Dienstag, 14. Januar 2025

Besessenheit. Elon musk

Elon Big Boy

Natascha Strobl: Der Besessene. Elon Musks politischer Feldzug. Elon Musk hat Donald Trump den Weg zurück ins Weiße Haus geebnet, jetzt mischt er sich in Europas Politik ein. Was treibt diesen Mann?

aus: taz 10.1.2025


Elon Musk ist vieles. Unternehmer, Tech-Genie, Promi, Politikberater und der Chef-Troll von Twitter, das er in X umbenannt hat. Doch eine seiner Rollen bleibt bis jetzt unterbelichtet: Er ist zum obersten Führer einer transnationalen faschistischen Bewegung geworden. Wie konnte es so weit kommen?

Rund um die Gründung des Bezahl-Dienstleisters PayPal zur Jahrtausendwende hatte sich eine Gruppe von Männern zusammengefunden, die später als „PayPal-Mafia“ bezeichnet wurde. Ihre Mitglieder gründeten in den Folgejahren zahlreiche weitere bekannte und erfolgreiche Tech-Unternehmen, darunter Youtube, Yelp und LinkedIn. Das Selbstbewusstsein dieses Männerbunds lässt sich gut daran nachvollziehen, dass man völlig unironisch Bilder von sich selbst in vollem Mafia-Aufzug für Branchenblätter fotografieren ließ. Die Tech-Bros wollten der Welt zeigen, dass sie eine so eingeschworene wie brutale Männergemeinschaft waren. Zwar sahen die ventilierten Bilder mehr nach Buben-Fasching und weniger nach „Der Pate“ aus – die Botschaft selbst kam aber wohl an.

Dieses megalomanische wie heroische Selbstverständnis wurde auch auf die Politik übertragen. Besonders drei Mitglieder der PayPal-Mafia haben in den letzten 15 Jahren unverhohlen ihren politischen Anspruch klargemacht: David Sacks, Peter Thiel und Elon Musk. Alle drei sind Immigranten, die die amerikanische Staatsbürgerschaft erwarben, und die jetzt entscheidend die US- wie globale Politik bestimmen.

Thiel und Sacks sind sicherlich die Intellektuellen in diesem Trio. Sie haben bereits 1995 ein Buch namens „The Diversity Myth“ herausgegeben, das, wenig überraschend, belegen soll, wie Weiße durch Programme für mehr Vielfalt benachteiligt werden. An ihren Ansichen hat sich seitdem wenig geändert, besonders Thiels schriftstellerisches Treiben lässt sich gut nachvollziehen. Seine Grundthese lautet, dass Freiheit und Demokratie in einem Konflikt miteinander stehen, der sich nicht mehr auflösen lässt. Thiel entscheidet sich für Freiheit und denkt über Räume fernab der bestehenden demokratischen Ordnung nach.

­Der Mars ist für ihn die bessere Erde

Das sind zum Beispiel schwimmende Städte, die auf dem Ozean gebaut werden und zu denen nur Vermögende Zutritt haben. Diese Inseln sollen ohne Regierung, Demokratie und Rechte funktionieren. Ebenso träumt Thiel davon, das Weltall jenseits der Erde zu besiedeln. Es ist genau dieses Denken, das wir einige Zeit später bei Elon Musk wiederfinden, der es jedoch wesentlich massentauglicher macht. Denn wo David Sacks und inbesondere Peter Thiel zu verkopft sind, um als Rampensäue zu fungieren, fehlt es Musk vielleicht an intellektueller Tiefe – doch er begreift, wie man ein Publikum begeistert und wie man populäre Diskurse nutzt oder schafft.

Musks Radikalisierung hat weit vor seiner Twitter-Übernahme im Herbst 2022 begonnen. Seine Ideologie ist klar von seinen ehemaligen Mitstreitern und deren Grundsatztexten beeinflusst. Mit Twitter/X hat er aber nun endlich das Medium gefunden, das ihm auf seine Art erlaubt, diese Ideologie in die Breite zu streuen. Dabei radikalisieren sich das Medium und sein Besitzer laufend gegenseitig.

Ideologischer Kern ist auch bei Musk die Besiedelung extraterrestrischer Räume, vor allem des Mars. In Musks Vorstellung kommen dabei zwei Komponenten zusammen: Technologie­gläubigkeit und Kulturpessimismus. Er sieht die westlichen Gesellschaften im Niedergang und die Klimakrise als unumkehrbar an und bietet als Ausweg die Umsiedlung auf einen anderen Planeten an. Die Implikationen dieser These sind so fantastisch wie drastisch. Denn ob Ozeanstädte oder Marskolonie: Wer hineinkommt, bestimmen Musk und seine Mafia.

Um das Ausmaß der Musk’schen Science­-Fiction-Ideen zu verstehen, muss man auf sein zweites wichtiges ideologisches Steckenpferd schauen: die Geburtenraten. Vor allem auf Twitter/X repostet Musk immer wieder faschistische Accounts, die allesamt eine Obsession mit Geburtenraten haben. Es geht dabei weniger um globale Geburtenraten als um die Geburtenraten westlicher und vor allem „weißer“ Länder.

Besessen von Geburtenraten

Das ist kein neues Thema im globalen Rechtsextremismus. Terroristen wie die Attentäter von Christchurch oder Buffalo stellten die Geburtenraten als zentrales Motiv ihrer Taten dar. So beginnt das Manifest des Christchurch-Attentäters mit „It’s the birthrates, it’s the birthrates, it’s the birthrates“.

Der erhobene Vorwurf ist ein doppelter. Er richtet sich gegen nichtweiße oder auch nichtbürgerliche Frauen, die zu viele Kinder bekommen. Er richtet sich auch gegen weiße Frauen, die zu wenige Kinder bekommen. Schuld sind also so oder so Frauen. Die weißen Frauen sind von Feminismus und Selbstverwirklichung verblendet und lassen sich nicht oder mit falschen Männern ein. Die, die mit weißen Männern verheiratet sind, bekommen dann auch noch zu wenige Kinder. Drei Kinder pro Frau ist dabei die magische Grenze. Die Grenze für was eigentlich? Nicht für gesellschaftlichen Wohlstand per se, da Gesellschaften sich auch anders, etwa wie seit Jahrtausenden durch Migration, reproduzieren können. Es ist die Grenze für die Reproduktion wünschenswerter, also weißer, gesunder und bürgerlicher Kinder.

In diesem Vorwurf steckt der Sukkus moderner neofaschistischer Ideologie: Dekadenz, Misogynie, Antifeminismus, Rassismus und Verschwörung. Die Obsession mit Geburtenraten ist auch die Kernthese des Verschwörungsmythos des sogenannten Großen Austauschs, der von der Identitären Bewegung popularisiert wurde. Nun braucht es die Identitäre Bewegung gar nicht mehr: Der reichste Mann der Welt ist der oberste Verfechter dieser These.

Denkt man diese beiden Radikalisierungsstränge des Elon Musk nun zusammen, offenbart sich ein faschistisches Projekt, das so megalomanisch wie abstrus anmutet. Nehmen wir Musk einmal beim Wort. Er möchte den Mars besiedeln, weil er nicht glaubt, dass das Leben auf der Erde eine Zukunft hat. Er steckt viel Energie und Aufmerksamkeit in den technologischen Teil dieses Projekts. Nehmen wir nun an, dass es ihm in absehbarer Zukunft gelingt.

Die Besiedelung des Mars wäre dann in erster Linie keine Frage von Technologie, sondern von Demokratie. Wie viele Menschen können in Musks Utopie auf dem Mars leben? Hundertausend? Eine Million? Eine Milliarde? Wer wählt aus, wer den brennenden und zum Untergang verurteilten Planeten Erde verlassen darf und wer nicht? Oder, anders gesagt: Nach welchen Kriterien wird ein Mann, der sich obsessiv mit den Geburtenraten weißer, westlicher, bürgerlicher, Frauen auseinandersetzt, wählen? Wird eine Frau jenseits des gebärfähigen Alters Teil dieser Besiedelung sein? Werden es arme Menschen sein? Nichtweiße? Menschen mit chronischen Krankheiten sein?

Sein Weltbild ist ein faschistisches

Selbstverständlich ist dieses Projekt eine Science-Fiction-Utopie. Selbstverständlich werden wir alle uns höchstwahrscheinlich keine Gedanken über unser Ticket zum Mars machen müssen. Elon Musk tut dies allerdings. Das dahinter liegende Weltbild ist ein faschistisches. Selbst wenn er nicht dazu kommen wird, dieses auf dem Mars anzuwenden, so liegt dieselbe Weltsicht hinter Musks ganz irdischen Projekten.

Elon Musks Twitter-Übernahme hat ihm eine Plattform gegeben, die noch größer ist als Donald Trumps selbstgestrickte Plattform Truth Social. Musk hat Twitter/X zum Propagandawerkzeug für Trumps Wiederwahl gemacht. Das zeigte sich durch das Entsperren zahlreicher neofaschistischer Accounts, die nicht mehr vorhandene Moderation der Inhalte und die zahllosen Troll- und Bot-Armeen, die die Plattform schwemmen.

Twitter hat Musk aber auch erlaubt, sich an die Spitze zu setzen. Trump sitzt an der Spitze der republikanischen Partei und bald wieder eines mächtigen Staates. Musk hat etwas viel Wertvolleres erreicht: Er ist der Führer der Bewegung hinter den Trump’schen Wahlerfolgen. Längst ist nicht mehr Trump die zentrale Figur, sondern Musk selbst. Das wird in der Zukunft noch zu gröberen Streitigkeiten führen, die der viel ältere Donald Trump wohl nicht für sich gewinnen wird.

