Dienstag, 1. Oktober 2024

Rechte Allianz

Claus Leggewie: Von Visegrad nach Habsburg 2.0

Frankfurter Rundschau 30.9.2024

Mitten in Europa ist mit dem Erfolgen der FPÖ ein neutralistischer bis russophiler Staatenblock entstanden, der auch gegen Trump nichts einzuwenden hat.

Das im Februar 1991 geschlossene informelle Visegrad-Bündnis ist infolge des russischen Angriffs auf die Ukraine seit dem Februar 2022 erodiert, da Polen und Tschechien ihre autoritären Führungen abwählten und sich gegen Russland stellten. Nun zeichnet sich indessen eine neue Bündniskonstellation ab: Ungarns Premierminister Viktor Orbán formt eine offen russlandfreundliche und ausdrücklich illiberale Allianz gegen die supranationale Europäische Union. Kurz vor der Übernahme der ungarischen Ratspräsidentschaft, die unter dem Vorzeichen dieser souveränistischen Opposition steht, reiste Orbán Ende Juni nach Wien, um die Gründung der „Patrioten für Europa“ zu vereinbaren.

Diese dritte rechtsgerichtete Fraktion im EU-Parlament führen die Gewinner der Europawahl im Juni 2024: Fidesz hatte mit 44,82 Prozent der Stimmen den ersten Platz in Ungarn belegt, die FPÖ siegte unter der Führung Herbert Kickls knapp mit 25,36 Prozent und ANO, die Partei des tschechischen Unternehmers und Ex-Ministerpräsidenten Andrej Babiš, hatte mit 26,14 Prozent die Nase vorn. Orbán wehrte die Herausforderung durch die von dem ehemaligen Fidesz-Mitglied Péter Magyar geführte Tisza-Partei ab, die FPÖ etablierte sich bei den Nationalratswahlen im September 2024 als stärkste Kraft in Österreich und Babiš könnte nach dem Gewinn der Regionalwahlen bei den tschechischen Parlamentswahlen 2025 sein Comeback feiern. Aufnahmegespräche mit der AfD, der derzeit zweitstärksten Kraft in Deutschland, sind gescheitert, obwohl sie mit ihrer prorussischen, strikt gegen den Green Deal und den Migrationspakt der EU gerichteten Programmatik bestens in die nunmehr drittstärkste Fraktion im EU-Parlament hineingepasst hätte.

Die Dreierkonstellation zwischen Budapest, Wien und Prag ergänzt sich schon in Richtung Bratislava, seit die Slowakei mit der Rückeroberung der Macht durch Robert Ficos Partei Smer-SSP 2023 einen ebenso nationalistischen, EU-distanzierten und russlandfreundlichen Kurs eingeschlagen hat. Gemeinsam haben die Partner das Ziel, die Gewaltenteilung auszuhebeln und die Freiheit der Presse, Kunst und Wissenschaft einzuschränken; sie pflegen hochkorrupte Geschäftsbeziehungen und vertreten ausdrücklich oder versteckt antisemitische, homophobe und misogyne Einstellungen. Ausdrücklich wenden sie sich gegen Waffenlieferungen an die Ukraine und legen ihr einen Diktatfrieden des russischen Aggressors nahe, mit dem sie weiterhin Geschäftsbeziehungen aufrechterhalten haben.

Mitten in Europa ist ein neutralistischer bis russophiler Staatenblock entstanden, der die Europäische Union blockiert und im Blick auf die US-Wahlen im November gegen die Wiederwahl Donald Trumps nichts einzuwenden hätte.

Ein Blick auf historische Landkarten zeigt an, dass man es mit einer tektonischen Verschiebung auf dem Gebiet der ehemaligen Doppelmonarchie Österreich-Ungarn zu tun hat. Dazu gehörten nach dem Untergang des Heiligen Römischen Reiches Deutscher Nation und dem Scheitern „großdeutscher“ Nationsbildung bis 1918 Territorien im (damals staatlich inexistenten) Polen (Galizien), in der Ukraine (Bukowina) und im heutigen Rumänien (Sieben-bürgen), Serbien (Wojwodina), Kroatien, Slowenien und Italien.

K. und k. ist im Ersten Weltkrieg begraben worden und die Nationen entflohen dem „Völkergefängnis“. Doch scheint sich der zentrifugalen Dynamik heute eine weltanschauliche Konvergenz beizumischen, die auch in Serbien und dem serbischen Teil Bosniens auf Resonanz stößt.

Dabei wirken gegensätzliche Kräfte: Für Polen ist die von Wladimir Putin ausgehende Gefahr offenbar weit existenzieller als für Ungarn und die Slowakei, auch erweist sich die polnische, auf einer langen Freiheitstradition beruhende Demokratie resilienter.Die tschechischen und slowenischen Gesellschaften schwanken zwischen Nationalpopulismus und liberalem Pluralismus, Westorientierung und Russophilie. Unterschwellig wirkt im einstigen Habsburger Gebiet, das kulturellen Hochleistungen genau wie reaktionären Stumpfsinn kannte, beides fort: die Sehnsucht nach größtmöglicher national-kultureller Unabhängigkeit und die Unterwerfung ethnischer Gemeinschaften unter ein Imperium. Damit könnte sich „Visegrad“ in eine Art „Habsburg 2.0“ verwandeln. Die konservative ÖVP hat nie ausgeschlossen, erneut mit den Freiheitlichen zu koalieren, was sie in drei Bundesländern gerade praktiziert.

Dabei können auch globale Brandmauern bersten. Die Ironie besteht darin, dass die angesagte Kapitulation vor Russland in dem Bestreben erfolgt, sich der als „EUSSR“ (das soll heißen: krypto-kommunistisches Empire) denunzierten Europäischen Union zu entziehen, ohne freilich auf deren finanzielle Zuwendungen verzichten zu wollen. Mit der österreichisch-ungarischen Doppelansage hat sich die Herausforderung Putins weit nach Westen verschoben. Und die AfD bereitet das Terrain in Dunkeldeutschland.

Mittwoch, 25. September 2024

Rechtes Österreich

Sarah Schmalz und Daria Wild (Interview) und Florian Bachmann (Foto): Vor den Wahlen in Österreich:«Dann kommt etwas ins Rutschen» WOZ, Nr. 38 – 19. September 2024

Wird sich die Hochwasserkatastrophe auf die österreichischen Wahlen auswirken? Die renommierte Politologin Natascha Strobl über den Kulturkampf der extremen Rechten in ihrem Land – und in Europa.

«Manchmal traue ich mich kaum zu erzählen, worüber in Österreich gerade diskutiert wird. Weil es so absurd ist»: Natascha Strobl im Zürcher Hotel Marktgasse.

WOZ: Frau Strobl, Österreich wird von starken Unwettern heimgesucht, auch Niederösterreich, wo Sie leben. Wie geht es Ihnen gerade?

Natascha Strobl: Mein Mann war in den letzten Tagen beim Dammbauen, ich mit den Kindern daheim, die Schule ist ausgefallen. Die Lage entspannt sich nur langsam.

War die Katastrophe abzusehen?

Ja, aber der öffentliche Rundfunk hat sehr spät gewarnt. Unser bisheriges Frühwarnsystem wurde einfach abgeschaltet, obwohl das neue noch nicht richtig funktioniert. Politisch ist wirklich sehr viel schiefgelaufen. Gerade in Gebieten mit trockenen Böden wie Niederösterreich hat die schwarz-blaue ÖVP-FPÖ-Regierung alle Klimaschutzmassnahmen und den Hochwasserschutz vertagt. Jetzt häufen sich die Extremwetterereignisse. Doch der öffentliche Rundfunk strahlte zunächst tagelang Sendungen aus, in denen das Wort «Klimakrise» oder «Klimawandel» nicht ein einziges Mal fiel.

Wie wird das Ereignis gedeutet?

Es wird so getan, als hätte Gott eine Strafe geschickt. Das ist empörend – und sehr österreichisch. Die Parteien, die die Klimakrise die ganze Zeit leugnen, sagen jetzt, man dürfe dieses Ereignis nicht politisieren. Dabei wird jede Messerstecherei, jeder Raufhandel politisiert – so weit, dass man Menschenrechte ausser Kraft setzen will. Jetzt, wo Millionen von Menschen betroffen sind, sagt man: Das ist halt so passiert. Das zeigt die Strategie der Rechten: Man führt rasende Kulturkämpfe, und wenn andere über Politik sprechen wollen, ist man das Opfer.

Ende September wird in Österreich gewählt. Werden die Hochwasser einen Einfluss auf die Wahlen haben?

Das kann man gerade nicht öffentlich diskutieren, der unmittelbare Einsatz hat Priorität. Ob die Katastrophe der derzeit in Umfragen vorne liegenden FPÖ schaden wird, ist schwierig abzuschätzen. Die ÖVP positioniert ihren Bundeskanzler Karl Nehammer als super Krisenmanager, der er aber nicht ist. Die Grünen haben die authentischste Position, die warnen seit zwanzig Jahren vor so einem Ereignis. Und SPÖ-Chef Andreas Babler ist mit der Freiwilligen Feuerwehr im Einsatz, das ist natürlich auch authentisch.

Sie haben gesagt, es sei «sehr österreichisch», was gerade passiere. Können Sie uns bitte in aller Kürze Österreich erklären?

(Lacht.) Wo fängt man nur an? Österreich ist ein sehr gemütliches Land. Politisch prägten es lange die grossen Volksparteien, die ÖVP und die SPÖ. Aber seit ungefähr zehn Jahren ist nichts mehr so, wie es einmal war. Heute ist Österreich bei zwei Dingen ganz vorne mit dabei: bei der klassischen Musik und beim Rechtsextremismus. Das eine ist ein bisschen schöner als das andere.

Was begann sich vor zehn Jahren zu verschieben?

Strobl: Um das Jahr 2016 herum ist der ÖVP-Politiker Sebastian Kurz auf der Bildfläche erschienen, das war eine Zäsur. Plötzlich war es die grosse Volkspartei ÖVP, die so gesprochen hat wie bis dahin nur die kleine, rechtsextreme FPÖ. Das hat das ganze politische Spektrum nach rechts verschoben. Wenn man heute verstehen will, wie rechtsextreme Parteien mehrheitsfähig werden, kann man nach Österreich schauen oder in Richtung Ungarn, da sind sich diese Länder sehr ähnlich.

2017 bildeten ÖVP und FPÖ eine Regierungskoalition, die ÖVP brach aber nach dem «Ibiza-Skandal» mit der FPÖ. Ein Video wurde publik, das unter anderem FPÖ-Chef Heinz-Christian Strache mit der angeblichen Nichte eines russischen Oligarchen zeigte. Darin sprachen sie davon, Gesetze zur Parteienfinanzierung umgehen oder die Kontrolle parteiunabhängiger Medien übernehmen zu wollen. Wenig später stolperte auch Kurz über Korruptionsskandale. Wie ist es möglich, dass die extreme Rechte heute dennoch stärkste Kraft werden könnte?

Strobl: Die FPÖ hat sich innerhalb weniger Jahre wieder aufgerichtet. Das hat viel mit dem neuen Parteichef Herbert Kickl zu tun. Er ist diszipliniert, nicht so ein Lebemann, der über Skandale aus der halbprivaten Sphäre stolpert wie Strache. Und die Coronaproteste haben eine sehr grosse Rolle gespielt. Die FPÖ hatte als erste Partei Tests und Lockdowns gefordert, aber dann schnell realisiert, dass es ihr nützt, wenn sie auf den Zug der Coronaproteste aufspringt und Verschwörungstheorien nährt.

Der aktuelle Wahlkampfslogan der FPÖ lautet «Festung Österreich, Festung der Freiheit». Mit was für einer FPÖ haben wir es heute zu tun?

Strobl: Du musst dich einbunkern, damit du frei bist: Das trifft gut, wo die extreme Rechte hinwill. Und natürlich sind es militärische Begriffe, was suggeriert, wir seien im Krieg: «Wir oder die». Die FPÖ hatte schon immer einen rechtsextremen Kern, aber während Strache noch versuchte, das zu verharmlosen, macht das Kickl nicht mehr. Auf FPÖ-Demonstrationen laufen Leute mit Galgen herum. Kickl prahlt auf Wahlveranstaltungen mit Fahndungslisten, auf denen 2000 Namen stünden – Menschen, die dann schon sähen, was passiere, wenn die FPÖ an der Macht sei. Wir haben es aber auch mit einer Partei zu tun, die sich modernisiert hat: Man macht nicht mehr den traditionellen, verstaubten Rechtsextremismus in Tiroler Tracht.

Für Ihr neues Buchprojekt beschäftigen Sie sich mit der Strategie des Kulturkampfs, derer sich die Rechte bedient. Inwiefern ist Österreich ein Beispiel dafür?

Ich traue mich manchmal kaum zu erzählen, worüber in Österreich gerade diskutiert wird, weil es so absurd ist. Gerade empört man sich darüber, dass die Stadt Wien den Kindergärten verbiete, Symbole über die Garderobenhaken der Kinder zu kleben. Diese Story wurde von der «Kronen Zeitung» in die Welt gesetzt und stimmt so nicht. Doch sie wird gerne geglaubt, weil in Wien viele Ausländer:innen leben. Suggeriert wird, dass Muslim:innen hinter dem imaginierten Verbot stecken müssten. Oder irgendwelche «woken» Motive. Diesen Sommer haben wir auch darüber diskutiert, ob Weinköniginnen wirklich alles «echte» Frauen seien. Wenn ichs auf eine Formel runterbrechen müsste: Kulturkampf ist die Emotionalisierung der Anekdote.

Die dritte Folge des «What's left?»-Podcast über Sozialismus mit Jabari Brisport anhören

Was ist die Funktion dieser Anekdoten?

Strobl: Es gibt so viele reale Probleme: Klimawandel, Inflation, Kinderarmut, steigende Energiepreise, Arbeitslosigkeit, Fachkräftemangel. Aber das Geschlecht der Weinköniginnen und die Garderobenbildchen überlagern alles. Das bindet Energie, es bindet Aufmerksamkeit. Und dann gibt es immer diesen Feind, der nie sichtbar ist, aber das alles orchestriert, diese vielen kleinen Dinge, die angeblich zusammenhängen: die «Woken» oder die «Globalisten» – ein antisemitisches Codewort – oder ein Konglomerat an Verschwörern. Und, das ist das Wichtigste: Die Kulturkämpfe bewirken, dass sich jene, die glauben, was da erzählt wird, unterdrückt fühlen und Gewalt als legitimes Mittel der Notwehr ansehen. Wenn man diesen Sprung gemacht hat, wird alles zu einer «Wir oder die»-Frage.

Haben wir es mit einer eigentlichen Entpolitisierung des öffentlichen Raumes zu tun?

