung sei nicht länger ein historisches Phänomen im Zeichen stabiler Demokratien, sagte er. Um die Neuartigkeit der Situation zu charakterisieren, plädierte er für das Konzept des „Postfaschismus“. Staatsterrorismus sei eher die Ausnahme als die Regel, anders als nach dem Ersten Weltkrieg hätten die Gesellschaften einen anderen Bezug zur Gewalt. Heute sei die Arbeiterklasse in Marine Le Pens, Matteo Salvinis, Victor Orbáns oder Trumps Bewegung voll integriert. Statt der Juden gelten jetzt Einwanderer, Muslime und Schwarze als Feinde, aber auch liberale Gruppen von Umweltaktivisten bis zu Vertretern von LGBTQI-Rechten, die eine den Kommunisten vergleichbare Rolle einnehmen. Als Nationalisten, Rassisten und Antifeministen kämpften auch die Postfaschisten gegen „parasitäre Elemente“ und präsentierten sich als Verteidiger der arbeitenden Bevölkerung. Ihr Autoritarismus werde von einer Verkultung der Marktwirtschaft begleitet – radikaler Wirtschaftsliberalismus und Postfaschismus seien „gefährliche Verbündete“.

Sind darüber hinaus die gesellschaftlichen Konstellationen, die den Aufstieg des historischen Faschismus begünstigten, auch heute gegeben? Die gesellschaftliche Fragmentierung hat ein vergleichbares Ausmaß erreicht. Drei gesellschaftliche Entwicklungen sind entscheidend: die ökonomische Krise, der Wandel der Geschlechterordnung und der radikale Umbau des Mediensystems. Das sind die Gelegenheitsfenster des Postfaschismus. Und die Bankenkrise, die Corona-Pandemie und der Krieg in der Ukraine haben sich in ihrem Zusammenwirken zu einer im Kern ökonomischen Polykrise ausgeweitet. Massive Aufrüstung und Störungen der globalen Handelsströme haben zu hoher Staatsverschuldung und Inflation geführt. Schuldenlast, Defizitfinanzierung, Banken- und Währungskrise – diese Faktoren führten auch in den Zwanzigerjahren zu einer Vertrauenskrise des Staates. Die halsbrecherische Zollpolitik Donald Trumps hat diese Entwicklung noch einmal beschleunigt. Die Entstehung autoritärer Dynamiken des Präsidialstaats, die Zersplitterung der Politik in unversöhnliche Lager, Abstiegsängste und Globalisierungsfurcht lassen sich durchaus vergleichen.

2016 konnte Trump demokratische Gebiete durchbrechen

Jürgen Falter beschrieb die NSDAP aufgrund von Wahlanalysen als „Volkspartei mit Mittelstandsbauch“. Auch heute scheint sich eine Panik im Mittelstand auszubreiten. Während Deklassierungsängste von Handwerkern und Kleinhändlern der NS-Bewegung in die Hände spielten, sind es heute weiße Männer aus dem „Rust Belt“ und dem Mittleren Westen der USA, die Trump überproportional unterstützt haben. Ähnlich sieht es in Europa und Deutschland in den entindustrialisierten Zonen aus. Bei den Europawahlen im Juni 2024 erreichte der Rassemblement National (RN) 53 Prozent in der Arbeiterschaft. Der RN hat seine Basis vor allem in den ärmeren Bevölkerungsschichten mit niedrigem Bildungsgrad, kann aber auch auf Teile des Bürgertums zählen. Ähnlich wie bei den AfD-Wählern in Ostdeutschland nimmt der Anteil der RN-Wähler umso mehr zu, je weiter man sich in dünner besiedelte und ethnisch homogenere Gegenden begibt, in denen die Bindung an lokale Traditionen stärker ausgeprägt ist. Auch Untersuchungen in primär weißen Armutsgebieten in und um London haben gezeigt, dass sich Arbeiter vom britischen Wohlfahrtsstaat im Stich gelassen fühlen und sich als Opfer der Globalisierung wahrnehmen. Die politische Einstellung der Anhänger von Nigel Farage, ihr Rassismus und ihr populistisch-faschistischer Autoritarismus basieren auf realen sozioökonomischen Problemen. In Deutschland sind es die Facharbeiter aus dem Ruhrgebiet und aus Ostdeutschland, die sich seit 2017 durch die AfD Gehör verschaffen und ihrer Angst vor Migranten Ausdruck verleihen. Die gegenwärtigen Verlustängste, Unsicherheiten und Abwehrreflexe der Arbeiter und Mittelschichten im Zuge des Sozialabbaus, ihr Aufstand gegen die Globalisierung, wirtschaftliche Transformation und Kulturwandel erinnern fatal an den Aufstand des Mittelstandes in den Dreißigerjahren.