Elon Musks Interesse geht aber längst über die USA hinaus: Er versucht, auch in Europa Wahlen zu beeinflussen. Es mutet ironisch an, dass genau das immer der rechte Vorwurf gegenüber progressiven Stimmen war. Aber wie immer im Neofaschismus gilt auch hier: Jeder Vorwurf ein Bekenntnis. In Großbritannien und Italien wuselt Musk längst herum. Auch zu Österreich hat er sich geäußert, sein Wunsch nach einer FPÖ-Regierung geht nun in Erfüllung. Und jetzt ist Deutschland dran.

Der Umgang mit Elon Musk in der politmedialen Öffentlichkeit strotzt vor Hilflosigkeit und jubilierender Unterwürfigkeit. Dabei müsste er längst als das behandelt werden, was er ist: Der ganz irdische Botschafter einer transnationalen, faschistischen Bewegung im Kampf gegen die Demokratie. 

Freie Rede

Meinungsfreiheit im Internet

Annekathrin Kohout: Meta ohne Faktencheck

Das Märchen von der „free expression“. Uneingeschränkte Meinungsfreiheit kann es auf sozialen Medien gar nicht geben. Wir müssen diese deshalb jedoch nicht meiden, sondern klüger nutzen.

Aus: taz 13.1.2025

Es war einmal eine Plattform, die versprach, ein Ort uneingeschränkter Redefreiheit zu sein. So erzählte es Meta-Chef Mark Zuckerberg letzte Woche in einer unheilvollen „Neujahrsansprache“, wie ein Instagram-Kommentator dessen Video treffend klassifizierte. Doch hinter den friedlichen Regenbogen-Flaggen verbarg sich ein „zensierendes“ System aus Algorithmen, das entschied, welche Worte überhaupt sichtbar wurden. Nun aber, so verkündete Zuckerberg, müsse die „free expression“ wiederhergestellt werden!

Auch die Meta-Plattformen sollen künftig X-gleich zu einer Bastion der freien Rede werden. Ob Zuckerberg hier selbstkritisch sprach oder mit vorgehaltener Pistole – darüber lässt sich spekulieren. Doch eines ist klar: Er bedient damit geschickt ein Narrativ, das anhaltend Konjunktur hat: das der unterdrückten Meinungen, die dringend befreit werden müssen.

Der derzeitige Schirmherr dieses Narrativs ist Elon Musk, der X bereits zum selbsternannten Leuchtturm der Meinungsfreiheit umgebaut hat. Auch wenn viele die Plattform daher mittlerweile verlassen haben, floriert X dennoch weiter. Die User sehen sich nämlich durch Musks Rhetorik in ihrem diffusen Gefühl bestätigt, ihre wahren Gedanken sonst nicht mehr äußern zu dürfen.

Dieses Gefühl ist in den sozialen Medien allerdings unvermeidlich. Dafür gibt es viele Gründe. Einer davon: Soziale Medien verstärken soziale Sanktionen – von offener Kritik und Ausgrenzung über Shaming bis hin zu Mobbing. Sichtbarkeit und Reichweite spielen hier eine entscheidende Rolle.

Äußerungen und Handlungen sind einer breiten Öffentlichkeit zugänglich und werden nicht nur von kleinen Gruppen, sondern potenziell von einer globalen Community bewertet. Das erhöht den Druck auf Einzelpersonen erheblich. Ein misslungener oder unbedachter Post kann innerhalb von Stunden massive öffentliche Kritik nach sich ziehen – das, was heute vorschnell als „Cancel Culture“ bezeichnet wird. Manchmal mit positiven, manchmal mit negativen Konsequenzen.

Orchestrierte Bestrafung

Besonders gravierend ist der sogenannte „Pile-on-“ oder Schneeballeffekt: Wird jemand oder etwas öffentlich kritisiert, schließen sich oft viele User der Bestrafung an. Schnell entsteht der Eindruck eines breiten Konsenses – auch wenn dieser objektiv betrachtet gar nicht existiert. In dieser Dynamik fühlt sich paradoxerweise jede Position als bedrohte Minderheit. Dabei ist die vermeintliche Mehrheitsmeinung oft nur ein gut orchestriertes Ensemble Weniger.

Die Mär von der „free expression“ ist also eine schöne Geschichte, aber sie bleibt auch unter Musk und einem Meta ohne Faktencheck und mit weniger Content-Moderation, was sie immer schon war: ein Märchen. Die Vorstellung, dass Plattformen uneingeschränkte Meinungsfreiheit ermöglichen, verkennt ihre Architektur: Algorithmen, Monetarisierung und Marktlogiken schaffen Bedingungen, unter denen jede Rede zur Ware wird: verpackt, kuratiert, verkauft – aber nicht frei. Sie verkennt aber auch, dass soziales Verhalten in einem Umfeld, das Feedback und Reaktionen nicht nur ermöglicht, sondern permanent forciert, nicht reguliert werden kann.

Die eigentliche Frage lautet also nicht, ob es freie Rede im Netz geben kann. Die Frage ist, wer uns diese Märchen erzählt – und warum ausgerechnet jetzt. Während Zuckerberg und Musk von digitaler Befreiung reden, verwandeln sie im Hintergrund weiterhin jede Äußerung in verwertbare Daten. Je wilder die Debatten toben, desto höher die Engagement-Raten. Je polarisierter die User, desto präziser die Algorithmen. Die „free expression“ ist ein trojanisches Pferd – das wir begeistert begrüßen.

Dieser Widerspruch lässt sich wohl nicht auflösen – aber wir sollten ihn im Hinterkopf behalten. Die Mechanismen sozialer Medien zu durchschauen muss nicht bedeuten, sie zu meiden. Es bedeutet, sie klüger zu nutzen. Denn die echte digitale Freiheit liegt darin, nicht alles zu sagen, was man sagen könnte.


Freitag, 10. Januar 2025

Sinkflug des Konservativismus

Konservativismus und Rechtspopulismus

Koalition mit der FPÖ: "Das könnte die ÖVP in eine existenzielle Krise führen"

Als möglicher Juniorpartner der FPÖ muss sich die ÖVP von der Idee verabschieden, sie könne die Rechtspopulisten entzaubern. Im Gegenteil geht die ÖVP große Risken ein, 

Thomas Biebricher im Interview. KURIER, 10.1.2025

Thomas Biebricher ist Heisenberg-Professor für Politische Theorie, Ideengeschichte und Theorien der Ökonomie an der Goethe-Universität Frankfurt am Main. Er beschäftigt sich seit Jahren mit der Krise des gemäßigten Konservatismus in Deutschland und Europa. 


Der Krise, oft gar der Sinkflug, der gemäßigten Konservativen in Europa gilt seit Jahren Thomas Biebrichers Forschungsblick. Geht die ÖVP nun tatsächlich eine Koalition mit der FPÖ ein, sieht der deutsche Politologe, der an der Goethe-Universität in Frankfurt lehrt, "große Gefahren" für die österreichischen Konservativen" - bis hin zu einer Zerreißprobe für die ÖVP

KURIER: Sie sagen, eine Koalition mit der FPÖ könnte die ÖVP mittelfristig in eine existenzielle Krise führen. Was bringt Sie zu dieser Vermutung?

Thomas Biebricher:  Die Erfahrung zeigt, dass es für konservative Parteien selten gut ausgeht, wenn sie sich mit rechts-autoritären Kräften einlassen. Und das sogar, wenn die Konservativen die Seniorpartner waren. Man denke beispielsweise an die Niederlande oder an Italien. In fast allen Fällen kommen konservative Parteien schlechter raus als solchen Koalitionen als sie reingehen. Dies gilt umso mehr, wenn man wie im Fall der ÖVP als Juniorpartner so eine Partnerschaft eingeht. 

Warum ist das so riskant?

In solch einer Konstellation kann die ÖVP wenige Wähler und Wählerinnen von der FPÖ dazugewinnen. Ich halte es für unwahrscheinlich, dass sie bei der nächsten Wahl zur ÖVP wechseln. Umgekehrt werden jene zur Mitte orientierten Milieus, denen es um eine seriöse bürgerliche Politik geht, abgeschreckt. Wenn man zudem als Juniorpartner so eine Koalition eingeht, kann man auch kaum das Argument liefern: okay, wir bringen sie zur Raison. Daher denke ich, dass die ÖVP viel in der Mitte verlieren wird.

Koalition mit der FPÖ: "Das könnte die ÖVP in eine existenzielle Krise führen"

Man muss nur nach Frankreich schauen: Das mahnende Beispiel der Republikaner, die sich im Umgang mit dem Rassemblement National schon mehr oder weniger selber zerlegt haben. Ein ähnliches Schicksal könnte der ÖVP drohen. Ein Teil der ÖVP wird sich der FPÖ noch weiter sehr stark annähern. Aber ein anderer Teil der ÖVP – wenn auch vielleicht nicht der aktuell tonangebende – wird hier massive Vorbehalte haben. Daraus resultiert die große Gefahr. 

Wird die ÖVP dadurch ihr eigenes Profil verlieren?

Obwohl die ÖVP mit den Grünen in einer Koalition war, ist sie unterschwellig schon relativ lange näher an die FPÖ herangerückt - was die Migrationspolitik oder die Kultur-kämpferischen Themen usw angeht:  Daher sehe ich nicht klar, wie sich die ÖVP von der FPÖ in so einer Koalition abheben will. Im Wahlkampf hatte sie ihr eigenes Profil abgesehen von Sachthemen ein Stückweit darauf aufgebaut, dass sie keine Koalition mit der FPÖ eingeht. Das ging jetzt natürlich verloren. Daher wird es nicht einfach sein, sich ein erkennbares Profil zu erhalten. 