Ich würde eher sagen, es ist ein politischer Nihilismus. Man weiss überhaupt nicht mehr, was real ist, was wichtig ist, was Priorität hat. Es reicht ja schon, wenn diese Anekdoten wahr sein könnten. Dieses Leben im Konjunktiv verschiebt die Realität. Man muss auch bedenken: Die Medien spielen in Österreich eine sehr grosse Rolle. Die grösste Boulevardzeitung des Landes ist im Verhältnis mächtiger und auflagenstärker als die «Bild»-Zeitung in Deutschland. Sehr viele Medienprojekte wurden über die boulevardfreundliche Medienförderung, die von 2017 bis 2019 unter Schwarz-Blau erlassen wurde, nach oben gespült. Die haben Millionen von Euro bekommen dafür, dass sie jetzt – wie etwa die Plattform «Express» – diese Kulturkampfthemen bespielen.

Viele FPÖ-Wähler:innen informieren sich gemäss Umfragen «alternativ», also auf verschwörungsaffinen Internetportalen 

Strobl: Der rechtsextreme, verschwörungsideologische Sender «Auf1» spielt hier eine sehr grosse Rolle. Mit dieser Art von Nachrichten wird der ganze deutschsprachige Raum bespielt – mit der Folge, dass sich die extreme Rechte den digitalen Raum nimmt und ihre Narrative hegemonial werden.

Eine Plakataktion in Graz zeigte Kickl mit NS-Symbolik und Nehammer mit Engelbert Dollfuss, dem Begründer des Austrofaschismus 

Strobl: Man sollte Faschismus und Rechtsextremismus nicht synonym verwenden. Ich bin jedoch dafür, sehr besonnen, aber ernst die Faschismusfrage zu diskutieren. Denn wir wissen aus der Geschichte, dass es nicht so viele Möglichkeiten gibt, den Faschismus aufzuhalten, wenn einmal erste Schwellen überschritten sind. Was wir derzeit sehen, ist, dass faschistische Diskurse stark Verbreitung finden – nicht nur durch Hardcorefaschisten. Es gibt heute zudem verschiedene Fraktionen mit faschistischen Tendenzen, die ein Bündnis bilden, weil sie so ihre Interessen am besten durchsetzen können – das war auch im historischen Faschismus so.

Was für Fraktionen meinen Sie?

Strobl: Wir haben die Kulturkampfrechte, die Kapitalfraktionen, es gibt den genuinen Techfaschismus im Silicon Valley, es gibt bestimmte Antworten auf die Klimakrise, die sich in ein faschistisches Projekt einfügen lassen. Wladimir Putin führt einen faschistischen Krieg, Viktor Orbán träumt von einem Grossungarn. Wir haben Faschismus ganz lange als Ultranationalismus gesehen, als ein nationales Projekt. Vielleicht ist das nicht mehr zeitgemäss, vielleicht müssten wir ihn mehr als übernationales Machtprojekt begreifen. Vielleicht gab es im 20. Jahrhundert nichts Grösseres als die Nation, aber jetzt gibt es das Internet. Wenn man den digitalen Raum beherrscht, hat man ziemlich viel gewonnen. Es ist natürlich die Frage, wie sich das in den analogen Raum übersetzt, ob dieser Faschismus in eine organisierte Form übergeht. Aber ich plädiere dafür, die sozialen Medien als Realität zu sehen. Das sind digitale Schlägertrupps, die dort auf Leute losgehen.

Wie definieren Sie Faschismus?

Strobl: Wenn wir uns diese Mobs im Internet anschauen, die einfach nur Blut sehen wollen, sind wir, glaube ich – mit Hannah Arendts Definition von Faschismus als Bündnis von Mob und Elite – sehr nahe bei dem, was uns auch gegenwärtig präsentiert wird. Mit Robert Paxton gesprochen, ist Faschismus zudem die einzige politische Ideologie, die Gewalt nicht rationalisieren muss, sondern die Gewalt ohne Grenzen, ohne moralische, juristische, politische Grenzen, kennt.

Sie haben erwähnt, dass sich faschistische Diskurse stark verbreiten. Welche meinen Sie?

Strobl: Faschistische Diskurse zeichnen sich dadurch aus, dass sie von einer Dekadenzdiagnose ausgehen: Alles ist in einem Niedergang, den man durch einen gewaltvollen Akt nach vorne überwinden muss. Etwas muss gereinigt werden, etwas muss vernichtet werden, dann kann es wieder gut sein. Da steckt ein starker Sozialdarwinismus drin, der schon immer Kern des Faschismus war. Wir haben solche Diskurse während der Pandemie gesehen. Lohnt es sich wirklich, auf die Alten und Kranken und Menschen mit Behinderung Rücksicht zu nehmen, oder sollen die nicht lieber sterben? Dass Ausländer unsere Haustiere essen, das hat nicht Donald Trump erfunden, diese Erzählung hatten wir eins zu eins im 19. Jahrhundert. In der Asyldebatte haben wir diese Diskurse die ganze Zeit. Und ich gehe davon aus, dass die Rechten auch bei der Klimafrage immer stärker auf solche Diskurse setzen werden.

Können Sie das etwas ausführen?

Nehmen wir etwa die Zehn-Millionen-Schweiz-Initiative der SVP. Die behauptet ja, wir müssten eine Abwägung treffen zwischen Umwelt und Menschen, die Überbevölkerung sei schuld an der Klimakrise. Das Zweite, was sie damit sagt, ist: Zu viel sind die, die herkommen. Es sind in dieser Erzählung die Menschen aus dem Globalen Süden, die das Klima kaputt machen. Wenn man das weiterspielt, heisst das: Die müssen vielleicht sogar im Mittelmeer ertrinken, damit das Klima gerettet wird. Das wird so natürlich nicht ausgesprochen, aber es ist die Idee dahinter. Erst setzt man die Bevölkerungszahl der Schweiz fest, dann die von Europa, dann die der Welt. Diese Idee ist eine faschistische, und ich glaube, die extreme Rechte wird künftig so mit der Klimadiskussion umgehen. Sie wird den Klimawandel ja nicht länger leugnen können, wenn er so evident ist. Und das Problem ist natürlich, wenn eine Gesellschaft das einmal akzeptiert, Menschen so zu sehen, wie die extreme Rechte sie sieht, dann kommt etwas ins Rutschen.

Gleichzeitig gibt es ja auch eine grosse Bewegung, die sich eine solidarischere Zukunft vorstellt. Wo stehen wir also?

Es ist alles offen. Und das liegt uns natürlich nicht. Wir hätten als Gesellschaft gerne, dass wir wissen, wie es weitergeht. Aber diese Zukunft ist verschwunden. Nun kann es furchtbar werden. Aber es kann auch gut werden, noch demokratischer, noch inklusiver. Um diesen Zukunftsentwurf muss man aber auch kämpfen.

Die konservativen und die liberalen Kräfte sind in vielen Ländern nach rechts gerückt. Und wenn man sich die parlamentarische Linke anschaut, ist auch nicht gerade Optimismus angezeigt. In Deutschland etwa steht auch die Sozialdemokratie nicht mehr für eine pluralistische Gesellschaft ein.

Strobl: Die SPD macht gerade alle typischen Fehler der Sozialdemokratie – aber zehn Jahre später als in anderen Ländern. Es ist unschön, was in Österreich passiert, aber Deutschland ist entscheidender. Deutschland war lange stabil. Wenn es kippt und einen rechtsextremen Weg geht, dann kippt Europa. Es ist ein fataler Fehler, der AfD so unverschämt recht zu geben. Zu sagen: Jetzt machen wir das auch, aber wir machen es ein bisschen schöner. Das darf nicht die Botschaft sein. Man müsste sagen: Die AfD hat einfach unrecht. Nicht nur auf der Werteebene, sondern auch sachlich. Grenzkontrollen helfen nichts gegen Gewalttaten.

Wenn wir nochmals auf Österreich zu sprechen kommen: Herbert Kickl inszeniert sich als «Volkskanzler». Was sagt das über die Vergangenheitsbewältigung Österreichs, wenn er Kanzler wird?

Strobl: Kickl war schon mal Innenminister. Und als solcher hat er mit einer Polizeieinheit zur Bekämpfung der Strassenkriminalität die Büros des Verfassungsschutzes durchsuchen lassen. Die haben Daten und Akten mitgenommen, die für immer verschwunden sind. Das hat das Vertrauen anderer Geheimdienste in den österreichischen erschüttert. Bis heute: Auch die Informationen zum geplanten Anschlag auf das Taylor-Swift-Konzert in Wien gingen nicht über den österreichischen Geheimdienst, sondern über den militärischen Abwehrdienst. Das muss man über Kickl als Politiker wissen. Es ist völlig klar, was man mit ihm bekommt. Der wird seine Politik durchziehen. Konventionen, Gesetze – das spielt dann keine Rolle mehr. Wenn die FPÖ an die Macht kommt, hat sie Zugriff auf die Medien, den Kulturbereich, den Sozialstaat, die Schulen, die Staatsanwaltschaften. Und es wird keinen Klimaschutz geben.

Kickl kann allerdings nur Kanzler werden, wenn die ÖVP es zulässt.

ÖVP-Chef Nehammer behauptet, es gebe keine Regierung mit Kickl. Aber das Vertrauen in die ÖVP ist aufgebraucht. Sie hat schon in mehreren Bundesländern versprochen, nicht mit der FPÖ im Landtag zusammenzugehen – und es dann doch getan.

Eine Brandmauer hat es in Österreich ohnehin nie gegeben.

Es gibt nicht mal ein Löschblatt. Aber wenn die ÖVP tatsächlich mit Kickl einen rechtsextremen Kanzler zulässt, ist das die grösste Zäsur, die man sich vorstellen kann.


Donnerstag, 19. September 2024

Gender, Sex und anderes was Unruhe verursacht

 Adrian Daub: Judith Butler:Hat hier jemand «Gender» gesagt?

in: WOZ Nr. 25; 20. Juni 2024
https://www.woz.ch/2425/judith-butler/hat-hier-jemand-gender-gesagt/!V05FMXWVZT4A

In ihrem neuen Buch zeichnet die Philosophin Judith Butler nach, wie die Gendertheorie zum Hassobjekt nicht nur von Rechten werden konnte – und was das mit dem neuen Autoritarismus zu tun hat.

Judith Butler darf von sich behaupten, das heutige Verständnis von Geschlecht und Identität stark beeinflusst zu haben. Inwiefern aber ihr Werk schlicht von Kritiker:innen benutzt wird, um ebendieses Verständnis zum Problem zu erklären, ist eine offene Frage. Und diese Frage steht hinter Butlers neuem, bislang erst auf Englisch erschienenen Buch, «Who’s Afraid of Gender?». Es ist das erste von ihr, das in einem grossen Publikumsverlag erschienen ist und sich explizit an eine breitere Öffentlichkeit wendet.

Der Schlüssel zu «Who’s Afraid of Gender?» kommt sehr spät, auf Seite 289. In den Danksagungen erzählt Butler, wie sie und ihre Partnerin 2017 im Flughafen in São Paulo von einem rechten Mob angegriffen wurden. «Mein erster Dank», so beginnt sie, «geht an den jungen Mann mit dem Rucksack, der sich zwischen uns und einen Angreifer warf und der die Prügel abbekam, die mir galten. Ich wünschte, ich würde seinen Namen kennen.»

So erschreckend der Zwischenfall für Butler gewesen sein muss, man versteht, wieso er sie auch zum Nachdenken inspiriert hat: Wie kommt es, dass eine Theoretikerin, die 1990 ein Buch bei einem Wissenschaftsverlag veröffentlicht, 27 Jahre später von einem Mob durch einen Flughafen gejagt wird? In «Who’s Afraid of Gender?» sucht Butler nach den Bedingungen, die diese Entwicklung ermöglicht haben. «Indem ich versuchte zu reflektieren, wer diese erzürnten Menschen waren, die uns eines chaotischen und reisserischen Bündels an Sexualverbrechen bezichtigten, beschloss ich, über die Bewegung der Anti-Gender-Ideologie zu schreiben.»

Jahrzehntelanger Feldzug
«Who’s Afraid of Gender?» zeichnet die Geschichte dieser Ideologie nach – was gar nicht so einfach ist, gerade für jemanden wie Butler. Denn es gibt beide jeweils mehrfach: den Genderbegriff und Judith Butler. Einmal gibt es die Philosophin und ihr Werk, sechzehn Bücher allein mit ihr als einziger Autorin. Und dann gibt es die propagandistische Schreckgestalt, die die Angreifer in São Paolo zu stellen versuchten – und als Puppe verbrannten. Es gibt «Gender» als Begriff, «Gender» als Forschungsgegenstand, und dann gibt es die Karikatur von «Gendergaga», «Genderideologie» und so weiter, gegen die rechte Politiker:innen, die katholische Kirche und «genderkritische» Feminist:innen seit Jahrzehnten einen Feldzug führen.

Von all diesen Versionen handelt Butlers neues Buch. Es ist eben auch die Summa einer Karriere, die – gerade in Fragen von Gender – zu einem Grossteil aus dem Korrigieren oft böswilliger Missverständnisse bestand. Aber vor allem geht es dem Buch um die Substanz und ideologischen Quellen dieser Missverständnisse.

Um das ein wenig auseinanderzudividieren: «Gender» als Begriff kam im feministischen Aktivismus und in der feministischen Forschung im Laufe der 1970er Jahre auf, doch die Ursprünge des Begriffs gehen noch viel weiter zurück. So hat die Historikerin Susan Stryker im Englischen eine Verwendung von «Gender» als gesellschaftlicher Rollenzuschreibung aufgrund des Geschlechts bereits im 19. Jahrhundert nachgewiesen. Und auch der berühmte Satz von Simone de Beauvoir, man werde nicht als Frau geboren, sondern zu einer solchen gemacht, greift dieser theoretischen Intervention schon voraus.

Sosehr man, gerade im deutschsprachigen Raum, Butler mit dem Begriff assoziiert: Nur ein Bruchteil dessen, was «Gender» heisst, kommt in der Tat von Judith Butler. «Genderstudien» sind erst einmal nichts weiter als die Anerkennung der Tatsache, dass man nicht unhinterfragt mit den Kategorien «Mann» und «Frau» operieren sollte – oder dass man die Welt besser analysiert, wenn man es nicht tut. Auch hier hakt Butler in ihrem Buch nach: Wie kam es zu dieser Verknappung, dieser Zuspitzung des Begriffs? Wieso bezeichnen angeblich intellektuell ambitionierte Medien auch in Deutschland den Forschungsbereich Gender Studies als «unwissenschaftlich», «quasireligiös» oder «sektenhaft», als «Neognostik»?

Die zweite Folge des «What's left?»-Podcast über die US-Wirtschaft mit Adam Tooze anhören
Butlers Beitrag zu diesem Bereich, vor allem in ihrem epochalen Buch «Gender Trouble» (1990, deutsch: «Das Unbehagen der Geschlechter»), bestand nicht etwa darin, dass sie den Genderbegriff etabliert hätte, sondern dass sie dessen englischen Gegenbegriff dekonstruierte: «Sex» als biologisches Geschlecht. Anstatt von einem natürlichen Geschlecht auszugehen, das dann in die soziale Konstruktion von Gender mündet, schlug Butler damals vor, das angeblich natürliche Geschlecht als Rückprojektion von Gender zu verstehen. Die behauptete Natürlichkeit des biologischen Geschlechts sei ein Versuch, die Instabilität gesellschaftlich konstruierter Genderkategorien künstlich zu stabilisieren.