In den USA haben die typischen Trump-Wähler ein leicht überdurchschnittliches Einkommen und sind zu einem geringeren Anteil arbeitslos als Wähler der Demokraten. Trumps Kernwählerschaft besteht aus den Selbständigen und den Mittelschichtsmilieus. Diesen geht es nicht schlecht, aber sie fürchten sich vor dem Abstieg, leben sie doch zu einem Großteil in abgehängten Gebieten mit schlechter ärztlicher Versorgung. Es gelang Trump bereits 2016, die ehemals demokratisch dominierten Gebiete des „Rust Belt“ durch Wahlerfolge in den Staaten Pennsylvania, Michigan und Wisconsin zu durchbrechen. Der wirtschaftsliberale Traum von Eigenverantwortung und Freiheit ist für viele Amerikaner ausgeträumt. Die Ungleichheit hat zugenommen, immer mehr Menschen in den vergangenen drei Jahrzehnten wurden wirtschaftlich und sozial abgehängt. Die Realeinkommen der unteren 40 Prozent sind über die vergangenen 30 Jahre geschrumpft. Knappheitsbedingungen und die ungerechte Verteilung von Ressourcen erklären auch, warum sich Industriearbeiter in Europa von der Sozialdemokratie abgewendet haben. Im Mittleren Westen der USA, in den bäuerlichen Schichten Osteuropas, in Zentren der Schwerindustrie und des Bergbaus in ganz Europa – der Protest gegen die globale Konkurrenz und Lohndrückerei verhallte bei den etablierten Parteien. Während sich die Sozialdemokratie stärker den neuen Mittelschichten zuwandte, sind ihre alten Trägerschichten zur AfD oder den Trumpisten abgewandert.

Aufstieg der Rechtsradikalen

Zweitens befeuert der Wandel der Geschlechterordnung den Aufstieg rechtsradikaler Bewegungen. Deren nostalgische Männlichkeitsorientierung ruft eine hegemoniale Geschlechterordnung auf, die auch die historischen Faschisten angesichts der Geschlechteremanzipation nach dem Ersten Weltkrieg auszeichnete. Die weibliche Konkurrenz auf dem Arbeitsmarkt verunsicherte vor allem jene Männer, deren kriegerische Heldenideale im maschinisierten Schlachthaus des Ersten Weltkriegs zerschossen worden waren. Neue queere Lebensformen in den Metropolen und selbstbewusste Feministinnen wurden in den Zwanziger- und Dreißigerjahren durch die Faschisten mit Repression und einer rückwärtsgewandten Familienpolitik beantwortet. Heute ruft der AfD-Politiker Maximilian Krah auf Tiktok jungen Männern zu: „Echte Männer sind rechts – dann klappt’s auch mit der Freundin.“

In den USA und Großbritannien ist zu beobachten, dass der Anteil junger Männer steigt, die ungewollt Single sind und sich einsam fühlen. Die Rechtsradikalen adressieren auch hier ein reales Problem. Dazu passt die Rückkehr zur fossilen Wirtschaft, die Trump mit der Rückkehr zum Fracking und dem Schlagwort „Drill, baby, drill“ propagiert. Die Politikwissenschaftlerin Cara Daggett nennt das „pe­tromaskulin“. Der Verweigerung der Anerkennung queerer Lebensweisen entspricht die Ideologie eines industrie­gesellschaftlich-autoritären Patriarchats, welches Kohle, Stahl und Öl mit traditionell maskulinem Sex und heteronormativer Geschlechterordnung assoziiert. Gender Studies und Queer Studies sollen von den Universitäten verbannt werden. Eine pronatalistische Politik soll höhere Geburtenraten in der weißen, christlichen Bevölkerung erreichen und traditionelle Männlichkeit zu neuem Ansehen bringen. Nicht nur in den USA, sondern auch in Ungarn oder Russland zeigen sich feminismusfeindliche Einstellungen und eine Verschärfung der Abtreibungsgesetze. Die lateinamerikanischen Postfaschisten rücken den Antifeminismus sogar ins Zentrum ihrer Politik.