Warum lässt sich dann eine Partei darauf ein, mit einer stärkeren zu koalieren, wenn sie letztendlich schlechter aussteigt als vorher? 

Im Falle von Österreich müsste man auch einfach sagen: Wegen der Ermangelung von Alternativen, denn diese wären wahrscheinlich Neuwahlen gewesen. Da hatte man vermutlich die Befürchtung, dass die FPÖ danach noch stärker dastehen könnte.

Wie Elon Musk den Wahlkampf in Deutschland aufmischt

Aber man hätte sich vielleicht doch ein bisschen mehr bei diesen Koalitionsverhandlungen anstrengen müssen. 

Was halten Sie von der These, dass sich Rechtspopulisten entzaubern lassen, sobald sie mitregieren oder überhaupt regieren? 

Ich sehe dafür keine starken empirischen Belege. Sowohl in Österreich als auch in den Niederlanden, wo Rechtpopulisten in die Regierung eingebunden waren und scheiterten,  sind sie nach einer Weile gestärkt zurückgekommen. Was ist genau damit gemeint, sie zu entzaubern? Das kann vielleicht funktionieren, wenn Rechtsautoritäre allein die Regierung stellen. Aber wenn eine konservative Partei als Seniorpartner agiert, wollen Regierungspartner gut dastehen. Und da wäre es schon ein Kunststück, sich selbst als erfolgreich darzustellen und gleichzeitig den Koalitionspartner dabei zu entzaubern und nachzuweisen, wie regierungsunfähig die Rechtspopulisten sind. 

Die ÖVP hat eine 180 Grad Wende vollzogen. Können Sie sich so etwas in Deutschland auch vorstellen -  Koalitionsgespräche zwischen der CDU und der in Teilen rechtsextremen AfD? 

Nicht nach der jetzt anstehenden Wahl und nicht unter der Führung von Friedrich Merz. Das würde ich im Moment ausschließen. Da müsste der CDU-Chef erst zurücktreten oder wir sprechen von der Wahl 2029. Merz hat keinerlei Interesse an einer Zusammenarbeit mit der AfD. Er blinkt zwar rhetorisch auch immer mal wieder rechts, das halte ich auch durchaus für bedenklich, aber gleichzeitig ist er ein zutiefst bürgerlicher Typ, der auf die AfD-Leute herabschaut. Zudem ist der CDU-Führung klar, dass es die Partei zerreißen würde, wenn sie versucht, eine Art von Zusammenarbeit mit der AfD herbeizuführen.

Das könnte der ÖVP auch passieren, dass es die Partei zerreißt. 

Offensichtlich nimmt man das in Kauf. 

In Deutschland steht die Brandmauer zu den Rechts-Populisten noch -  im Gegensatz zu Österreich und auch zu zu vielen anderen europäischen Staaten. 

Sie steht in Europa fast nirgends mehr, auch nicht auf der Ebene der Europäischen Union.

Bestimmte Parteien am rechten Rand sind einfach sehr stark geworden. Es wurde schwierig, sie zu ignorieren und konsequent auszugrenzen. Das sieht man besonders in Österreich. Die Strategie der Ausgrenzung hat ihren politischen Preis. Parteien, die nur überschaubare Schnittmengen miteinander haben, müssten sich irgendwie zu einer Koalition zusammenraufen – aber das stößt eben an gewisse Grenzen.

Und es führt letztlich in vielen Fällen zur Schlussfolgerung, dass man es tatsächlich einmal mit den anderen, den Rechts-Autoritären versuchen muss  - und hofft dabei, ihnen zumindest den Nimbus des Anti-Establishments und des Radikalen nehmen zu können. Aber das macht diese natürlich auch wiederum in gewisser Weise attraktiver, es gibt ihnen einen großen Legitimierungsschub, sie gelten dann nicht mehr als die politischen Schmuddelkinder. 

Sind wir an dem Punkt, dass christdemokratische Parteien bald nur noch mit mit ganz rechten Parteien zusammenarbeiten können oder müssen, um an die Macht zu kommen? Oft gibt es eine regelrechte Abneigung, mit Grünen oder Sozialdemokraten zusammenzuarbeiten. 

Das ist das Problem. Wir sehen etwas Ähnliches in Deutschland, wo sich die CSU mit Händen und Füßen gegen eine Koalition mit den Grünen wehrt. Dann muss man sehen, wo man überhaupt noch seine Mehrheiten zusammenkriegt. Mit der FDP wird es nach den Wahlen  für die Union nicht reichen, und mit dem Bündnis Wagenknecht ist auch nichts zu machen.

Warum die EU zum Stolperstein für die Koalition werden könnte

Mit den Linken natürlich auch nicht, falls sie überhaupt in den Bundestag reinkommen. Es hängt also alles daran, ob die SPD bereit ist, in eine große Koalition zu gehen. Und wenn nicht – wie soll dann eine Regierung ohne die Afd zusammenkommen? Man muss halt bei allen Differenzen irgendwie koalitionsfähig sein. Ansonsten begibt man sich selbst mutwillig in eine Situation, in der es keine andere Möglichkeit mehr zu geben scheint, als mit rechten, autoritären Kräften zusammenzuarbeiten.

Die meisten rechtspopulistischen Parteien bieten nur Rezepte aus der Vergangenheit:  Früher war alles besser  - keine Migranten, keine Klimaschützer. Also wo sind die vorwärtsgewandten Konzepte? 

Aus dem konservativen Selbstverständnis heraus gibt es einen bewahrenden Impuls. Die Rechtsautoritären haben als Ziel eine Retrotopie, also eine Vergangenheit als Ideal, die wahrscheinlich auch nie wirklich so war. Aber um dahin zu kommen, muss nach ihrem Dafürhalten erst mal nach vorne gerichtet eine massiv disruptive Politik betrieben werden: Man muss erst einmal die Dinge auseinandernehmen, um sie dann möglicherweise wieder neu aufzubauen. Aber dieses Bewahrende, Staatstragende, was mit den Konservativen doch recht stark verbunden ist, das geht ihnen völlig ab.

Dienstag, 7. Januar 2025

Freiheitliche Partei Österreichs oder die Rechte kommt an die Macht

FPÖ regiert 

Michael Hesse: FPÖ an der Macht: Die Wiederkehr des Gleichen. Aus: Frankfurter Rundschau 6.1.2025 Die Beteiligung der FPÖ an der Macht zeigt: Österreich hat nichts aus der Geschichte gelernt. 

Thomas Bernhard hat es schon immer gewusst. Alles, was geschieht, ist eine Wiederholung des Gleichen. Davon war der größte Kritiker von Staat und Gesellschaft in Österreich, der Schriftsteller Thomas Bernhard, wie schon Nietzsche vor ihm überzeugt. Was die Vorgänge in Wien vom Wochenende in ihm ausgelöst hätten, ist angesichts seiner Lust, auf Österreich einzudreschen, unschwer zu erraten. Österreich steuert nicht allein auf ein Regierungsbündnis aus ÖVP und der rechten bis rechtsextremen FPÖ zu, sondern erstmals könnte die FPÖ mit Herbert Kickl auch den Kanzler stellen – einem Mann, der sich allzu gerne als „Volkskanzler“ bezeichnet und in entsprechender Weise agitiert. Auch wenn Österreich bereits Koalitionen zwischen Konservativen und Rechtspopulisten kennt, wird hier ein neues oder besser altbekanntes Muster erreicht. Wenn es überhaupt je eine Brandmauer in Österreich gegeben haben mag, dann hat sie nicht allzu lange gehalten. Eine gefährliche Entwicklung – nicht allein für die Alpenrepublik, sondern für ganz Europa. Ein Grund dafür ist, dass die Mauern nach rechts immer löchriger werden. „Der Versuch zu kooptieren, bestimmte rechte Positionen zu übernehmen oder Koalitionen anzustreben, war für die gemäßigten konservativen Parteien alles andere als ein Erfolgsrezept“, warnte der Politikwissenschaftler Thomas Biebricher (Autor von „Mitte/Rechts“) bereits vor Monaten in einem Interview mit der FR. „Die Normalisierung bestimmter Positionen, indem man sie selbst übernimmt, und die Zusammenarbeit mit rechten Parteien, bedeutet immer, dass sich die Hegemonie von der Mitte der Gesellschaft weiter nach rechts verschiebt.“ Biebricher führte Italien und Frankreich als Beispiele an. Österreich könnte das nächste sein. Längst lässt sich die genannte Art der Annäherung auch in Deutschland feststellen. Die plumpe Übernahme von AfD-nahen Positionen in Migrationsfragen durch den CDU-Kanzlerkandidaten Friedrich Merz zeugen nicht nur von Einfallslosigkeit, sie sind überdies gefährlich. „Man wetteifert um Milieus, die sich sowohl in die eine oder andere Richtung orientieren können. Und da hängt es von den Angeboten ab, die von gemäßigten konservativen und christdemokratischen Parteien kommen“, sagt Biebricher. Es gehe um die Frage, ob es konservativen Parteien gelinge, den Rechten etwas entgegenzusetzen, die darauf abzielten, die Verunsicherung in Milieus noch zu verstärken und in Ressentiments umzuwandeln. „Eigentlich hätten sie ihnen aufgrund ihrer grundsätzlichen Positionierung etwas entgegenzusetzen.“ 