#FreeSpeechBus – bizarre Kampagne
In diesem Kontext fällt dann auch das Stichwort «Performativität», das seit 1990 reihenweise Missverständnisse hervorgerufen hat. Dabei meint der Begriff zunächst einmal nicht viel mehr, als dass Gender eben kein Ausdruck einer bereits feststehenden Identität ist, sondern in einem gesellschaftlichen Prozess immer wieder produziert wird. Die Idee ­einer Geschlechtsidentität hat keine Substanz; vielmehr wird durch Wiederholung der Anschein einer Substanz erzeugt. Wie Butler in «Who’s Afraid of Gender?» schreibt, sei auch die Geschlechtszuordnung bei der Geburt «nicht einfach eine Bekanntgabe des Geschlechts» oder eine «Feststellung anatomischer Tatsachen». Denn mit der Geschlechtszuordnung äussere sich auch «eine Reihe von Wünschen und Erwartungen vonseiten der Erwachsenen».

Es ist klar, warum das vielen Verfechter:innen von traditionellen, vermeintlich «natürlichen» Geschlechterrollen ein Dorn im Auge ist. Deren Kritik bezog sich allerdings von Anfang an auf Dinge, die Butler nie behauptet hatte. Erinnert sei hier an den #FreeSpeechBus, der 2017 durch Frankreich kurvte, um Angst vor der «Gendertheorie» zu schüren, die angeblich in französischen Klassenzimmern den Kindern aufgezwungen wurde. Auf dem Bus prangte das Bild eines bizarren Frankenstein-Kindes, das halbseitig stereotyp als Junge dargestellt war, zur anderen Hälfte als Mädchen, und dem ein Aufziehmechanismus aus dem Kopf wuchs. «Meine Identität ist kein Spiel», stand über dem Kind, nach dem sich zu allem Überfluss auch noch eine gruselige Erwachsenenhand ausstreckte. «Die Schule sagt unseren Kindern: Junge oder Mädchen, das kann man auswählen. Finden Sie das normal?»

An einem bizarren Artefakt wie dem #FreeSpeechBus erkennt man gut, dass Butlers Theorien mitdenken muss, wer Anti-Gender-Bewegungen erklären will. Denn wenn die Dekorateur:innen des Busses von Gender als einem «Spiel», einem «Auswählen» fabulieren, beziehen sie sich eindeutig auf eine gängige Fehlinterpretation von Butlers Konzept von Performativität. Der Slogan, der auf dem Bus prangte, erklärte einigermassen kryptisch: «Die Geschlechtertheorie existiert nicht, und doch kehrt sie zurück.» Die gespenstische Wiederkehr von etwas, was gar nicht existiert? Der #FreeSpeechBus bestätigt hier unfreiwillig Butlers These von Gender als Phantasma, als Angstbild.

Nach dem «Unbehagen der Geschlechter», ihrem zweiten Buch, bestand Butlers Karriere vor allem darin, diese Position zu verteidigen und zu erklären – von «Bodies That Matter» (1993, «Körper von Gewicht») bis hin zu «Undoing Gender» (2004, «Die Macht der Geschlechternormen und die Grenzen des Menschlichen»). Ab den nuller Jahren kam ein anderer Themenkomplex hinzu: der Krieg gegen den Terror, etwa in den Büchern «Precarious Life» (2004) und «Frames of War» (2009), und eine Kritik des Zionismus im Buch «Parting Ways. Jewishness and the Critique of Zionism» (2012). Es ist dieser Themenkomplex, der Butler in den letzten zehn Jahren im deutschen Sprachraum einen besonders negativen Leumund eingebracht hat.

Breiter Angriff auf den Feminismus
Sosehr die Frage von Butlers Vermächtnis auch über ihrem neusten Buch schwebt: Was «Who’s Afraid of Gender?» eigentlich leistet, ist eine Rekonstruktion jener reaktionären Bewegung, die sich seit ungefähr der Jahrtausendwende um die Gegnerschaft zum Wort «Gender» schart – wozu der #FreeSpeechBus genauso gehört wie die kruden Thesen einer J. K. Rowling oder die antisemitischen Verschwörungstheorien eines Viktor Orbán. Butlers auf den ersten Blick frappierendes Fazit: Die Anti-Gender-Bewegung ist eigentlich kein blosser Backlash gegen Queer Theory oder gegen die stärkere Sichtbarkeit von trans Personen. Eigentlich ziele die Bewegung auf den Feminismus ab, und zwar nicht auf den queeren, postmodernen, intersektionalen, sondern auf die alte, angeblich so fest etablierte zweite Welle. «In vielen Ländern», so Butler, «ist der Angriff auf Gender genauso ein Angriff auf den Feminismus, insbesondere auf die reproduktive Freiheit, wie auf die Rechte von trans Personen, die Homoehe und die Sexualerziehung.»

Die Anfänge der Anti-Gender-Bewegung macht Butler in Lateinamerika fest, insbesondere unter erzkonservativen Katholiken. Angesichts der Homoehe begann das Angstwort «Gender» dann, Bewegungen zu bündeln, die eigentlich gerade ein Debakel nach dem anderen erlebten: etwa die katholische Rechte in Europa, die gegen die Homoehe in Frankreich Sturm lief, oder auch evangelikale US-Kirchen, die sich nach dem verlorenen Kampf gegen die Ehe für alle darauf verlegten, LGBTIQ+-Rechte in Afrika und Südamerika zu bekämpfen. Die Stichwortgeber der Anti-Gender-Bewegung ortet Butler im polnischen Ordo-Iuris-Institut oder im Umfeld des Mathias-Corvinus-Collegiums in Budapest, weswegen für ein europäisches Publikum vergleichsweise viele alte Bekannte im Buch vorkommen: Papst Benedikt XVI., Marine Le Pen, die Fidesz-Partei von Viktor Orbán in Ungarn, die neofaschistischen Fratelli d’Italia, aber auch Wladimir Putin und die AfD.

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Gerade in der westlichen Welt hat der durchschlagende Erfolg von «Gender» als Phantasma auch damit zu tun, dass sich längst nicht mehr nur stramm Rechte und/oder Religiöse davon aktivieren lassen. Denn je widersprüchlicher diese Bewegung sei, so Butler, als desto effektiver habe sie sich erwiesen. Als der Supreme Court in den USA im Juni 2022 das seit 1973 geltende bundesweite Recht auf Abtreibung abschaffte, hatte eine ihrem Selbstverständnis nach feministische Kolumnistin der «New York Times» danach nichts Besseres zu tun, als sich darüber zu beschweren, dass eine gemeinnützige Organisation für Abtreibungsrechte in einer Pressemitteilung das Wort «Frauen» nicht verwendet und eine andere schon mal von «gebärenden Personen» statt von «Frauen» gesprochen habe. Die Artikel derselben Kolumnistin zu trans Personen schmücken heute die gerichtlichen Anträge der Alliance Defending Freedom, einer christlich-konservativen Organisation, die weltweit gegen LGBTIQ+- und Frauenrechte kämpft.

«Gender» macht als Hassobjekt auch diese Art Schulterschlüsse möglich, ohne die die Rückschritte für Frauen und sexuelle Minderheiten, die sich in den letzten Jahren gerade in der US-Politik häufen, kaum möglich oder mehrheitsfähig wären. Ohne die transfeindlichen Äusserungen von öffentlichen Intellektuellen wie J. K. Rowling oder der britischen Philosophin Kathleen Stock wäre dieser rechte Rollback sehr viel klarer als solcher sichtbar.

Im Grunde genommen sind es zwei miteinander wetteifernde Formen der Globalisierung, die Butler in ihrer Erzählung gegenüberstellt. Einerseits hatte das Genderparadigma in seinen verschiedenen Formen in der Tat grossen Einfluss. Aber den weitaus grösseren internationalen Erfolg konnte der stark globalisierte Anti-Gender-Diskurs verbuchen: von afrikanischen Staaten mit starkem evangelikalem Einfluss über illiberale Demokratien in Osteuropa bis zu Donald Trump und Russland unter Putin.

Global betrachtet, hat Butlers Beschreibung natürlich ihre Grenzen, denn es gibt Länder, in denen LGBTIQ+-Personen noch einmal stärker bedroht sind als in Orbáns Ungarn. Doch die Unterdrückung der Frauen etwa im Iran hat mit Sorgen über eine angebliche «Genderideologie» eher wenig zu tun. Der Anti-Gender-Diskurs ist ein Zurückdrängungsdiskurs, er geht, etwa in den USA, mit dem Verbot der Abtreibung einher oder will trans Personen aus dem öffentlichen Raum verdrängen. Er arbeitet sich an feministischen und queeren Fortschritten ab, will diese zurückdrehen.

Butlers Argument ist, dass Gender Studies und der Anti-Gender-Diskurs eigentlich nur relativ mittelbar miteinander verknüpft sind – Gemecker über Gender gab es schon vor «Das Unbehagen der Geschlechter» oder bevor man genderte. Denn es geht den Feind:innen von Gender um sehr viel mehr als um Doppelpunkte oder Pronomina. Es geht um den Feminismus, um Homophobie, um sämtliche Freiheitsansprüche jenseits des Patriarchats. Das bekam Butler in São Paulo zu spüren, aber das bekommen LGBTIQ+-Personen überall zu spüren.

Auch Butler kann Common Sense
Womit wir wieder auf Seite 289 wären, in São Paulo, wo 2017 eine Judith-Butler-Puppe unter «Hexe!»-Rufen verbrannt wird. Warum liefert ein Buch, zumal das Buch einer an Freud geschulten Denkerin wie Butler, seine Urszene erst auf Seite 289? Das hat System, denn Butler selber ist im eigenen Buch einigermassen dezentriert. Ihre Erfahrungen, Theorien, Freund- und Feindschaften fliessen klar in die Analyse ein. Aber eigentlich fällt hier eher ihre Zurückhaltung auf. Das Spielerische an Butlers Stil, die Lust an verschachtelten Konstruktionen und am Wortspiel, ist hier kaum zu finden. Das Buch liest sich gut, die notorisch verworrene Prosa ist hier weitgehend geglättet.

Der Grund dafür liegt auf der Hand: Butler ist sich nach mehr als dreissig Jahren nur zu bewusst, in welche Fallen sie tappen kann, wenn sie zu theoretisch auftritt, ja dass das Wort «Theorie» selber immer stärker unter Beschuss gerät. Und sie weiss auch, dass die Menschen, die sie in diesem Buch kritisiert, sich gewohnheitsmässig auf den Common Sense berufen und die unmittelbare Plausibilität der eigenen Positionen betonen. Anti-Gender-Positionen haben, so Butler, einen «Ton der Vernünftigkeit», selbst wenn sie in Wahrheit pure Ideologie sind. Und in dieser Pose des «gesunden Menschenverstands» treffen sich hart rechte Kräfte mit solchen, die sich eigentlich für liberal oder gar links halten. Ihre Allianz aufzuweichen, scheint das heimliche Ziel von Butlers Buch zu sein. Sie übt sich dabei selber in einem Ton der Vernünftigkeit, der Geduld.

Wer eine Ideologie kritisiert, die ihre eigene ideologische Prägung nicht anerkennt, muss einen betont unideologischen Stil bemühen, auch wenn er oder sie an einen unideologischen Stil nicht glaubt. Und das ist das Hauptprojekt dieses Buches: Es geht um einen reaktionären Diskurs, der mit dem Nimbus einer Wissenschaftlichkeit spricht; und um eine Panik, die nicht reflektiert, wie stark sie von Affekten geleitet ist. Es ist nicht schwer zu verstehen, warum Butler in der Anti-Gender-Bewegung einen Hauptkanal sieht, über den der neue Autoritarismus seinen Weg in die vermeintlich liberale Öffentlichkeit findet. Genderkritiker:innen reden ständig von Propaganda, Diktatur und Indoktrination – dem also, was sie selber nicht ganz so heimlich befürworten.

Judith Butler: «Who’s Afraid of Gender?». Farrar, Straus & Giroux. New York 2024. 320 Seiten. 40 Franken.



Dienstag, 30. Juli 2024

Weltenbrand?

Jürgen Habermas 

Krieg und Empörung. Schriller Ton, moralische Erpressung: Zum Meinungskampf zwischen ehemaligen Pazifisten, einer schockierten Öffentlichkeit und einem abwägenden Bundeskanzler nach dem Überfall auf die Ukraine.

Süddeutsche Zeitung (SZ) vom 28. April 2022

77 Jahre nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs und 33 Jahre nach Beendigung eines nur im Gleichgewicht des Schreckens bewahrten, wenn auch bedrohten Friedens sind die aufwühlenden Bilder eines Krieges zurückgekehrt – vor unserer Tür und von Russland willkürlich entfesselt. Wie nie zuvor beherrscht die mediale Präsenz dieses Kriegsgeschehens unseren Alltag. Ein ukrainischer Präsident, der sich mit der Macht der Bilder auskennt, sorgt für eindrucksvolle Botschaften. Die täglich neuen Szenen von roher Zerstörung und aufrüttelndem Leiden finden in den sozialen Medien des Westens ein selbstverstärkendes Echo. Das Neue an der Veröffentlichung und kalkulierten Öffentlichkeitswirksamkeit eines unberechenbaren Kriegsgeschehens mag uns Ältere dabei mehr beeindrucken als die mediengewohnten Jüngeren.

Aber gekonnte Inszenierung hin oder her – es sind Tatsachen, die an unseren Nerven zerren und zu deren schockierender Wirkung das Bewusstsein von der territorialen Nähe dieses Krieges beiträgt. So wächst unter den Zuschauern im Westen die Beunruhigung mit jedem Toten, die Erschütterung mit jedem Ermordeten, die Empörung mit jedem Kriegsverbrechen – und der Wunsch, auch etwas dagegen zu tun. Der rationale Hintergrund, vor dem diese Emotionen landesweit aufwallen, ist die selbstverständliche Parteinahme gegen Putin und eine russische Regierung, die einen massiven völkerrechtswidrigen Angriffskrieg vom Zaune gebrochen haben und die mit ihrer systematisch menschenverachtenden Kriegführung gegen das humanitäre Völkerrecht verstoßen. Selbstgewissheit und Aggression der Ankläger gegen Olaf Scholz sind irritierend. Trotz dieser einhelligen Parteinahme bahnt sich unter den Regierungen des westlichen Staatenbündnisses ein differenziertes Vorgehen an; und in Deutschland ist ein schriller, von Pressestimmen geschürter Meinungskampf über Art und Ausmaß der militärischen Hilfe für die bedrängte Ukraine ausgebrochen. Die Forderungen der unschuldig bedrängten Ukraine, die die politischen Fehleinschätzungen und falschen Weichenstellungen früherer Bundesregierungen umstandslos in moralische Erpressungen ummünzt, sind so verständlich, wie die Emotionen, das Mitgefühl und das Bedürfnis zu helfen, die sie bei uns allen auslösen, selbstverständlich sind.