Wer den Aufstieg der Rechtsradikalen verstehen will, muss drittens von den Veränderungen des Mediensystems sprechen. Der Umbruch von der kontrollierten Medienöffentlichkeit zu den Internetmedien öffnet ebenfalls ein Gelegenheitsfenster für postfaschistische Politikformen. Populisten wie Trump stellen sich ostentativ als plump, ungehobelt und unkultiviert dar, um Volksnähe zu simulieren. Sie pflegen einen medialen Politikstil der Dramatisierung, Konfrontation, Emotionalisierung und Personalisierung, der mit den schnellen und leicht zugänglichen elektronischen Medien unserer Zeit korrespondiert. Ähnliche Kommunikationsmuster prägten die Zwischenkriegszeit. Vor allem nach dem Ersten Weltkrieg entwickelte sich mit der Sensationspresse und dem Illustriertenmarkt ein Formwandel der politischen Repräsentation: „An die Stelle des Ideals vom räsonierenden Publikum war die massenmediale Vermarktung politisch diversifizierter und marktgängig stratifizierter Meinungssegmente getreten“, schreibt der Historiker Bernd Weisbrod. Heute entbindet die beschleunigte Entwicklung neuer Kommunikationstechniken Politiker von herkömmlichen politischen Institutionen und etablierten Medien. Digitale Medien bieten beste Bedingungen für die Verbreitung von Hass und völkischer Abwertung. Ihre Algorithmen verbreiten negative Nachrichten schneller als die alten Medien. Der digitale Faschismus formiert sich in Gestalt informeller Schwärme, die sich in rechtsstaatlich gefestigten Demokratien leichter einnisten als uniformierte Schlägertrupps. Natürlich führen die neuen Medien nicht zwangsläufig in postfaschistische Politik – aber sie können von solchen Politikern besser instrumentalisiert werden als unabhängiger Qualitätsjournalismus. Segmentierte Teilöffentlichkeiten, die sowohl zur Dramatisierung als auch zur Dämonisierung des Gegners genutzt werden, boten dem historischen Faschismus und bieten heute dem Postfaschismus ein Gelegenheitsfenster. Faschisten und Rechts­radikale waren und sind technikaffine, eifrige Nutzer von Massenpresse, Film, Radio und sozialen Medien.

Dezentral und transnational vernetzt

So erschreckend viele Parallelen auch sind: Was den Faschisten der Gegenwart fehlt, sind der ausufernde Paramilitarismus, der aus dem Ersten Weltkrieg gespeiste Gewalt- und Totenkult, ausufernde Repression und Willkürherrschaft und der kriegslüsterne Imperialismus. Mit der Ausnahme Putins, der sich jedoch weniger auf die populistische Mobilisierung seiner Gesellschaft versteht, hat kein postfaschistisches Regime einen Krieg begonnen. Der radikale Wirtschaftsliberalismus der Neunzigerjahre hat die Möglichkeit starker Staatlichkeit unterhöhlt, was in den gemeinschaftsorientierten Dreißigerjahren so nicht denkbar war. Wenn Trump jetzt die Bürokratie gegen eine digitale Verwaltung austauscht, so bedeutet dies die Entfesselung der freien Marktwirtschaft im Staatsinneren. Anstelle der Bolschewisten werden heute Universitäten und Medien aufgrund ihrer angeblichen linksradikalen „Wokeness“ attackiert. Und zu den klassischen „starken Männern“ des Faschismus haben sich längst Frauen wie Marine Le Pen, ­Giorgia Meloni und Alice Weidel gesellt, die sich als stark und unabhängig inszenieren.

Der Schriftsteller und Holocaustüberlebende Primo Levi konstatierte 1974, dass „jedes Zeitalter seinen eigenen Faschismus“ hat. Das gilt bis heute. Der Postfaschismus unterhält nicht nur keine organisierten Schlägertrupps, er alimentiert seine völkisch erwünschten Untertanen auch nicht durch einen Wohlfahrtsstaat, er agiert kommerzieller als seine Vorgänger. Die postfaschistischen Bewegungen ähneln einem Wurzelgeflecht – sie agieren dezentral und sind zugleich transnational vernetzt. Seine vielfältigen Varianten verbinden aber Rassismus und Nationalismus mit einer Sprache und Symbolik, die auf den Mythos nationaler Wiederauferstehung zielt. Ob wir uns heute in der Gründungsphase neuer Diktaturen befinden und ob diese dann ähnliche Schritte wie der historische Faschismus gehen werden, ist offen. Unmöglich ist es nicht.