 In Europa grassiert eine Welle rechter und rechtspopulistischer Einstellungen und Positionen. Fast drei Jahre nach dem Angriff Russlands auf die Ukraine wirkt der alte Kontinent geschwächt. Zumindest wird dieses Bild den Wählerinnen und Wählern vor allem durch rechte Parteien suggeriert. Die Gründe für die Unzufriedenheit? Die Finanzkrise 2008 war ein wichtiger Faktor. Sie erschütterte das Vertrauen in die liberalen oder auch neoliberalen Eliten. Einer ihrer Effekte: das Anwachsen der sozialen Ungleichheit. Die immer größer werdende Kluft zu den Reichen zerstört nach und nach die Mittelklasse der Gesellschaft. Die Mitte hat erheblich an Kaufkraft eingebüßt, was die Hauptursache für die schwache Konjunktur ist. Politikwissenschaftler Biebricher verweist auch auf einen Gerechtigkeitsaspekt, der 2008 verletzt worden sei: „Der Staat war bereit, Banken zu retten, die ,too big to fail‘ waren, aber den sogenannten kleinen Leuten wollte oder konnte er nicht helfen. Das war ein fataler Eindruck, der da entstand.“ Die Pandemie hat dann erneut als Beschleuniger gewirkt. Die Folge: Der Frust wächst und mehr Menschen wählen rechts. Kenner von Thomas Bernhard werden es wissen: Das Rad der Geschichte lässt nichts anderes wiederkehren als das allzu Bekannte. Eine rechte Welle erfasste Europa Anfang der 1930er Jahre durch die Folgen des Börsencrashs an der Wall Street. Während im Westen Europas Spanien unter dem Franco-Regime, Italien unter Mussolini und das Deutsche Reich unter Hitler weit nach rechts rückten, war der Rechtsruck dann auch in Mittel- und Osteuropa unübersehbar. Die größten faschistischen Bewegungen fanden sich in Rumänien, Ungarn – und in Österreich. 

Der Historiker Ian Kershaw verweist darauf, dass große Teile der nichtsozialistischen Wählerschaft in Österreich schon während der Weltwirtschaftskrise protofaschistisch gewesen seien. Der Bankencrash von 1931 habe die Lebensbedingungen großer Teile der Bevölkerung ruiniert, die anschließende Rezession die Spaltungen vertieft. Das politische Lager radikalisierte sich zusehends. Es entstanden zwei große faschistische Bewegungen, die österreichische Heimwehr und die schnell wachsende NSDAP. Noch 1930 sei die Anhängerschaft doppelt so groß gewesen wie die der österreichischen Nationalsozialisten, diese gewannen jedoch schnell an Boden. 

Die Ernennung Hitlers zum Kanzler 1933 führte in Österreich zu einer folgenschweren Reaktion. Der 39 Jahre alte Kanzler Engelbert Dollfuß beseitigte das parlamentarische System und schuf einen „sozialen, christlichen, deutschen Staat Österreich auf ständischer Grundlage, unter starker autoritärer Führung“. Die bürgerlichen Freiheiten wurden stark eingeschränkt, die Opposition unterdrückt. Einen Aufstand der Sozialisten ließ er blutig niederschlagen. Die Nazis ermordeten Dollfuß 1934. Er hatte ein repressives System geschaffen, konservativ-reaktionärer Natur. Sein Nachfolger Kurt von Schuschnigg setzte den Weg seines Vorgängers fort. Die Eigenständigkeit Österreichs zu bewahren war sein oberstes Ziel. Er scheiterte.

Dienstag, 1. Oktober 2024

Rechte Allianz

Claus Leggewie: Von Visegrad nach Habsburg 2.0

Frankfurter Rundschau 30.9.2024

Mitten in Europa ist mit dem Erfolgen der FPÖ ein neutralistischer bis russophiler Staatenblock entstanden, der auch gegen Trump nichts einzuwenden hat.

Das im Februar 1991 geschlossene informelle Visegrad-Bündnis ist infolge des russischen Angriffs auf die Ukraine seit dem Februar 2022 erodiert, da Polen und Tschechien ihre autoritären Führungen abwählten und sich gegen Russland stellten. Nun zeichnet sich indessen eine neue Bündniskonstellation ab: Ungarns Premierminister Viktor Orbán formt eine offen russlandfreundliche und ausdrücklich illiberale Allianz gegen die supranationale Europäische Union. Kurz vor der Übernahme der ungarischen Ratspräsidentschaft, die unter dem Vorzeichen dieser souveränistischen Opposition steht, reiste Orbán Ende Juni nach Wien, um die Gründung der „Patrioten für Europa“ zu vereinbaren.

Diese dritte rechtsgerichtete Fraktion im EU-Parlament führen die Gewinner der Europawahl im Juni 2024: Fidesz hatte mit 44,82 Prozent der Stimmen den ersten Platz in Ungarn belegt, die FPÖ siegte unter der Führung Herbert Kickls knapp mit 25,36 Prozent und ANO, die Partei des tschechischen Unternehmers und Ex-Ministerpräsidenten Andrej Babiš, hatte mit 26,14 Prozent die Nase vorn. Orbán wehrte die Herausforderung durch die von dem ehemaligen Fidesz-Mitglied Péter Magyar geführte Tisza-Partei ab, die FPÖ etablierte sich bei den Nationalratswahlen im September 2024 als stärkste Kraft in Österreich und Babiš könnte nach dem Gewinn der Regionalwahlen bei den tschechischen Parlamentswahlen 2025 sein Comeback feiern. Aufnahmegespräche mit der AfD, der derzeit zweitstärksten Kraft in Deutschland, sind gescheitert, obwohl sie mit ihrer prorussischen, strikt gegen den Green Deal und den Migrationspakt der EU gerichteten Programmatik bestens in die nunmehr drittstärkste Fraktion im EU-Parlament hineingepasst hätte.

Die Dreierkonstellation zwischen Budapest, Wien und Prag ergänzt sich schon in Richtung Bratislava, seit die Slowakei mit der Rückeroberung der Macht durch Robert Ficos Partei Smer-SSP 2023 einen ebenso nationalistischen, EU-distanzierten und russlandfreundlichen Kurs eingeschlagen hat. Gemeinsam haben die Partner das Ziel, die Gewaltenteilung auszuhebeln und die Freiheit der Presse, Kunst und Wissenschaft einzuschränken; sie pflegen hochkorrupte Geschäftsbeziehungen und vertreten ausdrücklich oder versteckt antisemitische, homophobe und misogyne Einstellungen. Ausdrücklich wenden sie sich gegen Waffenlieferungen an die Ukraine und legen ihr einen Diktatfrieden des russischen Aggressors nahe, mit dem sie weiterhin Geschäftsbeziehungen aufrechterhalten haben.

Mitten in Europa ist ein neutralistischer bis russophiler Staatenblock entstanden, der die Europäische Union blockiert und im Blick auf die US-Wahlen im November gegen die Wiederwahl Donald Trumps nichts einzuwenden hätte.

Ein Blick auf historische Landkarten zeigt an, dass man es mit einer tektonischen Verschiebung auf dem Gebiet der ehemaligen Doppelmonarchie Österreich-Ungarn zu tun hat. Dazu gehörten nach dem Untergang des Heiligen Römischen Reiches Deutscher Nation und dem Scheitern „großdeutscher“ Nationsbildung bis 1918 Territorien im (damals staatlich inexistenten) Polen (Galizien), in der Ukraine (Bukowina) und im heutigen Rumänien (Sieben-bürgen), Serbien (Wojwodina), Kroatien, Slowenien und Italien.

K. und k. ist im Ersten Weltkrieg begraben worden und die Nationen entflohen dem „Völkergefängnis“. Doch scheint sich der zentrifugalen Dynamik heute eine weltanschauliche Konvergenz beizumischen, die auch in Serbien und dem serbischen Teil Bosniens auf Resonanz stößt.

Dabei wirken gegensätzliche Kräfte: Für Polen ist die von Wladimir Putin ausgehende Gefahr offenbar weit existenzieller als für Ungarn und die Slowakei, auch erweist sich die polnische, auf einer langen Freiheitstradition beruhende Demokratie resilienter.Die tschechischen und slowenischen Gesellschaften schwanken zwischen Nationalpopulismus und liberalem Pluralismus, Westorientierung und Russophilie. Unterschwellig wirkt im einstigen Habsburger Gebiet, das kulturellen Hochleistungen genau wie reaktionären Stumpfsinn kannte, beides fort: die Sehnsucht nach größtmöglicher national-kultureller Unabhängigkeit und die Unterwerfung ethnischer Gemeinschaften unter ein Imperium. Damit könnte sich „Visegrad“ in eine Art „Habsburg 2.0“ verwandeln. Die konservative ÖVP hat nie ausgeschlossen, erneut mit den Freiheitlichen zu koalieren, was sie in drei Bundesländern gerade praktiziert.

Dabei können auch globale Brandmauern bersten. Die Ironie besteht darin, dass die angesagte Kapitulation vor Russland in dem Bestreben erfolgt, sich der als „EUSSR“ (das soll heißen: krypto-kommunistisches Empire) denunzierten Europäischen Union zu entziehen, ohne freilich auf deren finanzielle Zuwendungen verzichten zu wollen. Mit der österreichisch-ungarischen Doppelansage hat sich die Herausforderung Putins weit nach Westen verschoben. Und die AfD bereitet das Terrain in Dunkeldeutschland.