Und doch irritiert mich die Selbstgewissheit, mit der in Deutschland die moralisch entrüsteten Ankläger gegen eine reflektiert und zurückhaltend verfahrende Bundesregierung auftreten. Seine Politik bringt der Bundeskanzler im Interview mit dem Spiegel mit dem Satz auf den Punkt: „Wir treten dem Leid, das Russland in der Ukraine anrichtet, mit allen Mitteln entgegen, ohne dass eine unkontrollierbare Eskalation entsteht, die unermessliches Leid auf dem ganzen Kontinent, vielleicht sogar in der ganzen Welt auslöst.“ Nachdem sich der Westen entschlossen hat, in diesen Konflikt nicht als Kriegspartei einzugreifen, gibt es eine Risikoschwelle, die ein ungebremstes Engagement für die Aufrüstung der Ukraine ausschließt. Diese ist durch den jüngsten Schulterschluss unserer Regierung mit den Alliierten in Ramstein ebenso wie durch Lawrows erneute Drohung mit dem Einsatz von Atomwaffen soeben wieder in ein grelles Licht gerückt worden. Wer ungeachtet dieser Schwelle den Bundeskanzler in aggressiv-selbstgewissem Tenor in diese Richtung immer weiter vorantreiben will, übersieht oder missversteht das Dilemma, in das der Westen durch diesen Krieg gestürzt wird; denn dieser hat sich mit dem auch moralisch gut begründeten Entschluss, nicht Kriegspartei zu werden, selbst die Hände gebunden.

Der Bundeskanzler besteht zu Recht auf einer politisch zu verantwortenden Abwägung. Das Dilemma, das den Westen zur risikoreichen Abwägung von Alternativen im Raum zwischen zwei Übeln – einer Niederlage der Ukraine oder der Eskalation eines begrenzten Konflikts zum dritten Weltkrieg – nötigt, liegt auf der Hand. Einerseits haben wir aus dem Kalten Krieg die Lehre gezogen, dass ein Krieg gegen eine Atommacht nicht mehr in irgendeinem vernünftigen Sinne „gewonnen“ werden kann, jedenfalls nicht mit Mitteln militärischer Gewalt innerhalb der überschaubaren Frist eines heißen Konflikts. Das atomare Drohpotenzial hat zur Folge, dass die bedrohte Seite, ob sie nun selber über Atomwaffen verfügt oder nicht, die in jedem Fall unerträglichen Zerstörungen militärischer Gewaltanwendung nicht durch einen Sieg, sondern bestenfalls mit einem für beide Seiten gesichtswahrenden Kompromiss beenden kann. Dann wird keiner Seite eine Niederlage zugemutet, die sie als „Verlierer“ vom Feld gehen lässt. Die derzeit mit den Kämpfen noch parallel laufenden Waffenstillstandsverhandlungen sind ein Ausdruck dieser Einsicht; sie halten einstweilen den reziproken Blick auf den Gegner als möglichen Verhandlungspartner offen. Zwar hängt das russische Drohpotenzial davon ab, dass der Westen Putin den Einsatz von ABC-Waffen zutraut. Aber tatsächlich hat die CIA während der letzten Wochen schon vor der aktuellen Gefahr sogenannter „kleiner“ Atomwaffen gewarnt (die offenbar nur deshalb entwickelt worden sind, um Kriege unter Atommächten wieder möglich zu machen). Das verleiht der russischen Seite einen asymmetrischen Vorteil gegenüber der Nato, die wegen des apokalyptischen Ausmaßes eines Weltkrieges – mit der Beteiligung von vier Atommächten – nicht zur Kriegspartei werden will.

Nun entscheidet Putin darüber, wann der Westen die völkerrechtlich definierte Schwelle überschreitet, jenseits derer er die militärische Unterstützung der Ukraine auch formal als Kriegseintritt des Westens betrachtet. Angesichts des unbedingt zu vermeidenden Risikos eines Weltenbrandes lässt die Unbestimmtheit dieser Entscheidung keinen Spielraum für riskantes Pokern. Selbst wenn der Westen zynisch genug wäre, die „Warnung“ mit einer dieser „kleinen“ Atomwaffen als Risiko einzukalkulieren, also schlimmstenfalls in Kauf zu nehmen, wer könnte garantieren, dass die Eskalation dann noch aufzuhalten wäre? Was bleibt, ist ein Spielraum für Argumente, die im Licht der fachlich notwendigen Kenntnisse und aller erforderlichen, nicht immer öffentlich zugänglichen Informationen sorgfältig abgewogen werden müssen, um begründete Entscheidungen treffen zu können. Der Westen, der ja schon mit der Verhängung drastischer Sanktionen von Anbeginn keinen Zweifel an seiner faktischen Kriegsbeteiligung gelassen hat, muss deshalb bei jedem weiteren Schritt der militärischen Unterstützung sorgfältig abwägen, ob er damit nicht auch die unbestimmte, weil von Putins Definitionsmacht abhängige Grenze des formalen Kriegseintritts überschreitet.

Andererseits kann sich der Westen aufgrund dieser Asymmetrie, wie auch die russische Seite weiß, nicht beliebig erpressen lassen. Würde dieser die Ukraine einfach ihrem Schicksal überlassen, wäre das nicht nur unter politisch-moralischen Gesichtspunkten ein Skandal, es läge auch nicht im eigenen Interesse. Denn dann müsste er erwarten, das gleiche russische Roulette demnächst wiederum im Falle von Georgien oder der Republik Moldau spielen zu müssen – und wer wäre der Nächste? Gewiss, die Asymmetrie, die den Westen längerfristig in eine Sackgasse treiben könnte, besteht ja nur so lange, wie sich dieser aus guten Gründen scheut, einen nuklearen Weltkrieg zu riskieren. Mithin wird dem Argument, Putin nicht in die Ecke zu drängen, weil er dann zu allem fähig sei, entgegnet, dass erst diese „Politik der Furcht“ dem Gegner freie Hand lässt, die Eskalation des Konflikts Schritt für Schritt voranzutreiben (Ralf Fücks in der SZ). Freilich bestätigt auch dieses Argument nur den Charakter einer schwer berechenbaren Lage. Denn solange wir aus guten Gründen entschlossen sind, für den Schutz der Ukraine nicht als eine weitere Partei in den Krieg einzutreten, müssen Art und Umfang der militärischen Unterstützung auch unter diesem Gesichtspunkt qualifiziert werden. Wer sich auf rational vertretbare Weise gegen eine „Politik der Furcht“ wendet, bewegt sich schon innerhalb des Argumentationsspielraums jener politisch zu verantwortenden und sachlich umfassend informierten Abwägung, auf der Bundeskanzler Olaf Scholz zu Recht besteht.

Deutsche Leitmedien breiten Spekulationen zu Putin aus wie zu besten Sowjetzeiten. Dabei geht es um die Beachtung einer aus unserer Sicht für Putin zustimmungsfähigen Interpretation einer rechtlich definierten Grenze, die wir uns selbst auferlegt haben. Die echauffierten Gegner der Regierungslinie sind, wenn sie die Implikationen einer Grundsatzentscheidung, die sie nicht in Frage stellen, leugnen, inkonsequent.

Der Entschluss zur Nichtbeteiligung bedeutet nicht, dass der Westen die Ukraine up to the point of immediate involvement dem Schicksal ihres Kampfes mit einem überlegenen Gegner überlassen muss. Seine Waffenlieferungen können offensichtlich den Verlauf eines Kampfes, den die Ukraine selbst um den Preis großer Opfer weiterzuführen entschlossen ist, günstig beeinflussen. Aber ist es nicht ein frommer Selbstbetrug, auf einen Sieg der Ukraine gegen die mörderische russische Kriegführung zu setzen, ohne selbst Waffen in die Hand zu nehmen?

Die kriegstreiberische Rhetorik verträgt sich schlecht mit der Zuschauerloge, aus der sie wortstark tönt. Denn sie entkräftet ja nicht die Unberechenbarkeit eines Gegners, der alles auf eine Karte setzen könnte. Das Dilemma des Westens besteht darin, dass er einem gegebenenfalls auch zur atomaren Eskalation bereiten Putin nur durch eine sich selbst begrenzende militärische Unterstützung der Ukraine, die diesseits der roten Linie eines völkerrechtlich definierten Kriegseintritts bleibt, den Grundsatz signalisieren kann, dass er auf der Integrität staatlicher Grenzen in Europa besteht.

Die kühle Abwägung einer sich selbst begrenzenden Militärhilfe wird zusätzlich kompliziert durch die Einschätzung der Motive, die die russische Seite zu ihrem offensichtlich falsch kalkulierten Entschluss bewogen haben. Die Konzentration auf die Person Putins führt zu wilden Spekulationen, die unsere Leitmedien heute wie zu den besten Zeiten der spekulativen Sowjetologie ausbreiten. Das heute vorherrschende Bild vom entschlossen revisionistischen Putin bedarf wenigstens des Abgleichs mit einer rationalen Einschätzung seiner Interessen. Auch wenn Putin die Auflösung der Sowjetunion für einen großen Fehler hält, kann das Bild des verstiegenen Visionärs, der mit dem Segen der russisch-orthodoxen Kirche und unter dem Einfluss des autoritären Ideologen Alexander Dugin die schrittweise Wiederherstellung des großrussischen Reiches als seine politische Lebensaufgabe betrachtet, kaum die ganze Wahrheit über seinen Charakter widerspiegeln. Aber auf solche Projektionen stützt sich die weitgehende Annahme, dass sich die aggressiven Absichten Putins über die Ukraine hinaus auf Georgien und die Republik Moldau, sodann auf die Nato-Mitglieder des Baltikums und schließlich bis weit in den Balkan hinein erstrecken. Kann dieser Krieg gegen eine Atommacht also „gewonnen“ werden?

Diesem Persönlichkeitsbild eines wahnhaft getriebenen Geschichtsnostalgikers steht ein Lebenslauf des sozialen Aufstiegs und der Karriere eines im KGB geschulten rational kalkulierenden Machtmenschen gegenüber, den die Westwendung der Ukraine und die politische Widerstandsbewegung in Belarus in seiner Beunruhigung über den politischen Protest in den fortschreitend liberaler denkenden Kreisen der eigenen Gesellschaft bestärkt haben.

Aus dieser Sicht wäre die wiederholte Aggression eher als die frustrierte Antwort auf die Weigerung des Westens zu verstehen, über Putins geopolitische Agenda zu verhandeln – vor allem über die internationale Anerkennung seiner völkerrechtswidrigen Eroberungen und die Neutralisierung eines „Vorfeldes“, das die Ukraine einschließen sollte. Das Spektrum dieser und ähnlicher Spekulationen vertieft nur die Ungewissheit eines Dilemmas, das „äußerste Vorsicht und Zurückhaltung gebietet“ (so das Fazit einer lehrreichen Analyse von Peter Graf Kielmansegg in der FAZ vom 19. April 2022).

Wie erklärt sich dann aber die innenpolitisch aufgeheizte Debatte über die von Bundeskanzler Scholz immer wieder bekräftigte Politik einer in Übereinstimmung mit den EU- und den Nato-Partnern überlegten Solidarität mit der Ukraine? Um die Themen zu entflechten, lasse ich den Streit über die Fortsetzung der bis zum Ende der Sowjetunion und auch noch darüber hinaus erfolgreichen Entspannungspolitik gegenüber einem unberechenbar gewordenen Putin, die sich nun als folgenreicher Fehler herausgestellt hat, beiseite; ebenso den Fehler deutscher

Regierungen, sich auch unter dem Druck der Wirtschaft von billigen russischen Ölimporten abhängig zu machen. Über das kurze Gedächtnis der heutigen Kontroversen wird eines Tages das Urteil der Historiker entscheiden.

Anders verhält es sich mit der Debatte, die sich unter dem bedeutungsträchtigen Namen einer „neuen deutschen Identitätskrise“ schon jetzt mit den Konsequenzen der zunächst nüchtern auf die deutsche Ostpolitik und den Verteidigungshaushalt bezogenen „Zeitenwende“ befasst. Denn diese Debatte, die vor allem an Beispiele der erstaunlichen Konversion friedensbewegter Geister anknüpft, soll einen historischen Wandel der von rechts immer wieder denunzierten, tatsächlich schwer genug errungenen Nachkriegsmentalität der Deutschen ankündigen

– und damit überhaupt das Ende eines auf Dialog und Friedenswahrung angelegten Modus der deutschen Politik.

Schon ist die emotional ergriffene Außenministerin zur Ikone geworden. Diese Lesart fixiert sich auf das Beispiel jener Jüngeren, die zur Empfindlichkeit in normativen Fragen erzogen worden sind, ihre Emotionen nicht verstecken und am lautesten ein stärkeres Engagement einfordern. Sie erwecken den Eindruck, als habe sie die völlig neue Realität des Krieges aus ihren pazifistischen Illusionen herausgerissen. Das erinnert auch an die zur Ikone gewordene Außenministerin, die unmittelbar nach Kriegsbeginn mit glaubwürdigen Gesten und einer bekenntnishaften Rhetorik der Erschütterung einen authentischen Ausdruck verliehen hat. Nicht als stünde sie damit nicht auch für das Mitgefühl und den Impuls zu helfen, die in unserer Bevölkerung allgemein verbreitet sind; aber sie hat darüber hinaus der spontanen Identifizierung mit dem ungestüm moralisierenden Drängen der zum Sieg entschlossenen ukrainischen Führung eine überzeugende Gestalt gegeben. Damit berühren wir den Kern des Konflikts zwischen denen, die empathisch, aber unvermittelt die Perspektive einer um ihre Freiheit, ihr Recht und ihr Leben kämpfenden Nation einnehmen, und denen, die aus den Erfahrungen des Kalten Krieges eine andere Lehre gezogen und – wie doch die auf unseren Straßen Protestierenden auch – eine andere Mentalität ausgebildet haben. Die einen können sich einen Krieg nur unter der Alternative von Sieg oder Niederlage vorstellen, die anderen wissen, dass Kriege gegen eine Atommacht nicht mehr i herkömmlichen Sinne „gewonnen“ werden können.

Grob gesagt, bilden die eher national und die eher postnational geprägten Mentalitäten von Bevölkerungen den Hintergrund für verschiedene Einstellungen zu Krieg überhaupt. Diese Differenz wird deutlich, wenn man den bewunderten heroischen Widerstand und die selbstverständliche Opferbereitschaft der ukrainischen Bevölkerung mit dem vergleicht, was von „unseren“, sagen wir verallgemeinernd, westeuropäischen Bevölkerungen in ähnlicher Situation zu erwarten wäre. In unsere Bewunderung mischt sich ein gewisses Erstaunen über die Siegesgewissheit und den ungebrochenen Mut der Soldaten und der für den Kampf rekrutierten Jahrgänge, die finster entschlossen sind, ihre Heimat gegen einen militärisch weit überlegenen Feind zu verteidigen. Demgegenüber setzen wir im Westen auf Berufsheere, die wir bezahlen, um uns gegebenenfalls nicht selbst mit der Waffe in der Hand schützen zu müssen, sondern von Berufssoldaten schützen zu lassen.