Mittwoch, 25. September 2024

Rechtes Österreich

Sarah Schmalz und Daria Wild (Interview) und Florian Bachmann (Foto): Vor den Wahlen in Österreich:«Dann kommt etwas ins Rutschen» WOZ, Nr. 38 – 19. September 2024

Wird sich die Hochwasserkatastrophe auf die österreichischen Wahlen auswirken? Die renommierte Politologin Natascha Strobl über den Kulturkampf der extremen Rechten in ihrem Land – und in Europa.

«Manchmal traue ich mich kaum zu erzählen, worüber in Österreich gerade diskutiert wird. Weil es so absurd ist»: Natascha Strobl im Zürcher Hotel Marktgasse.

WOZ: Frau Strobl, Österreich wird von starken Unwettern heimgesucht, auch Niederösterreich, wo Sie leben. Wie geht es Ihnen gerade?

Natascha Strobl: Mein Mann war in den letzten Tagen beim Dammbauen, ich mit den Kindern daheim, die Schule ist ausgefallen. Die Lage entspannt sich nur langsam.

War die Katastrophe abzusehen?

Ja, aber der öffentliche Rundfunk hat sehr spät gewarnt. Unser bisheriges Frühwarnsystem wurde einfach abgeschaltet, obwohl das neue noch nicht richtig funktioniert. Politisch ist wirklich sehr viel schiefgelaufen. Gerade in Gebieten mit trockenen Böden wie Niederösterreich hat die schwarz-blaue ÖVP-FPÖ-Regierung alle Klimaschutzmassnahmen und den Hochwasserschutz vertagt. Jetzt häufen sich die Extremwetterereignisse. Doch der öffentliche Rundfunk strahlte zunächst tagelang Sendungen aus, in denen das Wort «Klimakrise» oder «Klimawandel» nicht ein einziges Mal fiel.

Wie wird das Ereignis gedeutet?

Es wird so getan, als hätte Gott eine Strafe geschickt. Das ist empörend – und sehr österreichisch. Die Parteien, die die Klimakrise die ganze Zeit leugnen, sagen jetzt, man dürfe dieses Ereignis nicht politisieren. Dabei wird jede Messerstecherei, jeder Raufhandel politisiert – so weit, dass man Menschenrechte ausser Kraft setzen will. Jetzt, wo Millionen von Menschen betroffen sind, sagt man: Das ist halt so passiert. Das zeigt die Strategie der Rechten: Man führt rasende Kulturkämpfe, und wenn andere über Politik sprechen wollen, ist man das Opfer.

Ende September wird in Österreich gewählt. Werden die Hochwasser einen Einfluss auf die Wahlen haben?

Das kann man gerade nicht öffentlich diskutieren, der unmittelbare Einsatz hat Priorität. Ob die Katastrophe der derzeit in Umfragen vorne liegenden FPÖ schaden wird, ist schwierig abzuschätzen. Die ÖVP positioniert ihren Bundeskanzler Karl Nehammer als super Krisenmanager, der er aber nicht ist. Die Grünen haben die authentischste Position, die warnen seit zwanzig Jahren vor so einem Ereignis. Und SPÖ-Chef Andreas Babler ist mit der Freiwilligen Feuerwehr im Einsatz, das ist natürlich auch authentisch.

Sie haben gesagt, es sei «sehr österreichisch», was gerade passiere. Können Sie uns bitte in aller Kürze Österreich erklären?

(Lacht.) Wo fängt man nur an? Österreich ist ein sehr gemütliches Land. Politisch prägten es lange die grossen Volksparteien, die ÖVP und die SPÖ. Aber seit ungefähr zehn Jahren ist nichts mehr so, wie es einmal war. Heute ist Österreich bei zwei Dingen ganz vorne mit dabei: bei der klassischen Musik und beim Rechtsextremismus. Das eine ist ein bisschen schöner als das andere.

Was begann sich vor zehn Jahren zu verschieben?

Strobl: Um das Jahr 2016 herum ist der ÖVP-Politiker Sebastian Kurz auf der Bildfläche erschienen, das war eine Zäsur. Plötzlich war es die grosse Volkspartei ÖVP, die so gesprochen hat wie bis dahin nur die kleine, rechtsextreme FPÖ. Das hat das ganze politische Spektrum nach rechts verschoben. Wenn man heute verstehen will, wie rechtsextreme Parteien mehrheitsfähig werden, kann man nach Österreich schauen oder in Richtung Ungarn, da sind sich diese Länder sehr ähnlich.

2017 bildeten ÖVP und FPÖ eine Regierungskoalition, die ÖVP brach aber nach dem «Ibiza-Skandal» mit der FPÖ. Ein Video wurde publik, das unter anderem FPÖ-Chef Heinz-Christian Strache mit der angeblichen Nichte eines russischen Oligarchen zeigte. Darin sprachen sie davon, Gesetze zur Parteienfinanzierung umgehen oder die Kontrolle parteiunabhängiger Medien übernehmen zu wollen. Wenig später stolperte auch Kurz über Korruptionsskandale. Wie ist es möglich, dass die extreme Rechte heute dennoch stärkste Kraft werden könnte?

Strobl: Die FPÖ hat sich innerhalb weniger Jahre wieder aufgerichtet. Das hat viel mit dem neuen Parteichef Herbert Kickl zu tun. Er ist diszipliniert, nicht so ein Lebemann, der über Skandale aus der halbprivaten Sphäre stolpert wie Strache. Und die Coronaproteste haben eine sehr grosse Rolle gespielt. Die FPÖ hatte als erste Partei Tests und Lockdowns gefordert, aber dann schnell realisiert, dass es ihr nützt, wenn sie auf den Zug der Coronaproteste aufspringt und Verschwörungstheorien nährt.

Der aktuelle Wahlkampfslogan der FPÖ lautet «Festung Österreich, Festung der Freiheit». Mit was für einer FPÖ haben wir es heute zu tun?

Strobl: Du musst dich einbunkern, damit du frei bist: Das trifft gut, wo die extreme Rechte hinwill. Und natürlich sind es militärische Begriffe, was suggeriert, wir seien im Krieg: «Wir oder die». Die FPÖ hatte schon immer einen rechtsextremen Kern, aber während Strache noch versuchte, das zu verharmlosen, macht das Kickl nicht mehr. Auf FPÖ-Demonstrationen laufen Leute mit Galgen herum. Kickl prahlt auf Wahlveranstaltungen mit Fahndungslisten, auf denen 2000 Namen stünden – Menschen, die dann schon sähen, was passiere, wenn die FPÖ an der Macht sei. Wir haben es aber auch mit einer Partei zu tun, die sich modernisiert hat: Man macht nicht mehr den traditionellen, verstaubten Rechtsextremismus in Tiroler Tracht.

Für Ihr neues Buchprojekt beschäftigen Sie sich mit der Strategie des Kulturkampfs, derer sich die Rechte bedient. Inwiefern ist Österreich ein Beispiel dafür?

Ich traue mich manchmal kaum zu erzählen, worüber in Österreich gerade diskutiert wird, weil es so absurd ist. Gerade empört man sich darüber, dass die Stadt Wien den Kindergärten verbiete, Symbole über die Garderobenhaken der Kinder zu kleben. Diese Story wurde von der «Kronen Zeitung» in die Welt gesetzt und stimmt so nicht. Doch sie wird gerne geglaubt, weil in Wien viele Ausländer:innen leben. Suggeriert wird, dass Muslim:innen hinter dem imaginierten Verbot stecken müssten. Oder irgendwelche «woken» Motive. Diesen Sommer haben wir auch darüber diskutiert, ob Weinköniginnen wirklich alles «echte» Frauen seien. Wenn ichs auf eine Formel runterbrechen müsste: Kulturkampf ist die Emotionalisierung der Anekdote.

Die dritte Folge des «What's left?»-Podcast über Sozialismus mit Jabari Brisport anhören

Was ist die Funktion dieser Anekdoten?

Strobl: Es gibt so viele reale Probleme: Klimawandel, Inflation, Kinderarmut, steigende Energiepreise, Arbeitslosigkeit, Fachkräftemangel. Aber das Geschlecht der Weinköniginnen und die Garderobenbildchen überlagern alles. Das bindet Energie, es bindet Aufmerksamkeit. Und dann gibt es immer diesen Feind, der nie sichtbar ist, aber das alles orchestriert, diese vielen kleinen Dinge, die angeblich zusammenhängen: die «Woken» oder die «Globalisten» – ein antisemitisches Codewort – oder ein Konglomerat an Verschwörern. Und, das ist das Wichtigste: Die Kulturkämpfe bewirken, dass sich jene, die glauben, was da erzählt wird, unterdrückt fühlen und Gewalt als legitimes Mittel der Notwehr ansehen. Wenn man diesen Sprung gemacht hat, wird alles zu einer «Wir oder die»-Frage.

Haben wir es mit einer eigentlichen Entpolitisierung des öffentlichen Raumes zu tun?

Ich würde eher sagen, es ist ein politischer Nihilismus. Man weiss überhaupt nicht mehr, was real ist, was wichtig ist, was Priorität hat. Es reicht ja schon, wenn diese Anekdoten wahr sein könnten. Dieses Leben im Konjunktiv verschiebt die Realität. Man muss auch bedenken: Die Medien spielen in Österreich eine sehr grosse Rolle. Die grösste Boulevardzeitung des Landes ist im Verhältnis mächtiger und auflagenstärker als die «Bild»-Zeitung in Deutschland. Sehr viele Medienprojekte wurden über die boulevardfreundliche Medienförderung, die von 2017 bis 2019 unter Schwarz-Blau erlassen wurde, nach oben gespült. Die haben Millionen von Euro bekommen dafür, dass sie jetzt – wie etwa die Plattform «Express» – diese Kulturkampfthemen bespielen.

Viele FPÖ-Wähler:innen informieren sich gemäss Umfragen «alternativ», also auf verschwörungsaffinen Internetportalen 

Strobl: Der rechtsextreme, verschwörungsideologische Sender «Auf1» spielt hier eine sehr grosse Rolle. Mit dieser Art von Nachrichten wird der ganze deutschsprachige Raum bespielt – mit der Folge, dass sich die extreme Rechte den digitalen Raum nimmt und ihre Narrative hegemonial werden.

Eine Plakataktion in Graz zeigte Kickl mit NS-Symbolik und Nehammer mit Engelbert Dollfuss, dem Begründer des Austrofaschismus 

Strobl: Man sollte Faschismus und Rechtsextremismus nicht synonym verwenden. Ich bin jedoch dafür, sehr besonnen, aber ernst die Faschismusfrage zu diskutieren. Denn wir wissen aus der Geschichte, dass es nicht so viele Möglichkeiten gibt, den Faschismus aufzuhalten, wenn einmal erste Schwellen überschritten sind. Was wir derzeit sehen, ist, dass faschistische Diskurse stark Verbreitung finden – nicht nur durch Hardcorefaschisten. Es gibt heute zudem verschiedene Fraktionen mit faschistischen Tendenzen, die ein Bündnis bilden, weil sie so ihre Interessen am besten durchsetzen können – das war auch im historischen Faschismus so.

Was für Fraktionen meinen Sie?

Strobl: Wir haben die Kulturkampfrechte, die Kapitalfraktionen, es gibt den genuinen Techfaschismus im Silicon Valley, es gibt bestimmte Antworten auf die Klimakrise, die sich in ein faschistisches Projekt einfügen lassen. Wladimir Putin führt einen faschistischen Krieg, Viktor Orbán träumt von einem Grossungarn. Wir haben Faschismus ganz lange als Ultranationalismus gesehen, als ein nationales Projekt. Vielleicht ist das nicht mehr zeitgemäss, vielleicht müssten wir ihn mehr als übernationales Machtprojekt begreifen. Vielleicht gab es im 20. Jahrhundert nichts Grösseres als die Nation, aber jetzt gibt es das Internet. Wenn man den digitalen Raum beherrscht, hat man ziemlich viel gewonnen. Es ist natürlich die Frage, wie sich das in den analogen Raum übersetzt, ob dieser Faschismus in eine organisierte Form übergeht. Aber ich plädiere dafür, die sozialen Medien als Realität zu sehen. Das sind digitale Schlägertrupps, die dort auf Leute losgehen.

Wie definieren Sie Faschismus?

Strobl: Wenn wir uns diese Mobs im Internet anschauen, die einfach nur Blut sehen wollen, sind wir, glaube ich – mit Hannah Arendts Definition von Faschismus als Bündnis von Mob und Elite – sehr nahe bei dem, was uns auch gegenwärtig präsentiert wird. Mit Robert Paxton gesprochen, ist Faschismus zudem die einzige politische Ideologie, die Gewalt nicht rationalisieren muss, sondern die Gewalt ohne Grenzen, ohne moralische, juristische, politische Grenzen, kennt.

Sie haben erwähnt, dass sich faschistische Diskurse stark verbreiten. Welche meinen Sie?

Strobl: Faschistische Diskurse zeichnen sich dadurch aus, dass sie von einer Dekadenzdiagnose ausgehen: Alles ist in einem Niedergang, den man durch einen gewaltvollen Akt nach vorne überwinden muss. Etwas muss gereinigt werden, etwas muss vernichtet werden, dann kann es wieder gut sein. Da steckt ein starker Sozialdarwinismus drin, der schon immer Kern des Faschismus war. Wir haben solche Diskurse während der Pandemie gesehen. Lohnt es sich wirklich, auf die Alten und Kranken und Menschen mit Behinderung Rücksicht zu nehmen, oder sollen die nicht lieber sterben? Dass Ausländer unsere Haustiere essen, das hat nicht Donald Trump erfunden, diese Erzählung hatten wir eins zu eins im 19. Jahrhundert. In der Asyldebatte haben wir diese Diskurse die ganze Zeit. Und ich gehe davon aus, dass die Rechten auch bei der Klimafrage immer stärker auf solche Diskurse setzen werden.

Können Sie das etwas ausführen?

Nehmen wir etwa die Zehn-Millionen-Schweiz-Initiative der SVP. Die behauptet ja, wir müssten eine Abwägung treffen zwischen Umwelt und Menschen, die Überbevölkerung sei schuld an der Klimakrise. Das Zweite, was sie damit sagt, ist: Zu viel sind die, die herkommen. Es sind in dieser Erzählung die Menschen aus dem Globalen Süden, die das Klima kaputt machen. Wenn man das weiterspielt, heisst das: Die müssen vielleicht sogar im Mittelmeer ertrinken, damit das Klima gerettet wird. Das wird so natürlich nicht ausgesprochen, aber es ist die Idee dahinter. Erst setzt man die Bevölkerungszahl der Schweiz fest, dann die von Europa, dann die der Welt. Diese Idee ist eine faschistische, und ich glaube, die extreme Rechte wird künftig so mit der Klimadiskussion umgehen. Sie wird den Klimawandel ja nicht länger leugnen können, wenn er so evident ist. Und das Problem ist natürlich, wenn eine Gesellschaft das einmal akzeptiert, Menschen so zu sehen, wie die extreme Rechte sie sieht, dann kommt etwas ins Rutschen.

Gleichzeitig gibt es ja auch eine grosse Bewegung, die sich eine solidarischere Zukunft vorstellt. Wo stehen wir also?

Es ist alles offen. Und das liegt uns natürlich nicht. Wir hätten als Gesellschaft gerne, dass wir wissen, wie es weitergeht. Aber diese Zukunft ist verschwunden. Nun kann es furchtbar werden. Aber es kann auch gut werden, noch demokratischer, noch inklusiver. Um diesen Zukunftsentwurf muss man aber auch kämpfen.

Die konservativen und die liberalen Kräfte sind in vielen Ländern nach rechts gerückt. Und wenn man sich die parlamentarische Linke anschaut, ist auch nicht gerade Optimismus angezeigt. In Deutschland etwa steht auch die Sozialdemokratie nicht mehr für eine pluralistische Gesellschaft ein.

Strobl: Die SPD macht gerade alle typischen Fehler der Sozialdemokratie – aber zehn Jahre später als in anderen Ländern. Es ist unschön, was in Österreich passiert, aber Deutschland ist entscheidender. Deutschland war lange stabil. Wenn es kippt und einen rechtsextremen Weg geht, dann kippt Europa. Es ist ein fataler Fehler, der AfD so unverschämt recht zu geben. Zu sagen: Jetzt machen wir das auch, aber wir machen es ein bisschen schöner. Das darf nicht die Botschaft sein. Man müsste sagen: Die AfD hat einfach unrecht. Nicht nur auf der Werteebene, sondern auch sachlich. Grenzkontrollen helfen nichts gegen Gewalttaten.

Wenn wir nochmals auf Österreich zu sprechen kommen: Herbert Kickl inszeniert sich als «Volkskanzler». Was sagt das über die Vergangenheitsbewältigung Österreichs, wenn er Kanzler wird?

Strobl: Kickl war schon mal Innenminister. Und als solcher hat er mit einer Polizeieinheit zur Bekämpfung der Strassenkriminalität die Büros des Verfassungsschutzes durchsuchen lassen. Die haben Daten und Akten mitgenommen, die für immer verschwunden sind. Das hat das Vertrauen anderer Geheimdienste in den österreichischen erschüttert. Bis heute: Auch die Informationen zum geplanten Anschlag auf das Taylor-Swift-Konzert in Wien gingen nicht über den österreichischen Geheimdienst, sondern über den militärischen Abwehrdienst. Das muss man über Kickl als Politiker wissen. Es ist völlig klar, was man mit ihm bekommt. Der wird seine Politik durchziehen. Konventionen, Gesetze – das spielt dann keine Rolle mehr. Wenn die FPÖ an die Macht kommt, hat sie Zugriff auf die Medien, den Kulturbereich, den Sozialstaat, die Schulen, die Staatsanwaltschaften. Und es wird keinen Klimaschutz geben.

Kickl kann allerdings nur Kanzler werden, wenn die ÖVP es zulässt.

ÖVP-Chef Nehammer behauptet, es gebe keine Regierung mit Kickl. Aber das Vertrauen in die ÖVP ist aufgebraucht. Sie hat schon in mehreren Bundesländern versprochen, nicht mit der FPÖ im Landtag zusammenzugehen – und es dann doch getan.

Eine Brandmauer hat es in Österreich ohnehin nie gegeben.

Es gibt nicht mal ein Löschblatt. Aber wenn die ÖVP tatsächlich mit Kickl einen rechtsextremen Kanzler zulässt, ist das die grösste Zäsur, die man sich vorstellen kann.


Donnerstag, 19. September 2024

Gender, Sex und anderes was Unruhe verursacht

 Adrian Daub: Judith Butler:Hat hier jemand «Gender» gesagt?

in: WOZ Nr. 25; 20. Juni 2024
https://www.woz.ch/2425/judith-butler/hat-hier-jemand-gender-gesagt/!V05FMXWVZT4A

In ihrem neuen Buch zeichnet die Philosophin Judith Butler nach, wie die Gendertheorie zum Hassobjekt nicht nur von Rechten werden konnte – und was das mit dem neuen Autoritarismus zu tun hat.