Noch muss übrigens mit ebenjenem Wladimir Putin verhandelt werden. Diese postheroische Mentalität hat sich im Westen Europas – wenn ich das so überverallgemeinernd sagen darf – während der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts unter dem atomaren Schutzschirm der USA ausbilden können. 

Im Hinblick auf die möglich gewordenen Verwüstungen eines Atomkrieges hat sich in den politischen Eliten und dem jeweils weit überwiegenden Teil der Bevölkerungen die Einsicht verbreitet, dass internationale Konflikte grundsätzlich nur durch Diplomatie und Sanktionen gelöst werden können – und dass im Fall des Ausbruchs von militärischen Konflikten der Krieg, da er nach menschlichem Ermessen im Hinblick auf das schwer kalkulierbare Risiko eines drohenden Einsatzes von ABC-Waffen nicht mehr im klassischen Sinne mit Sieg oder

Niederlage zu Ende geführt werden kann, so schnell wie möglich beigelegt werden muss: „Vom Krieg kann man nur lernen, Frieden zu machen“, sagt Alexander Kluge. Diese Orientierung bedeutet nicht etwa einen grundsätzlichen Pazifismus, also Frieden um jeden Preis. Die Orientierung an der möglichst schnellen Beendigung von

Destruktion, menschlichen Opfern und Entzivilisierung ist nicht gleichbedeutend mit der Forderung, eine politisch freie Existenz für das bloße Überleben aufzuopfern. Die Skepsis gegen das Mittel kriegerischer Gewalt findet prima facie eine Grenze an dem Preis, den ein autoritär ersticktes Leben fordert – ein Dasein, aus dem auch noch das Bewusstsein vom Widerspruch zwischen erzwungener Normalität und selbstbestimmtem Leben verschwunden wäre.

Die von den rechten Interpreten der Zeitenwende begrüßte Umkehr unserer ehemaligen Pazifisten erkläre ich mir  aus einer Konfusion jener beiden gleichzeitig aufeinanderstoßenden, aber historisch ungleichzeitigen Mentalitäten. Diese markante Gruppe teilt die Siegeszuversicht der Ukrainer und appelliert mit großer Selbstverständlichkeit an das verletzte internationale Recht. Nach Butscha verbreitete sich in Windeseile die Parole: „Putin nach Den Haag!“ Das signalisiert allgemein die Selbstverständlichkeit der normativen Maßstäbe, die wir heute an die internationalen Beziehungen anlegen, also das tatsächliche Ausmaß der Veränderung in den entsprechenden Erwartungen und humanitären Sensibilitäten der Bevölkerung.

In meinem Alter verhehle ich nicht eine gewisse Überraschung: Wie tief muss der Boden der kulturellen Selbstverständlichkeiten, auf dem unsere Kinder und Enkel heute leben, umgepflügt worden sein, wenn sogar die konservative Presse nach den Staatsanwälten eines Internationalen Strafgerichtshofes ruft, der weder von Russland und China noch von den USA anerkannt wird. Leider verrät sich in solchen Realitäten auch der doch noch hohl klingende Boden einer erregten Identifizierung mit den immer schriller gewordenen moralischen Anklagen der deutschen Zurückhaltung. Nicht als hätte es der Kriegsverbrecher Putin nicht verdient, vor einem solchen Gericht zu stehen; aber noch nimmt er im Sicherheitsrat der Vereinten Nationen den Sitz einer Vetomacht ein und kann seinen Gegnern mit Atomwaffen drohen. Noch muss mit ihm ein Ende des Krieges, wenigstens ein Waffenstillstand verhandelt werden. Ich sehe keine überzeugende Rechtfertigung für die Forderung nach einer Politik, die – im peinigenden, immer unerträglicher werdenden Anblick der täglich qualvolleren Opfer – den gleichwohl gut begründeten Entschluss der Nichtbeteiligung an diesem Krieg de facto aufs Spiel setzt.

Die Konversion der ehemaligen Pazifisten führt zu Fehlern und Missverständnissen. Politisch-mentale Differenzen, die sich aus ungleichzeitigen historischen Entwicklungen erklären, dürfen sich Verbündete nicht zum Vorwurf machen, sie sollten diese als Fakten zur Kenntnis nehmen und in ihrer Kooperation klug berücksichtigen. Aber solange diese Perspektiven bildenden Unterschiede im Hintergrund bleiben, verursachen sie wie im Falle der Reaktion der Abgeordneten auf die moralischen Ordnungsrufe des ukrainischen Präsidenten in seiner Videoansprache an den Bundestag nur eine Konfusion der Gefühle – ein Durcheinander zwischen ungaren Reaktionen der Zustimmung, des bloßen Verständnisses für die Perspektive des Anderen und der gebotenen Selbstachtung. Die Vernachlässigung der historisch begründeten Differenzen in der Wahrnehmung und Interpretation von Kriegen führt nicht nur, wie im Falle der brüsken Ausladung des deutschen Bundespräsidenten, zu folgenreichen Fehlern im Umgang miteinander. Sie führt, was schlimmer ist, zur einem reziproken Missverständnis dessen, was der andere tatsächlich denkt und will.

Diese Erkenntnis rückt auch die Konversion der einstigen Pazifisten in ein nüchterneres Licht. Denn sowohl die Empörung wie das Entsetzen und das Mitgefühl, die den motivationalen Hintergrund ihrer kurzschlüssigen Forderungen bilden, erklären sich ja nicht aus einer Absage an die normativen Orientierungen, über die sich die sogenannten Realisten immer schon mokiert haben. Sondern aus einer überprägnanten Lesart gerade dieser Grundsätze. Sie haben sich nicht zu Realisten bekehrt, sondern überschlagen sich geradezu in Realismus: Gewiss, ohne moralische Gefühle keine moralischen Urteile; aber das verallgemeinernde Urteil korrigiert auch seinerseits die beschränkte Reichweite der aus der Nähe stimulierten Gefühle.

Immerhin nicht zufällig sind die Autoren der „Zeitenwende“ jene Linken und Liberalen, die angesichts einer drastisch veränderten Konstellation der Großmächte – und im Schatten transatlantischer Ungewissheiten – mit einer überfälligen Einsicht Ernst machen wollen: Eine Europäische Union, die ihre gesellschaftliche und politische Lebensform weder von außen destabilisieren noch von innen aushöhlen lassen will, wird nur dann politisch handlungsfähig werden, wenn sie auch militärisch auf eigenen Beinen stehen kann. Macrons Wiederwahl markiert eine Galgenfrist. Aber zunächst müssen wir einen konstruktiven Ausgang aus unserem Dilemma finden.

Diese Hoffnung spiegelt sich in der vorsichtigen Formulierung des Zieles, dass die Ukraine den Krieg nicht verlieren darf.


Mittwoch, 27. Dezember 2023

Die Klimapolitik nährt längst nur noch Illusionen

Worüber niemand sprechen will. Die Begrenzung der Erderhitzung auf zwei Grad ist längst Illusion, sagt der US-amerikanische Schriftsteller Jonathan Franzen. Was schlägt er vor?

Interview von Peter Unfried mit Autor Jonathan Franzen, taz 19.12.2023


»WAS PASSIERT, WENN WIR UNS DARAUF EINIGEN, DASS DAS EH NICHT MEHR HINZUKRIEGEN IST?«

taz FUTURZWEI: Jonathan Franzen, seit Ihrem Klimaessay sind vier Jahre vergangen, die Emissionen steigen weiter, wir tun faktisch viel zu wenig, aber rhetorisch immer noch so, als seien wir auf dem Weg, das Paris-Abkommen – möglichst 1,5, mindestens unter zwei Grad – einzuhalten. Wie sehen Sie inzwischen die Lage?

Jonathan Franzen: Das ist für mich ein Problem des Klimaaktivismus. Auf der einen Seite muss man das düsterste drohende Szenario entwerfen, auf der anderen Seite muss man sagen: Wir haben noch etwas Zeit. Einer meiner beiden besten Freunde aus dem College ist Geologiephysiker an der Columbia, wie auch seine Frau. Wie die miteinander reden, hat überhaupt nichts mit dem zu tun, was offiziell gesagt wird.

Was ist denn offizieller Sprech?

Naja, fahrt mehr Fahrrad, dann wird das schon, und so ein Unsinn.

Wann haben Sie sich selbst denn eingestanden, dass die Klimakatastrophe nicht mehr zur verhindern ist?

Nach der Lektüre von Fachliteratur und basierend auf meinem Vertrauen in die Experten, mit denen ich gesprochen habe, vor allem aber auch durch viele Gespräche mit dem Umweltwissenschaftler Dale Jamieson und dessen Buch Reason in a Dark Time machte mich dieses schreckliche Spannungsfeld zwischen der Klimarealität und dem, was als Realität beschrieben wurde, total sauer. Das war unehrlich, selbstverständlich in den meisten Fällen gut gemeint, aber manchmal auch nur, um den eigenen Job zu retten. Dadurch existiert eben auch eine weniger sympathische, selbsterhaltende Kultur in diesen Instituten und NGOs, die einem erzählen, dass es noch nicht zu spät ist und wir das Klimaproblem immer noch lösen können.

Die Sorge ist, dass gar nichts mehr geht, wenn das Zwei-Grad-Ziel aufgegeben würde.

There you go.

Aber ich traue der Regierung nicht, denn ich weiß, wie der Hase läuft.

Wie denn?

Die Regierung, die Unternehmen und die Gewerkschaften in Kalifornien hassen Solarmodule auf Dächern. Ich frage Sie: Was würde hier denn mehr Sinn machen als Solardächer? Okay, schwierig für Arme, die die finanzielle Vorleistung nicht aufbringen können. Das müsste man also fördern, sodass es für alle funktioniert. Aber die Energieunternehmen wollen das nicht. Sie sagen: Moment mal, die Leute wollen das Produkt selbst herstellen, das wir verkaufen? Das ist aber gar nicht gut. Die wollen die Produktionsmittel kontrollieren, das bedeutet also gigantische Installationen. Im Moment sind Solarinstallateure in der Regel keine Gewerkschaftsmitglieder, weshalb die Gewerkschaften die Großprojekte in der südkalifornischen Mojave-Wüste lieben, weil das neue Jobs garantiert.

Bringen Sie Licht ins Dunkel mit einem Jahresabo der taz FUTURZWEI! Mit unserem Geschenkabo erhalten Sie einen Verschenkgutschein für die nächsten vier Ausgaben, dazu gibt es die Solarlampe „Little Sun“ von Olafur Eliasson. Das Geschenkabo endet automatisch nach einem Jahr.

Was ist mit der Politik?

Politisch steht die Biden-Regierung unter immensem Druck, dass schnell was passiert, und deshalb klüngeln Regierung und mächtige Gewerkschaften und die noch mächtigeren Energieunternehmen zusammen, um Umweltrestriktionen zu umgehen. Das empfinde ich als Zumutung, weil Leute ihre Energie lokal produzieren und irgendwann auch selbst verteilen und in manchen Fällen speichern könnten.

Kein gutes Wort?

Naja, ich schätze die These hinter dem Green New Deal. Dass dieser nicht zwangsläufig politisch auf verlorenem Posten steht, denn die Transformation zu erneuerbarer Energie sollte eine Menge neuer Arbeitsplätze schaffen, und zwar gute mittelständische Arbeitsplätze. So gewinnt man hier Wahlen.

»When I hear climate, I think jobs« – einen besseren Slogan als Joe Biden wird man schwer finden, um postfossile Wirtschaft mehrheitsfähig zu machen.

Der Slogan ist gut, aber nicht, wie er umgesetzt wird. Es ist nicht zu fassen, dass die grünen Organisationen auch gegen Solardächer sind, was sie damit rechtfertigen, dass diese nur für die Mittelschicht bezahlbar seien. Die Energieunternehmen sind ganz und gar nicht arm und total glücklich mit dieser Politik. Weil sie die Armen viel mehr lieben als ich? Das glaube ich nicht.

Die öffentliche Diskussion wird im Moment meist populistisch und an den großen Fragen vorbeigeführt. Wie entsteht eine Kultur, in der ernsthaft über die zentralen Probleme geredet wird?

Also für diese Art Perspektivblick bin ich nicht zuständig, schon gar nicht für positive Visionen.

That‘s a shame.

Für die immer katastrophaleren Klimaschocks kann ich ziemlich sicher neue Gefahren vorhersagen und auch, dass das Kommende die gegenwärtige Flüchtlingskrise aussehen lassen wird wie die gute alte Zeit.

Wir werden aktiv gegen Klimaflüchtlinge, aber nicht, um Solarmodule aufzustellen und andere Grundlagen dafür zu schaffen, dass Menschen nicht fliehen müssen?

Also, ich weiß nicht, wie das in Deutschland ist, aber wozu soll man in Kalifornien Kohle verbrennen, um Energie zu erzeugen, wenn es so viel Sonne gibt?

Das ist die herrschende Kultur und Machtstruktur, an die wir uns gewöhnt haben.

Nochmal: Ich bewerbe mich nicht um ein politisches Amt, und mein Publikum erwartet von mir auch nicht, gesagt zu bekommen, was es tun soll. Meine Stärke liegt vielmehr darin, die Situation zu erfassen, in der wir uns befinden. Ich pflege eine bestimmte Form von intuitiver politischer Analyse, etwa den Vormarsch nationalistischer Populisten, die den Leuten erzählen, dass ihnen die Einwanderer die Butter vom Brot nehmen. Das geht Hand in Hand mit den Rechten, von denen die meisten sehr genau über die Klimakrise Bescheid wissen und die ihre eigenen schrecklichen Gründe haben, so zu tun, als seien das alles Falschmeldungen. Und die in einer allgemeinverständlichen Sprache den Leuten erzählen, alles sei außer Kontrolle geraten, die Infrastrukturen brächen zusammen und Millionen und Abermillionen wollen in ihr Land rein ... haben Sie den Vogel gesehen?

Deutsch: Wann hören wir auf, uns etwas vorzumachen? Gestehen wir uns ein, dass wir die Klimakatastrophe nicht verhindern können (Rowohlt 2020)

Hab ich verpasst.

Jetzt ist er da hinten, dieser gelbe.

Wie kann man verhindern, dass jeder die Klimakrise für seine Zwecke instrumentalisiert?

Wie gesagt, ich mache solche Vorhersagen nicht. Aber wenn Sie mir die Pistole auf die Brust setzen und mich fragen, was ich will: Ich will ein ehrliches Gespräch mit allen Interessenvertretern. Es wäre auch interessant, was AOC zu sagen hat ...


... die Abgeordnete des Repräsentantenhauses, Alexandria Ocasio-Cortez, Gesicht der links-emanzipatorischen Milieus ...

... zum Beispiel zu Einwanderung, wenn in 15 Jahren große Teile der lateinamerikanischen Länder in Äquatornähe unbewohnbar sind. Die Leute wollen darüber nicht reden und sagen deshalb ganz schnell: Deshalb brauchen wir den Green New Deal.

Geht das gegen mich?

Können wir mal aufhören so zu tun, als ob Dinge plötzlich wie durch ein Wunder besser werden, und zugeben, dass mit großer Wahrscheinlichkeit die Dinge ganz schnell viel schlechter werden? Was machen wir dann? Was ist als US-Bürger politisch und moralisch zu tun, wenn dieses Land noch einigermaßen klarkommt, aber ein großer Teil der Welt nicht mehr? Das ist eine Frage, über die niemand sprechen will. Die Rechte tut so, als hätten wir nur ein, zwei schlechte Sommer. Und die Linke tut so, als würde man das Problem los, wenn man nur schön Fahrrad fährt und mehr Bäume pflanzt.

Und Sie setzen auf ein ehrliches Gespräch aller Interessenvertreter?

Wenn wir diese Repräsentanten für zwei Wochen in einen Raum bekämen, dann wäre ich auf das Ergebnis gespannt. Die bittere Realität ist nicht nur das wachsende Klimaproblem, sondern die Erschöpfung von Ressourcen und ein ökonomisches Modell, das auf einer weiteren Ausschöpfung von Ressourcen beruht. Darüber will niemand sprechen. Und dann gibt es noch zwei, drei, die sagen: Und was ist mit der Natur?

Sie, zum Beispiel. Sie haben erfolgreiche Klimapolitik interessanterweise genau in dem Jahr abgeschrieben, als bei mir und vielen neue Hoffnung aufkam: 2015 als das völkerrechtliche Übereinkommen von Paris getroffen wurde. Wie das?


Das war das Jahr, in dem ich Dale Jamiesons Buch las. Danach wollte ich mehr wissen und begann damals auch mit Wissenschaftlern zu sprechen. Ich hörte von so vielen aus der Naturschutzszene, dass die Ressourcen zu Ende gingen und alles nur noch Klima, Klima, Klima sei. Und man konnte ja bei genauer Lektüre des Pariser Abkommens sehen, dass das hübsche Worte waren. Aber entscheidend war Dales Buch, das in fünf Aspekten beschreibt, dass der Klimawandel ein Problem ist, das Menschen nicht lösen können.

Weil es keine Weltgesellschaft gibt, die kollektiv handeln könnte?

Ja. Aber auch aus kognitiven und ökonomischen Gründen. Es ist das eine, zu sagen, dass Kapitalismus schlimm ist, aber es gibt keinen unmittelbaren Ersatz

Wir haben immer noch Kommunismus.

Genau, Kommunisten, diese Freunde der Umwelt.

Die Ironie trifft es, ist aber etwas billig.

Mag sein, aber China kehrt auf eine Weise zum Hardcore-Kommunismus zurück, entwickelt kontinuierlich Kohlekraftwerke, zeigt außerdem ideologisch gefärbte Unfähigkeit, mit den plötzlich auftretenden ökonomischen Problemen umzugehen. Aber klar, wir können immer auch auf den Kommunismus zurückgreifen.

Let‘s not do it.

Let‘s not do it. Ich bin allergisch gegen Ideologien jeder Art.

Die sind überall.

Ich weiß, die kommen in allen möglichen Ausführungen, und mir gefällt keine davon. Um aber auf Ihre Frage zurückzukommen, was wir kulturell tun können, ich weiß nicht, ob ich Ihnen hier wirklich helfen kann, Peter.

Ihr Essay „Wann hören wir auf, uns etwas vorzumachen?“ hat mich mehrfach durchgeschüttelt, aber nichtsdestotrotz führe ich nach Ende der Lektüre stets mein gewohntes Leben und Denken weiter.

Das wird bei Dale erklärt, warum das auch Vorteile hat: weil wir ein Leben und Beziehungen zu führen haben und es Dinge gibt, die wir lieben, die uns wichtig sind – und das ist auch gut. Das geht den meisten Leuten so. Die jungen Aktivisten kritisieren die Boomer oder eigentlich so ziemlich jeden außer sich selbst, dass sie nicht 24/7 daran denken, was zu tun ist, um den Planeten zu retten. Daran wollen die meisten nicht denken. Sie denken: Ich sollte vielleicht mehr mit meinem Sohn lesen, irgendwie liest der nicht.

Was ein echtes Problem ist.

Ja, aber eben ein anderes Problem. Oder ich fange an, darüber nachzudenken, dass wir vielleicht kein Rindfleisch mehr essen sollten. Das sind diese kleinen Sachen, die im täglichen Leben auftauchen und die sind wichtig. Wir würden gern in Zeiten leben, in denen es nur um diese Dinge geht, aber leider ist das nicht so. Und trotzdem wollen wir, dass es nur darum geht.

Wir haben eine neue Obsession in Deutschland: Frührente. Aber nicht um die Welt zu retten, sondern um endlich – das ist das treibende Gefühl des Mittelklassen-Individualismus – Zeit für uns selbst zu haben, um das eigene Leben durch noch mehr Ausstellungen, Theater, Bücher anzureichern ...

Oder endlich dieses Jahr in Italien zu verbringen.

Genau.

Es gibt die persönliche Ebene der kleinen Dinge, die einen Menschen bewegen und es gibt das große Ganze. Aber dazwischen gibt es noch etwas, was genau vor deinen Augen ist. Bei den schrecklichen Waldbränden haben wir vor drei Jahren hier in der Stadt etwa 1.500 Gebäude verloren. Daraufhin kam erst Trump und behauptete, das sei keine Folge des Klimawandels, sondern des schlechten Managements des Staates Kalifornien, was ziemlich dumm war, da er als Präsident zuständig für die Bundeswälder war, in denen die meisten Feuer brannten. Doch es wurde noch schlimmer, als Kaliforniens Gouverneur Gavin Newsom ankam und meinte: Der Klimawandel kommt und es wird schrecklich, wenn wir nichts dagegen tun, deshalb werden wir hier in Kalifornien bis 2035 nur noch Elektroautos haben.

»ES GIBT ZWEI ARTEN VON LINKEN: DIE ALTMODISCHEN LYNDON-JOHNSON-LINKEN UND DIE SANTA-CRUZ-LINKEN.«

Was ist daran schlimm?

Warum sprach er nicht das eigentliche Problem an? Warum sprach er nicht davon, dass es künftig ein besseres Forstmanagement braucht, dass Programme aufgelegt werden müssen, um solche katastrophalen Brände zu vermeiden und die Menschen hier besser davor zu schützen? Das ist teuer, klar, aber es ist auch sehr teuer, aus Kalifornien in 15 Jahren ein hundertprozentiges Elektroautoland zu machen.

Warum tat er es nicht?

Das interessiert ihn nicht, weil er mit dem Klimawandel punkten will und die Waldbrände politisch benutzt, um diese Agenda voranzubringen. Und dann will er auch nicht zugeben, dass wir wirklich ein Problem mit dem Forstmanagement haben, weil Trump das ja gesagt hatte. Es stimmt selbstverständlich, dass Klimawandel diese Feuer noch begünstigt, aber das ist nicht das einzige Problem. Warum reden wir nicht über das, was wir jetzt in der Gegenwart brauchen? Eine bessere Forstwirtschaft.

Vermutlich, weil man damit keine Wahlen gewinnen und eines Tages Präsident werden kann?

Ich weiß es nicht. Wir hatten vor Newsom einen Gouverneur namens Jerry Brown. Ein großartiger Mann, problematisch, aber auch großartig. Ich würde gern glauben, dass Jerry Brown das Managementproblem nicht ignoriert hätte.

Wie kommen Sie darauf?

Er wurde Politiker, weil sein Vater Politiker war, okay. Aber er war auch immer einer, der dachte: Ich muss nicht nur politischen Bullshit machen.

Ihr Punkt ist jedenfalls, vom Abstrakten ins Konkrete zu kommen und die Gegenwart real zu gestalten, statt globale und abstrakte Ziele als Handlungsersatz zu verschärfen?

Es gibt das Globale und das Lokale. Unser Leben besteht zum Großteil aus Letzterem, und ich denke, dass hier die wichtigsten Dinge stattfinden, über die wir nachdenken sollten. Wie ich sagte: Solarmodule auf dem Dach sind zumindest in Kalifornien einfach sinnvoll. Der einzige Grund, warum man es nicht will: Es ist politisch schwieriger umzusetzen. Was auch der Grund ist, warum ich kein Politiker bin.

Es ist bei unsereins kulturell eingeübter, darüber zu reden, was Politiker tun müssten, als selbst zu handeln.

Stimmt. Das ist der Grund dafür, dass ich Sie hierher in das Homeless Garden Project gebeten habe: Das ist ein lokales Projekt und das schätze ich an Darrie Ganzhorn, der Leiterin hier: Sie redet nicht nur, sondern sorgt genau an diesem Ort, an dem wir jetzt sitzen, für eine Veränderung.

Wird das als politisch links verstanden?

Es gibt zwei Arten von Linken: die altmodischen Lyndon-Johnson-Linken, die sagen, wir brauchen ein Regierungsprogramm und müssen Billiarden dafür ausgeben. Und die Santa-Cruz-Linken, die finden, dass alles lokal passieren sollte.

Das ist konkret, aber als Weltverbesserungstheoretiker kommt uns so ein lokales Gartenprojekt einfach mickrig vor.

Mag sein, aber es gibt nun mal keine globale Community. Nordkorea gehört zu keiner Community, zu der ich gehöre. China ehrlicherweise auch nicht. Man muss kleiner werden, wenn man eine Community sucht, in der die Leute sich wirklich gegenseitig respektieren und versuchen, die Vision eines besseren Ortes zu leben.

Womit ich intellektuell beim Fokussieren auf das Lokale nicht klarkomme: Menschen, die sich auf eine überschaubare geografische Heimat beziehen, kritisieren wir Weltbürger gern als nationalistisch und selbstbezogen.

Das ist nicht selbstbezogen. Anders herum: Wem ich überhaupt nicht traue, sind Leute, die die ganze Menschheit lieben. Die ständig sagen: Ich liebe den, ich liebe den und den liebe ich auch.

Sie sagen, nicht nur die Rechte lügt, wenn sie den Klimawandel leugnet, sondern auch die Linke, wenn sie behauptet, dass das Problem noch zu lösen sei. Klimaaktivisten haben Sie dafür gehasst.

Naja, drei Tage lang auf Social Media. Aber ja, manche Leute haben das als bedrohlich empfunden und mich ganz schnell als privilegierten weißen Mann gelabelt.

Das ist eine identitäre Denkreduzierung und außerdem in Ihrem Fall richtig.

Ja, es ist richtig. Aber insgesamt habe ich immens positive Reaktionen bekommen, und bekomme sie immer noch. Wissen Sie eigentlich, dass ich den Essay, über den wir reden, ursprünglich als Rede geschrieben habe, die ich an diesem Ort hier gehalten habe?

Nee.

Zehn Meter von wo wir sitzen, stellen sie jedes Jahr ein Zelt auf und machen ein Fundraising-Dinner, wirklich gutes Bio-Essen. Darry fragte regelmäßig, ob ich dafür eine Rede halten könne und irgendwann sagte ich zu und schrieb diesen Essay. Und hinterher kamen die Leute und sagten: Danke, dass Sie das gesagt haben. Die Leute sind nicht dumm. Wenn man ihnen im Jahr 2000 sagt, dass wir noch zehn Jahre haben und dann 2010 erneut und 2020 ein weiteres Mal, dann werden sie nachdenklich.

Sie rechnen nach?

Ja. Hatten wir im Jahr 2000 noch dreißig Jahre oder haben wir jetzt eben keine zehn Jahre mehr, um alles zu ändern – was denn nun? Das ist das Problem, wenn man nicht die Wahrheit sagt. Es macht die Leute erst skeptisch und dann zynisch. Obwohl du ihnen die Lüge eigentlich erzählst, um sie zum Handeln zu bringen, fällt dir die Unehrlichkeit auf die Füße und führt dazu, dass die Wahrscheinlichkeit noch geringer wird, dass sie handeln.

»DAS IST DAS PROBLEM, WENN MAN NICHT DIE WAHRHEIT SAGT.«

Sie vergleichen das mit einer Religion, bei der die Botschaft lautet: Hört auf zu sündigen und wir vermeiden alle die Hölle. Aufklärung ernst nehmen, hieße zu sagen, es gibt keine Hölle, aber auch kein Paradies. Wir kommen mit Ratio voran, im Deutschen: Vernunft?

(Franzen wechselt ins Deutsche.)

Wir hätten das Gespräch auch auf Deutsch führen können.

Darauf hatte ich eigentlich gehofft.

Für ein Interview wie dieses aber lieber doch nicht.

(Wechselt ins Englische zurück.)

Es gibt Vernunft, und dann gibt es ein Wort, für das ich keine genaue deutsche Übersetzung kenne: kindness.

Nettigkeit, Freundlichkeit, Zugewandtheit, Sanftheit, Hilfsbereitschaft, Fürsorglichkeit?

Das trifft es alles nicht genau.

Was ist Ihr Punkt?

Selbst wenn man zu dem Schluss kommt, das Problem nicht lösen zu können, kann man doch versuchen, kind zu sein, die Leute gut und respektvoll zu behandeln und denen zu helfen, die Hilfe brauchen, wenn es in der eigenen Macht liegt. Das betrifft die menschliche Community, die Tierwelt, die Natur.

In „Wann hören wir auf, uns etwas vorzumachen?“ sagen Sie: Wir müssen Hoffnung neu definieren. Ist das jetzt Ihr Weg?

Seit ich den Essay schrieb, denke ich über kindness nach, weil es die Antithese ist zu dem, was auf Social Media passiert: Dort regiert das Gegenteil. Wassili Grossman hat sein Buch Leben und Schicksal nach den schlimmsten Jahren Europas geschrieben: dem Nationalsozialismus und dem Stalinismus. Er hat alles erlebt und alles überlebt. Kommunismus, ein Alptraum, Faschismus, ein noch größerer Alptraum.

Was war seine Erkenntnis?

Grossman hatte keine politische Lösung, deshalb schrieb er dieses gewaltige Buch, dessen Kern lautet: Was können wir tun? Wir können versuchen, kind zueinander zu sein.

Wohlwollend nachsichtig?

Das klingt verrückt und etwas christlich, aber das würde ich auf die Liste der Dinge nehmen, die wir immer noch tun können: kind miteinander umzugehen.

Gütig?