Judith Butler darf von sich behaupten, das heutige Verständnis von Geschlecht und Identität stark beeinflusst zu haben. Inwiefern aber ihr Werk schlicht von Kritiker:innen benutzt wird, um ebendieses Verständnis zum Problem zu erklären, ist eine offene Frage. Und diese Frage steht hinter Butlers neuem, bislang erst auf Englisch erschienenen Buch, «Who’s Afraid of Gender?». Es ist das erste von ihr, das in einem grossen Publikumsverlag erschienen ist und sich explizit an eine breitere Öffentlichkeit wendet.

Der Schlüssel zu «Who’s Afraid of Gender?» kommt sehr spät, auf Seite 289. In den Danksagungen erzählt Butler, wie sie und ihre Partnerin 2017 im Flughafen in São Paulo von einem rechten Mob angegriffen wurden. «Mein erster Dank», so beginnt sie, «geht an den jungen Mann mit dem Rucksack, der sich zwischen uns und einen Angreifer warf und der die Prügel abbekam, die mir galten. Ich wünschte, ich würde seinen Namen kennen.»

So erschreckend der Zwischenfall für Butler gewesen sein muss, man versteht, wieso er sie auch zum Nachdenken inspiriert hat: Wie kommt es, dass eine Theoretikerin, die 1990 ein Buch bei einem Wissenschaftsverlag veröffentlicht, 27 Jahre später von einem Mob durch einen Flughafen gejagt wird? In «Who’s Afraid of Gender?» sucht Butler nach den Bedingungen, die diese Entwicklung ermöglicht haben. «Indem ich versuchte zu reflektieren, wer diese erzürnten Menschen waren, die uns eines chaotischen und reisserischen Bündels an Sexualverbrechen bezichtigten, beschloss ich, über die Bewegung der Anti-Gender-Ideologie zu schreiben.»

Jahrzehntelanger Feldzug
«Who’s Afraid of Gender?» zeichnet die Geschichte dieser Ideologie nach – was gar nicht so einfach ist, gerade für jemanden wie Butler. Denn es gibt beide jeweils mehrfach: den Genderbegriff und Judith Butler. Einmal gibt es die Philosophin und ihr Werk, sechzehn Bücher allein mit ihr als einziger Autorin. Und dann gibt es die propagandistische Schreckgestalt, die die Angreifer in São Paolo zu stellen versuchten – und als Puppe verbrannten. Es gibt «Gender» als Begriff, «Gender» als Forschungsgegenstand, und dann gibt es die Karikatur von «Gendergaga», «Genderideologie» und so weiter, gegen die rechte Politiker:innen, die katholische Kirche und «genderkritische» Feminist:innen seit Jahrzehnten einen Feldzug führen.

Von all diesen Versionen handelt Butlers neues Buch. Es ist eben auch die Summa einer Karriere, die – gerade in Fragen von Gender – zu einem Grossteil aus dem Korrigieren oft böswilliger Missverständnisse bestand. Aber vor allem geht es dem Buch um die Substanz und ideologischen Quellen dieser Missverständnisse.

Um das ein wenig auseinanderzudividieren: «Gender» als Begriff kam im feministischen Aktivismus und in der feministischen Forschung im Laufe der 1970er Jahre auf, doch die Ursprünge des Begriffs gehen noch viel weiter zurück. So hat die Historikerin Susan Stryker im Englischen eine Verwendung von «Gender» als gesellschaftlicher Rollenzuschreibung aufgrund des Geschlechts bereits im 19. Jahrhundert nachgewiesen. Und auch der berühmte Satz von Simone de Beauvoir, man werde nicht als Frau geboren, sondern zu einer solchen gemacht, greift dieser theoretischen Intervention schon voraus.

Sosehr man, gerade im deutschsprachigen Raum, Butler mit dem Begriff assoziiert: Nur ein Bruchteil dessen, was «Gender» heisst, kommt in der Tat von Judith Butler. «Genderstudien» sind erst einmal nichts weiter als die Anerkennung der Tatsache, dass man nicht unhinterfragt mit den Kategorien «Mann» und «Frau» operieren sollte – oder dass man die Welt besser analysiert, wenn man es nicht tut. Auch hier hakt Butler in ihrem Buch nach: Wie kam es zu dieser Verknappung, dieser Zuspitzung des Begriffs? Wieso bezeichnen angeblich intellektuell ambitionierte Medien auch in Deutschland den Forschungsbereich Gender Studies als «unwissenschaftlich», «quasireligiös» oder «sektenhaft», als «Neognostik»?

Die zweite Folge des «What's left?»-Podcast über die US-Wirtschaft mit Adam Tooze anhören
Butlers Beitrag zu diesem Bereich, vor allem in ihrem epochalen Buch «Gender Trouble» (1990, deutsch: «Das Unbehagen der Geschlechter»), bestand nicht etwa darin, dass sie den Genderbegriff etabliert hätte, sondern dass sie dessen englischen Gegenbegriff dekonstruierte: «Sex» als biologisches Geschlecht. Anstatt von einem natürlichen Geschlecht auszugehen, das dann in die soziale Konstruktion von Gender mündet, schlug Butler damals vor, das angeblich natürliche Geschlecht als Rückprojektion von Gender zu verstehen. Die behauptete Natürlichkeit des biologischen Geschlechts sei ein Versuch, die Instabilität gesellschaftlich konstruierter Genderkategorien künstlich zu stabilisieren.

#FreeSpeechBus – bizarre Kampagne
In diesem Kontext fällt dann auch das Stichwort «Performativität», das seit 1990 reihenweise Missverständnisse hervorgerufen hat. Dabei meint der Begriff zunächst einmal nicht viel mehr, als dass Gender eben kein Ausdruck einer bereits feststehenden Identität ist, sondern in einem gesellschaftlichen Prozess immer wieder produziert wird. Die Idee ­einer Geschlechtsidentität hat keine Substanz; vielmehr wird durch Wiederholung der Anschein einer Substanz erzeugt. Wie Butler in «Who’s Afraid of Gender?» schreibt, sei auch die Geschlechtszuordnung bei der Geburt «nicht einfach eine Bekanntgabe des Geschlechts» oder eine «Feststellung anatomischer Tatsachen». Denn mit der Geschlechtszuordnung äussere sich auch «eine Reihe von Wünschen und Erwartungen vonseiten der Erwachsenen».

Es ist klar, warum das vielen Verfechter:innen von traditionellen, vermeintlich «natürlichen» Geschlechterrollen ein Dorn im Auge ist. Deren Kritik bezog sich allerdings von Anfang an auf Dinge, die Butler nie behauptet hatte. Erinnert sei hier an den #FreeSpeechBus, der 2017 durch Frankreich kurvte, um Angst vor der «Gendertheorie» zu schüren, die angeblich in französischen Klassenzimmern den Kindern aufgezwungen wurde. Auf dem Bus prangte das Bild eines bizarren Frankenstein-Kindes, das halbseitig stereotyp als Junge dargestellt war, zur anderen Hälfte als Mädchen, und dem ein Aufziehmechanismus aus dem Kopf wuchs. «Meine Identität ist kein Spiel», stand über dem Kind, nach dem sich zu allem Überfluss auch noch eine gruselige Erwachsenenhand ausstreckte. «Die Schule sagt unseren Kindern: Junge oder Mädchen, das kann man auswählen. Finden Sie das normal?»

An einem bizarren Artefakt wie dem #FreeSpeechBus erkennt man gut, dass Butlers Theorien mitdenken muss, wer Anti-Gender-Bewegungen erklären will. Denn wenn die Dekorateur:innen des Busses von Gender als einem «Spiel», einem «Auswählen» fabulieren, beziehen sie sich eindeutig auf eine gängige Fehlinterpretation von Butlers Konzept von Performativität. Der Slogan, der auf dem Bus prangte, erklärte einigermassen kryptisch: «Die Geschlechtertheorie existiert nicht, und doch kehrt sie zurück.» Die gespenstische Wiederkehr von etwas, was gar nicht existiert? Der #FreeSpeechBus bestätigt hier unfreiwillig Butlers These von Gender als Phantasma, als Angstbild.

Nach dem «Unbehagen der Geschlechter», ihrem zweiten Buch, bestand Butlers Karriere vor allem darin, diese Position zu verteidigen und zu erklären – von «Bodies That Matter» (1993, «Körper von Gewicht») bis hin zu «Undoing Gender» (2004, «Die Macht der Geschlechternormen und die Grenzen des Menschlichen»). Ab den nuller Jahren kam ein anderer Themenkomplex hinzu: der Krieg gegen den Terror, etwa in den Büchern «Precarious Life» (2004) und «Frames of War» (2009), und eine Kritik des Zionismus im Buch «Parting Ways. Jewishness and the Critique of Zionism» (2012). Es ist dieser Themenkomplex, der Butler in den letzten zehn Jahren im deutschen Sprachraum einen besonders negativen Leumund eingebracht hat.