Donnerstag, 30. November 2023

Grundsätze der Solidarität

Die derzeitige Situation, die durch den an Grausamkeit nicht zu überbietenden Angriff der Hamas und Israels Reaktion darauf geschaffen wurde, hat zu einer Kaskade von moralisch-politischen Stellungnahmen und Demonstrationen geführt. Wir sind der Auffassung, dass bei all den widerstreitenden Sichtweisen, die geäußert werden, einige Grundsätze festzuhalten sind, die nicht bestritten werden sollten. Sie liegen der recht verstandenen Solidarität mit Israel und Jüdinnen und Juden in Deutschland zugrunde.

Das Massaker der Hamas in der erklärten Absicht, jüdisches Leben generell zu vernichten, hat Israel zu einem Gegenschlag veranlasst. Wie dieser prinzipiell gerechtfertigte Gegenschlag geführt wird, wird kontrovers diskutiert; Grundsätze der Verhältnismäßigkeit, der Vermeidung ziviler Opfer und der Führung eines Krieges mit der Aussicht auf künftigen Frieden müssen dabei leitend sein. Bei aller Sorge um das Schicksal der palästinensischen Bevölkerung verrutschen die Maßstäbe der Beurteilung jedoch vollends, wenn dem israelischen Vorgehen genozidale Absichten zugeschrieben werden.

Insbesondere rechtfertigt das Vorgehen Israels in keiner Weise antisemitische Reaktionen, erst recht nicht in Deutschland. Es ist unerträglich, dass Jüdinnen und Juden in Deutschland wieder Drohungen gegen Leib und Leben ausgesetzt sind und vor physischer Gewalt auf der Straße Angst haben müssen. Mit dem demokratischen, an der Verpflichtung zur Achtung der Menschenwürde orientierten Selbstverständnis der Bundesrepublik verbindet sich eine politische Kultur, für die im Lichte der Massenverbrechen der NS-Zeit jüdisches Leben und das Existenzrecht Israels zentrale, besonders schützenswerte Elemente sind. Das Bekenntnis dazu ist für unser politisches Zusammenleben fundamental. Die elementaren Rechte auf Freiheit und körperliche Unversehrtheit sowie auf Schutz vor rassistischer Diffamierung sind unteilbar und gelten gleichermaßen für alle. Daran müssen sich auch diejenigen in unserem Land halten, die antisemitische Affekte und Überzeugungen hinter allerlei Vorwänden kultiviert haben und jetzt eine willkommene Gelegenheit sehen, sie ungehemmt auszusprechen.

Nicole Deitelhoff, Rainer Forst, Klaus Günther und Jürgen Habermas

7. Oktober ist nicht der Beginn der Geschichte der Gewalt

Philosophin Judith Butler spricht im Interview mit der Frankfurter Rundschau über moralische Argumente in Bezug auf den Nahost-Konflikt und warum die Hamas bestraft und Israels Krieg verurteilt werden muss.

Judith Butler ist weltweit eine der bekanntesten Persönlichkeiten im Feld der Philosophie. In Deutschland gibt es eine breite Anhängerschaft besonders unter Studierenden, das belegt der Zuspruch bei ihren Auftritten an deutschen Universitäten. Aufgrund ihrer Haltung zu Israel ist Judith Butler aber in den letzten Jahren in die Kritik geraten, besonders in Deutschland. Gestern erklärte sie daher in einigen kurzen Statements für die Wochenzeitung „Die Zeit“, dass sie Angst habe, sich in Deutschland öffentlich zu zeigen, da sie massiv bedroht werde.

Sie ist Mitunterzeichnerin des Briefes „Philosophy for Palestine“, der aufgrund einer mangelnden Inblicknahme des Terroranschlags der Hamas am 7. Oktober kritisiert worden ist. Unter anderem kritisierte die Politologin Sheyla Benhabib den offenen Brief in scharfer Form. Wir hatten die Gelegenheit, Judith Butler einige Fragen zu stellen, um ihre Position, die genau wie die der anderen Interviewpartner:innen nicht die Position der Frankfurter Rundschau wiedergibt, darzustellen, so dass die Leserschaft sich selbst ein Urteil über den komplexen Sachverhalt bilden kann.

Philosophin Judith Butler im Interview – „7. Oktober ist nicht der Beginn der Geschichte der Gewalt“

Professor Butler, wie bewerten Sie den Terrorangriff der Hamas auf Israel und die israelische Reaktion im Gazastreifen?

Ein Grund, warum es für mich schwierig ist, der deutschen Presse Interviews zu geben, ist, dass es nicht viele gemeinsame Annahmen zwischen dem deutschen Diskurs und dem Rest der internationalen Gemeinschaft gibt. Viele Deutsche reagieren reflexartig, indem sie Israel bedingungslos unterstützen, aus Angst, dass jede Kritik ein Zeichen von Antisemitismus sein könnte. Weil es wichtig ist, seine Unterstützung für Israel zu signalisieren, stellt man sich die Frage: Wer ist schuld? Und dann muss die Antwort lauten: die eine oder die andere Partei. Wenn man sich für die eine Seite entscheidet, ist man ein Antisemit, wenn man sich für die andere Seite entscheidet, hat man sich erfolgreich gegen den Vorwurf des Antisemitismus gewehrt.

Bei allem Respekt möchte ich also darauf hinweisen, dass wir, wenn wir fragen, wer die Schuld trägt, alle Schäden und alle Akteure benennen müssen, auch wenn die Schäden nicht alle gleich sind, auch wenn nicht alle Akteure die gleiche Macht ausüben.

Das heißt?

Die an der israelischen Zivilbevölkerung begangenen Gräueltaten waren entsetzlich und können weder hingenommen noch rationalisiert werden. Aber wenn wir uns für die Gründe interessieren, warum es zu dieser Gewalt kam, sollten wir in der Lage sein, die Geschichte zu rekonstruieren, um sie besser zu verstehen. Historisch zu verstehen, warum es zu dieser Gewalt kam, ist nicht gleichbedeutend mit der Billigung von Gewalt. Eine Geschichte darzustellen und ein moralisches Urteil zu fällen, ist nicht dasselbe.

Wenn wir aber sagen, dass wir nur ein moralisches Urteil wollen und dass die Geschichte in dieser Angelegenheit nicht wichtig ist, dann haben wir eine Entscheidung getroffen, unsere Welt und ihre Entstehung nicht zu verstehen. Das ist eine gefährliche Entscheidung, wenn Unwissenheit und Slogans an die Stelle von historischen Untersuchungen und klaren moralischen Argumenten treten. So wie Sie diese Frage stellen, beginnt das Ereignis am 7. Oktober. Aber der 7. Oktober ist nicht der Beginn der Geschichte der Gewalt.

Sondern?

Wenn wir nur daran interessiert sind, zu klären, wer für die Anschläge am 7. Oktober verantwortlich ist, dann beginnen wir die Geschichte an diesem Tag. Wenn wir aber verstehen wollen, wie es zu diesen Anschlägen kam, dann müssen wir viel früher mit der historischen Erklärung beginnen. In der Tat müssten wir die letzten 75 Jahre verstehen, die Nakba, den Verrat an den Palästinensern durch das Oslo-Abkommen, die Geschichte der Bombardierungen des Gazastreifens und die Gewalt der Siedler gegen palästinensische Dörfer. Jetzt, wo ich diese Liste anbiete, könnte man sagen: Siehst du, Butler rechtfertigt die Gewalt, aber nein, ich versuche, eine Geschichte zu kontextualisieren, die nicht am 7. Oktober beginnt. Wenn wir wissen wollen, wer für den 7. Oktober verantwortlich ist, dann nennen wir die Hamas.

Wenn wir wissen wollen, was die Gewalt in der Region reproduziert, um der Gewalt endgültig Einhalt zu gebieten, dann müssen wir mit den Historikern zusammenarbeiten, um die selbsternannte Kolonisierung dieser Länder durch die politischen Zionisten, die Bedingungen, unter denen der Staat Israel gegründet wurde, und die Geschichte der Enteignung, Entrechtung, Inhaftierung, Belagerung und Bombardierung zu verstehen. Wenn wir Frieden für die Region und eine Zukunft anstreben, in der alle Bewohner des Landes unter Bedingungen der Gleichheit und Freiheit leben, dann müssen wir gemeinsam neu darüber nachdenken, wie sich Staatsgebilde im Laufe der Zeit verändern können und sollten.

Hysterische Debatte

 Als Mitunterzeichnerin des Manifests "Philosophy for Palestine" ist die US-Philosophin Nancy Fraser jüngst in die Kritik geraten: Verhindert das Eintreten für die palästinensische Sache die Empathie mit den israelischen Opfern der beispiellosen Terrorattacke vom 7. Oktober? Israels Eingreifen in Gaza wird von Fraser, Judith Butler und rund 200 anderen Mitunterschreibenden als "sich entfaltender Genozid" bezeichnet. Anstatt Empathie mit den Opfern des Anschlags zu bekunden, wird Israels Rolle als "Aggressor" hervorgehoben und ihm gegenüber ein kulturell-akademischer Boykott heraufbeschworen.

STANDARD: Verstehen Sie Einwände gegen "Philosophy for Palestine" wie denjenigen von Seyla Benhabib? Solcher, die das Leid der Palästinenser sehen und zu beendigen wünschen und dennoch die beispiellose Barbarei des Massakers vom 7. Oktober nicht einfach beiseitewischen?

Fraser: Die türkischstämmige US-Philosophin Seyla Benhabib ist eine langjährige Freundin von mir. Ihre Antwort auf "Philosophy for Palestine" hat mich aus einer Reihe von Gründen enttäuscht. Zunächst halte ich die Art und Weise für sehr unangebracht, in der sie das Manifest wiedergibt. Unser Statement verkleinert in keiner Weise die Brutalität und abstoßende Gewalt des Anschlags, den Hamas-Attentäter am 7. Oktober begangen haben. Benhabib stellt fälschlich fest, wir würden die Hamas unterstützen – als hätte diese Organisation die Vorreiterrolle bei der Befreiung Palästinas inne. Nichts dergleichen wird von uns behauptet.

STANDARD: Wie kann es dann zu solchen Auffassungsunterschieden kommen?

Fraser: Das Ganze erscheint mir als Symptom einer Hysterie. Das erschwert die Führung einer angemessenen Debatte. Statements wie dasjenige von Benhabib zerstören die Hoffnung auf einen sofortigen Waffenstillstand. Nur ein solcher könnte aber den Auftakt bilden zu politischen Verhandlungen. Es muss das Ziel sein, eine Form der Autonomie und politischen Selbstbestimmung für Palästina zu finden. Ob das nun einen selbstständigen Staat meint, der an der Seite Israels existiert, oder eine Zweistaatenlösung in Form einer Föderation: Ich halte eine ganze Reihe von Modellen für denkmöglich. Wir, die Unterzeichner, lehnen kein einziges von ihnen von vornherein ab. Trotzdem bedarf es eines Waffenstillstands und des sehr ernsthaften Willens, einen solchen Prozess unverzüglich in die Wege zu leiten.

STANDARD: Auf welcher Grundlage soll das geschehen?

Fraser: Nicht auf derjenigen der Abrahams Accords Declaration von 2020. Eine Normalisierung der Beziehungen zwischen Israel und Saudi-Arabien, die die Frage nach der Zukunft Palästinas komplett vernachlässigt, hat eine tickende Zeitbombe hinterlassen. Diese ist soeben mit verheerenden Auswirkungen explodiert. Ich persönlich möchte die Hamas nicht im Geringsten als führende Vertreter der palästinensischen Sache sehen. Mich wird nur niemand fragen.

STANDARD: Wo bleibt in diesen Überlegungen die israelische Perspektive? Die eines Landes, das von lauter Todfeinden umgeben ist?


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Fraser: Das palästinensische Anliegen ist von höchster, drängender Bedeutung. Umgekehrt ist es richtig, dass sich die Gründungsgeschichte Israels in vielfacher Weise von der Geschichte anderer Siedlungskolonisatoren unterscheidet. Es wurde von Flüchtlingen gegründet, die der Vernichtung durch den Holocaust entronnen waren. Es ist weiters richtig, dass Juden durch ihre Überlieferung eine außerordentliche enge Beziehung zum Heiligen Land unterhalten. In der Geschichte der jüdischen Diaspora spielt folgender Satz eine ausschlaggebende Rolle: "Nächstes Jahr in Jerusalem!" Ich betone: Das lässt sich zum Beispiel nicht mit den Buren vergleichen, die sich einen Teil Afrikas aneigneten.

STANDARD: Aber damit beglaubigen Sie die berechtigten Ansprüche Israels.

Fraser: Es ist fortlaufend zu Enteignungen durch Israel gekommen, zu einem Verdrängungsprozess. Von ihm betroffen war die Mehrzahl der Bewohner Palästinas. Ich halte, mit Blick auf die aktuelle Situation, den Begriff Apartheid für angemessen.

STANDARD: Weckt er nicht völlig unangebrachte Assoziationen? Israel ist eine Demokratie.

Fraser: Sobald man darüber diskutiert, setzt man sich dem Antisemitismusvorwurf aus. Susan Neiman hat den vor allem in Deutschland wirksam werdenden Mechanismus in der New York Review of Books unlängst recht eindrucksvoll beschrieben. Sie bezeichnet ihn als eine Art von "philosemitischen McCarthyismus". Künstler und Intellektuelle, die Kritik an Israel üben, werden antisemitischer Umtriebe in ähnlicher Weise beschuldigt, wie es in den 1950ern der republikanische Senator McCarthy mit seiner antikommunistischen Hexenjagd – unter dem Vorwand "unamerikanischer Umtriebe" – tat.

STANDARD: Hinkt dieser Vergleich nicht?

Fraser: Die Idee lautet: Die Deutschen müssen, um sich von ihrer Holocaust-Schuld frei zu wissen, die Juden in die Rolle unschuldiger Opfer drängen. Mir geht es um den Mechanismus, der dabei wirksam wird, ein "McCarthy-haftes" Abwürgen jeglicher Debatte. Würde man unser "Philosophy for Palestine"-Manifest im STANDARD zum Wiederabdruck bringen, es würde allen Leserinnen und Lesern schlagartig klar: Der Text enthält nichts Anstößiges. Unter seinen Unterzeichnern finden sich zahlreiche jüdische Menschen. Das Manifest wird durch eine stark verzerrende Linse gelesen. Das wirft ein trauriges Licht auf die Beschaffenheit heutiger Öffentlichkeit.

STANDARD: Stößt Philosophie zu solchen Gelegenheiten nicht an ihre Grenzen? Gerade dann, wenn sie glaubt, Unrecht anprangern zu müssen?

Fraser: Viele palästinensische Stimmen artikulieren sich zum ersten Mal in den USA. Dazu kommt, dass viele jüngere Juden sich von der Politik der israelischen Regierung distanzieren. Es verläuft ein Riss durch die jüdische US-Bevölkerung. Es entstehen neue Allianzen, etwa zwischen Black Lives Matter und palästinensischen Gruppen. Solche Bündnisse gründen auf geteilten Erfahrungen, zum Beispiel durch Polizeigewalt. Aktuell entstehen neue Räume, und eine Vielzahl von Meinungsbekundungen dringt an die Öffentlichkeit. Viele von ihnen werden mit dem Antisemitismusvorwurf konfrontiert. Mir scheint durch die aufgeheizte Debatte der Beweis erbracht: Etwas am Diskurs steht im Begriff, sich zu verändern.

STANDARD: Nochmals: Woher beziehen Philosophinnen und Philosophen ihr Wissen über Unrecht?

Fraser: Philosophen besitzen keine spezielle "Expertise", wir sprechen als Staatsbürger. Für Intellektuelle ist es nichts Ungewöhnliches, Verantwortungsgefühl zu verspüren. Speziell beeindruckt hat mich dieser Tage ein Protest jüdischer Aktivisten, die plakatierten: "Nicht in unserem Namen!" Das verstehe ich unter einem kraftvollen Eintreten für jüdische Identität. Das hat nichts zu tun mit der aktuellen israelischen Regierungspolitik. Wer glaubt, ein Angriff auf diese Politik ist ein Angriff auf die Juden schlechthin, befindet sich im Irrtum.

Interviewer Ronald Pohl, 14.11.2023 Der Standard

Mittwoch, 29. November 2023

The Compass of Mourning

 Judith Butler: The Compass of Mourning

The matters most in need of public discussion, the ones that most urgently need to be discussed, are those that are difficult to discuss within the frameworks now available to us. Although one wishes to go directly to the matter at hand, one bumps up against the limits of a framework that makes it nearly impossible to say what one has to say. I want to speak about the violence, the present violence, the history of violence and its many forms. But if one wishes to document violence, which means understanding the massive bombardment and killings in Israel by Hamas as part of that history, one can be accused of ‘relativising’ or ‘contextualisation’. We are to condemn or approve, and that makes sense, but is that all that is ethically required of us? In fact, I do condemn without qualification the violence committed by Hamas. This was a terrifying and revolting massacre. That was my primary reaction, and it endures. But there are other reactions as well.
 

Almost immediately, people want to know what ‘side’ you are on, and clearly the only possible response to such killings is unequivocal condemnation. But why is it we sometimes think that asking whether we are using the right language or if we have a good understanding of the historical situation would stand in the way of strong moral condemnation? Is it really relativising to ask what precisely we are condemning, what the reach of that condemnation should be, and how best to describe the political formation, or formations, we oppose? It would be odd to oppose something without understanding it or without describing it well. It would be especially odd to believe that condemnation requires a refusal to understand, for fear that knowledge can only serve a relativising function and undermine our capacity to judge. And what if it is morally imperative to extend our condemnation to crimes just as appalling as the ones repeatedly foregrounded by the media? When and where does our condemnation begin and end? Do we not need a critical and informed assessment of the situation to accompany moral and political condemnation, without fearing that to become knowledgeable will turn us, in the eyes of others, into moral failures complicitous in hideous crimes?
 

There are those who do use the history of Israeli violence in the region to exonerate Hamas, but they use a corrupt form of moral reasoning to accomplish that goal. Let’s be clear, Israeli violence against Palestinians is overwhelming: relentless bombing, the killing of people of every age in their homes and on the streets, torture in their prisons, techniques of starvation in Gaza and the dispossession of homes. And this violence, in its many forms, is waged against a people who are subject to apartheid rules, colonial rule and statelessness. When, however, the Harvard Palestine Solidarity Committee issues a statement claiming that ‘the apartheid regime is the only one to blame’ for the deadly attacks by Hamas on Israeli targets, it makes an error. It is wrong to apportion responsibility in that way, and nothing should exonerate Hamas from responsibility for the hideous killings they have perpetrated. At the same time, this group and its members do not deserve to be blacklisted or threatened. They are surely right to point to the history of violence in the region: ‘From systematised land seizures to routine airstrikes, arbitrary detentions to military checkpoints, and enforced family separations to targeted killings, Palestinians have been forced to live in a state of death, both slow and sudden.’
 

This is an accurate description, and it must be said, but it does not mean that Hamas’s violence is only Israeli violence by another name. It is true that we should develop some understanding of why groups like Hamas gained strength in light of the broken promises of Oslo and the ‘state of death, both slow and sudden’ that describes the lived existence of many Palestinians living under occupation, whether the constant surveillance and threat of administrative detention without due process, or the intensifying siege that denies Gazans medication, food and water. However, we do not gain a moral or political justification for Hamas’s actions through reference to their history. If we are asked to understand Palestinian violence as a continuation of Israeli violence, as the Harvard Palestine Solidarity Committee asks us to do, then there is only one source of moral culpability, and even Palestinians do not own their violent acts as their own. That is no way to recognise the autonomy of Palestinian action. The necessity of separating an understanding of the pervasive and relentless violence of the Israeli state from any justification of violence is crucial if we are to consider what other ways there are to throw off colonial rule, stop arbitrary arrest and torture in Israeli prisons, and bring an end to the siege of Gaza, where water and food is rationed by the nation-state that controls its borders. In other words, the question of what world is still possible for all the inhabitants of that region depends on ways to end settler-colonial rule. Hamas has one terrifying and appalling answer to that question, but there are many others. If, however, we are forbidden to refer to ‘the occupation’ (which is part of contemporary German Denkverbot), if we cannot even stage the debate over whether Israeli military rule of the region is racial apartheid or colonialism, then we have no hope of understanding the past, the present or the future. So many people watching the carnage via the media feel so hopeless. But one reason they are hopeless is precisely that they are watching via the media, living within the sensational and transient world of hopeless moral outrage. A different political morality takes time, a patient and courageous way of learning and naming, so that we can accompany moral condemnation with moral vision.
I oppose the violence that Hamas has inflicted and have no alibi to offer. When I say that, I am making clear a moral and political position. I do not equivocate when I reflect on what that condemnation presupposes and implies. Anyone who joins me in this condemnation might want to ask whether moral condemnation should be based on some understanding of what is being opposed. One might say, no, I don’t need to know anything about Palestine or Hamas to know that what they have done is wrong, and to condemn it. And if one stops there, relying on contemporary media representations, without ever asking whether they are actually right and useful, whether they let the histories be told, then one accepts a certain ignorance and trusts in the framework presented. After all, we are all busy, and we cannot all be historians or sociologists. That is a possible way to think and live, and well-intentioned people do live that way. But at what cost?
 

What if our morality and our politics did not end with the act of condemnation? What if we insisted on asking what form of life would release the region from violence such as this? What if, in addition to condemning wanton crimes, we wanted to create a future in which violence of this sort came to an end? That is a normative aspiration that goes beyond momentary condemnation. To achieve it, we have to know the history of the situation, the growth of Hamas as a militant group in the devastation of the post-Oslo moment for those in Gaza to whom promises of self-governance were never made good; the formation of other groups of Palestinians with other tactics and goals; and the history of the Palestinian people and their aspirations for freedom and the right of political self-determination, for release from colonial rule and pervasive military and carceral violence. Then we might be part of the struggle for a free Palestine in which Hamas would be dissolved, or superseded by groups with non-violent aspirations for cohabitation.
For those whose moral position is restricted to condemnation alone, understanding the situation is not the goal. Moral outrage of this sort is arguably both anti-intellectual and presentist. Yet outrage could also drive a person to the history books to find out how events such as these could happen and whether conditions might change such that a future of violence isn’t all that is possible. It should not be the case that ‘contextualisation’ is considered a morally problematic activity, even though there are forms of contextualisation that can be used to shift the blame or to exonerate. Can we distinguish between those two forms of contextualisation? Just because some think that contextualising hideous violence deflects from or, worse, rationalises the violence, that doesn’t mean we should capitulate to the claim that all forms of contextualisation are morally relativising in that way. When the Harvard Palestine Solidarity Committee claims that ‘the apartheid regime is the only one to blame’ for the attacks by Hamas, it is subscribing to an unacceptable version of moral accountability. It seems that to understand how an event has come about, or what meaning it has, we have to learn some history. That means we have to widen the lens beyond the appalling present moment, without denying its horror, at the same time as refusing to let that horror represent all the horror there is to represent, to know, and to oppose. The contemporary media, for the most part, does not detail the horrors that Palestinian people have lived through for decades in the form of bombings, arbitrary attacks, arrests and killings. If the horrors of the last days assume a greater moral importance for the media than the horrors of the last seventy years, then the moral response of the moment threatens to eclipse an understanding of the radical injustices endured by occupied Palestine and forcibly displaced Palestinians – as well as the humanitarian disaster and loss of life happening at this moment in Gaza.
 

Some people justifiably fear that any contextualisation of the violent acts committed by Hamas will be used to exonerate Hamas, or that the contextualisation will take attention away from the horror of what they did. But what if it is the horror itself that leads us to contextualise? Where does this horror begin, and where does it end? When the press talks about a ‘war’ between Hamas and Israel, it offers a framework for understanding the situation. It has, in effect, understood the situation in advance. If Gaza is understood as under occupation, or if it is referred to as an ‘open-air prison’, then a different interpretation is conveyed. It seems like a description, but the language constricts or facilitates what we can say, how we can describe and what can be known. Yes, the language can describe, but it gains the power to do so only if it conforms to the limits imposed on what is sayable. If it is decided that we don’t need to know how many Palestinian children and adolescents have been killed in both the West Bank and in Gaza this year or over the years of occupation, that this information is not important for knowing or assessing the attacks on Israel and the killings of Israelis, then we have decided that we do not want to know the history of violence, mourning and outrage as it is lived by Palestinians. We only want to know the history of violence, mourning and outrage as it is lived by Israelis. An Israeli friend, a self-described ‘anti-Zionist’, writes online that she is terrified for her family and friends, that she has lost people. And our hearts should go out to her, as mine surely does. It is unequivocally terrible. And yet, is there no moment where her own experience of horror and loss over her friends and family is imagined to be what a Palestinian might be feeling on the other side, or has felt after the years of bombardment, incarceration and military violence? I am also a Jew who lives with transgenerational trauma in the wake of atrocities committed against people like me. But they were also committed against people not like me. I do not have to identify with this face or that name in order to name the atrocity I see. Or, at least, I struggle not to.
In the end, though, the problem is not simply a failure of empathy. For empathy mainly takes form within a framework that allows for identification to be accomplished, or for a translation between another’s experience and my own. And if the dominant frame considers some lives to be more grievable than others, then it follows that one set of losses is more horrifying than another set of losses. The question of whose lives are worth grieving is an integral part of the question of whose lives are worth valuing. And here racism enters in a decisive way. If Palestinians are ‘animals’, as Israel’s defence minister insists, and if Israelis now represent ‘the Jewish people’ as Biden insists (collapsing the Jewish diaspora into Israel, as reactionaries demand), then the only grievable people in the scene, the only ones who present as eligible for grief, are the Israelis, for the scene of ‘war’ is now staged between the Jewish people and the animals who seek to kill them. This is surely not the first time that a group of people seeking release from colonial shackles has been figured as animals by the coloniser. Are the Israelis ‘animals’ when they kill? This racist framing of contemporary violence recapitulates the colonial opposition between the ‘civilised ones’ and the ‘animals’ who must be routed or destroyed so as to preserve ‘civilisation’. If we adopt this framework in the course of declaring our moral opposition, we find ourselves implicated in a form of racism that extends beyond the utterance to the structure of everyday life in Palestine. And for that a radical reparation is surely in order.
 

If we think that moral condemnation must be a clear, punctual act without reference to any context or knowledge, then we inevitably accept the terms in which that condemnation is made, the stage on which the alternatives are orchestrated. In this most recent context, to accept those terms means recapitulating forms of colonial racism which are part of the structural problem to be solved, the abiding injustice to be overcome. Thus, we cannot afford to look away from the history of injustice in the name of moral certitude, for that is to risk committing further injustice, and at some point our certitude will falter on that less than firm ground. Why can’t we condemn morally heinous acts without losing our powers to think, to know and to judge? Surely we can, and must, do both.
The acts of violence we are witnessing in the media are horrible. And in this moment of heightened media attention, the violence that we see is the only violence we know. To repeat: we are right to deplore that violence and to express our horror. I have been sick to my stomach for days. Everyone I know lives in fear of what the Israeli military machine will do next, whether Netanyahu’s genocidal rhetoric will materialise in the mass killing of Palestinians. I ask myself whether we can mourn, without qualification, for the lives lost in Israel as well as those lost in Gaza without getting bogged down in debates about relativism and equivalence. Perhaps the wider compass of mourning serves a more substantial ideal of equality, one that acknowledges the equal grievability of lives, and gives rise to an outrage that these lives should not have been lost, that the dead deserved more life and equal recognition for their lives. How can we even imagine a future equality of the living without knowing, as the United Nations Office for the Coordination of Humanitarian Affairs has documented, that Israeli forces and settlers had killed nearly 3800 Palestinian civilians since 2008 in the West Bank and Gaza even before the current actions began. Where is the world’s mourning for them? Hundreds of Palestinian children have died since Israel began its ‘revenge’ military actions against Hamas, and many more will die in the days and weeks to come.
It need not threaten our moral positions to take some time to learn about the history of colonial violence and to examine the language, narratives and frameworks now operating to report and explain – and interpret in advance – what is happening in this region. That kind of knowledge is critical, but not for the purposes of rationalising existing violence or authorising further violence. Its aim is to furnish a truer understanding of the situation than an uncontested framing of the present alone can provide. Indeed, there may be further positions of moral opposition to add to the ones we have already accepted, including an opposition to military and police violence saturating Palestinian lives in the region, taking away their rights to mourn, to know and express their outrage and solidarity, and to find their own way towards a future of freedom.
 

Personally, I defend a politics of non-violence, in the knowledge that it cannot possibly operate as an absolute principle to be applied on all occasions. I maintain that liberation struggles that practise non-violence help to create the non-violent world in which we all want to live. I deplore the violence unequivocally at the same time as I, like so many others, want to be part of imagining and struggling for true equality and justice in the region, the kind that would compel groups like Hamas to disappear, the occupation to end, and new forms of political freedom and justice to flourish. Without equality and justice, without an end to the state violence conducted by a state, Israel, that was itself founded in violence, no future can be imagined, no future of true peace – not, that is, ‘peace’ as a euphemism for normalisation, which means keeping structures of inequality, rightlessness and racism in place. But such a future cannot come about without remaining free to name, describe and oppose all the violence, including Israeli state violence in all its forms, and to do so without fear of censorship, criminalisation, or of being maliciously accused of antisemitism. The world I want is one that would oppose the normalisation of colonial rule and support Palestinian self-determination and freedom, a world that would, in fact, realise the deepest desires of all the inhabitants of those lands to live together in freedom, non-violence, equality and justice. This hope no doubt seems naive, even impossible, to many. Nevertheless, some of us must rather wildly hold to it, refusing to believe that the structures that now exist will exist for ever. For this, we need our poets and our dreamers, the untamed fools, the kind who know how to organise.
 

13 October 2023