Breiter Angriff auf den Feminismus
Sosehr die Frage von Butlers Vermächtnis auch über ihrem neusten Buch schwebt: Was «Who’s Afraid of Gender?» eigentlich leistet, ist eine Rekonstruktion jener reaktionären Bewegung, die sich seit ungefähr der Jahrtausendwende um die Gegnerschaft zum Wort «Gender» schart – wozu der #FreeSpeechBus genauso gehört wie die kruden Thesen einer J. K. Rowling oder die antisemitischen Verschwörungstheorien eines Viktor Orbán. Butlers auf den ersten Blick frappierendes Fazit: Die Anti-Gender-Bewegung ist eigentlich kein blosser Backlash gegen Queer Theory oder gegen die stärkere Sichtbarkeit von trans Personen. Eigentlich ziele die Bewegung auf den Feminismus ab, und zwar nicht auf den queeren, postmodernen, intersektionalen, sondern auf die alte, angeblich so fest etablierte zweite Welle. «In vielen Ländern», so Butler, «ist der Angriff auf Gender genauso ein Angriff auf den Feminismus, insbesondere auf die reproduktive Freiheit, wie auf die Rechte von trans Personen, die Homoehe und die Sexualerziehung.»

Die Anfänge der Anti-Gender-Bewegung macht Butler in Lateinamerika fest, insbesondere unter erzkonservativen Katholiken. Angesichts der Homoehe begann das Angstwort «Gender» dann, Bewegungen zu bündeln, die eigentlich gerade ein Debakel nach dem anderen erlebten: etwa die katholische Rechte in Europa, die gegen die Homoehe in Frankreich Sturm lief, oder auch evangelikale US-Kirchen, die sich nach dem verlorenen Kampf gegen die Ehe für alle darauf verlegten, LGBTIQ+-Rechte in Afrika und Südamerika zu bekämpfen. Die Stichwortgeber der Anti-Gender-Bewegung ortet Butler im polnischen Ordo-Iuris-Institut oder im Umfeld des Mathias-Corvinus-Collegiums in Budapest, weswegen für ein europäisches Publikum vergleichsweise viele alte Bekannte im Buch vorkommen: Papst Benedikt XVI., Marine Le Pen, die Fidesz-Partei von Viktor Orbán in Ungarn, die neofaschistischen Fratelli d’Italia, aber auch Wladimir Putin und die AfD.

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Gerade in der westlichen Welt hat der durchschlagende Erfolg von «Gender» als Phantasma auch damit zu tun, dass sich längst nicht mehr nur stramm Rechte und/oder Religiöse davon aktivieren lassen. Denn je widersprüchlicher diese Bewegung sei, so Butler, als desto effektiver habe sie sich erwiesen. Als der Supreme Court in den USA im Juni 2022 das seit 1973 geltende bundesweite Recht auf Abtreibung abschaffte, hatte eine ihrem Selbstverständnis nach feministische Kolumnistin der «New York Times» danach nichts Besseres zu tun, als sich darüber zu beschweren, dass eine gemeinnützige Organisation für Abtreibungsrechte in einer Pressemitteilung das Wort «Frauen» nicht verwendet und eine andere schon mal von «gebärenden Personen» statt von «Frauen» gesprochen habe. Die Artikel derselben Kolumnistin zu trans Personen schmücken heute die gerichtlichen Anträge der Alliance Defending Freedom, einer christlich-konservativen Organisation, die weltweit gegen LGBTIQ+- und Frauenrechte kämpft.

«Gender» macht als Hassobjekt auch diese Art Schulterschlüsse möglich, ohne die die Rückschritte für Frauen und sexuelle Minderheiten, die sich in den letzten Jahren gerade in der US-Politik häufen, kaum möglich oder mehrheitsfähig wären. Ohne die transfeindlichen Äusserungen von öffentlichen Intellektuellen wie J. K. Rowling oder der britischen Philosophin Kathleen Stock wäre dieser rechte Rollback sehr viel klarer als solcher sichtbar.

Im Grunde genommen sind es zwei miteinander wetteifernde Formen der Globalisierung, die Butler in ihrer Erzählung gegenüberstellt. Einerseits hatte das Genderparadigma in seinen verschiedenen Formen in der Tat grossen Einfluss. Aber den weitaus grösseren internationalen Erfolg konnte der stark globalisierte Anti-Gender-Diskurs verbuchen: von afrikanischen Staaten mit starkem evangelikalem Einfluss über illiberale Demokratien in Osteuropa bis zu Donald Trump und Russland unter Putin.

Global betrachtet, hat Butlers Beschreibung natürlich ihre Grenzen, denn es gibt Länder, in denen LGBTIQ+-Personen noch einmal stärker bedroht sind als in Orbáns Ungarn. Doch die Unterdrückung der Frauen etwa im Iran hat mit Sorgen über eine angebliche «Genderideologie» eher wenig zu tun. Der Anti-Gender-Diskurs ist ein Zurückdrängungsdiskurs, er geht, etwa in den USA, mit dem Verbot der Abtreibung einher oder will trans Personen aus dem öffentlichen Raum verdrängen. Er arbeitet sich an feministischen und queeren Fortschritten ab, will diese zurückdrehen.

Butlers Argument ist, dass Gender Studies und der Anti-Gender-Diskurs eigentlich nur relativ mittelbar miteinander verknüpft sind – Gemecker über Gender gab es schon vor «Das Unbehagen der Geschlechter» oder bevor man genderte. Denn es geht den Feind:innen von Gender um sehr viel mehr als um Doppelpunkte oder Pronomina. Es geht um den Feminismus, um Homophobie, um sämtliche Freiheitsansprüche jenseits des Patriarchats. Das bekam Butler in São Paulo zu spüren, aber das bekommen LGBTIQ+-Personen überall zu spüren.

Auch Butler kann Common Sense
Womit wir wieder auf Seite 289 wären, in São Paulo, wo 2017 eine Judith-Butler-Puppe unter «Hexe!»-Rufen verbrannt wird. Warum liefert ein Buch, zumal das Buch einer an Freud geschulten Denkerin wie Butler, seine Urszene erst auf Seite 289? Das hat System, denn Butler selber ist im eigenen Buch einigermassen dezentriert. Ihre Erfahrungen, Theorien, Freund- und Feindschaften fliessen klar in die Analyse ein. Aber eigentlich fällt hier eher ihre Zurückhaltung auf. Das Spielerische an Butlers Stil, die Lust an verschachtelten Konstruktionen und am Wortspiel, ist hier kaum zu finden. Das Buch liest sich gut, die notorisch verworrene Prosa ist hier weitgehend geglättet.

Der Grund dafür liegt auf der Hand: Butler ist sich nach mehr als dreissig Jahren nur zu bewusst, in welche Fallen sie tappen kann, wenn sie zu theoretisch auftritt, ja dass das Wort «Theorie» selber immer stärker unter Beschuss gerät. Und sie weiss auch, dass die Menschen, die sie in diesem Buch kritisiert, sich gewohnheitsmässig auf den Common Sense berufen und die unmittelbare Plausibilität der eigenen Positionen betonen. Anti-Gender-Positionen haben, so Butler, einen «Ton der Vernünftigkeit», selbst wenn sie in Wahrheit pure Ideologie sind. Und in dieser Pose des «gesunden Menschenverstands» treffen sich hart rechte Kräfte mit solchen, die sich eigentlich für liberal oder gar links halten. Ihre Allianz aufzuweichen, scheint das heimliche Ziel von Butlers Buch zu sein. Sie übt sich dabei selber in einem Ton der Vernünftigkeit, der Geduld.

Wer eine Ideologie kritisiert, die ihre eigene ideologische Prägung nicht anerkennt, muss einen betont unideologischen Stil bemühen, auch wenn er oder sie an einen unideologischen Stil nicht glaubt. Und das ist das Hauptprojekt dieses Buches: Es geht um einen reaktionären Diskurs, der mit dem Nimbus einer Wissenschaftlichkeit spricht; und um eine Panik, die nicht reflektiert, wie stark sie von Affekten geleitet ist. Es ist nicht schwer zu verstehen, warum Butler in der Anti-Gender-Bewegung einen Hauptkanal sieht, über den der neue Autoritarismus seinen Weg in die vermeintlich liberale Öffentlichkeit findet. Genderkritiker:innen reden ständig von Propaganda, Diktatur und Indoktrination – dem also, was sie selber nicht ganz so heimlich befürworten.

Judith Butler: «Who’s Afraid of Gender?». Farrar, Straus & Giroux. New York 2024. 320 Seiten. 40 Franken.



Dienstag, 30. Juli 2024

Weltenbrand?

Jürgen Habermas 

Krieg und Empörung. Schriller Ton, moralische Erpressung: Zum Meinungskampf zwischen ehemaligen Pazifisten, einer schockierten Öffentlichkeit und einem abwägenden Bundeskanzler nach dem Überfall auf die Ukraine.

Süddeutsche Zeitung (SZ) vom 28. April 2022

77 Jahre nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs und 33 Jahre nach Beendigung eines nur im Gleichgewicht des Schreckens bewahrten, wenn auch bedrohten Friedens sind die aufwühlenden Bilder eines Krieges zurückgekehrt – vor unserer Tür und von Russland willkürlich entfesselt. Wie nie zuvor beherrscht die mediale Präsenz dieses Kriegsgeschehens unseren Alltag. Ein ukrainischer Präsident, der sich mit der Macht der Bilder auskennt, sorgt für eindrucksvolle Botschaften. Die täglich neuen Szenen von roher Zerstörung und aufrüttelndem Leiden finden in den sozialen Medien des Westens ein selbstverstärkendes Echo. Das Neue an der Veröffentlichung und kalkulierten Öffentlichkeitswirksamkeit eines unberechenbaren Kriegsgeschehens mag uns Ältere dabei mehr beeindrucken als die mediengewohnten Jüngeren.

Aber gekonnte Inszenierung hin oder her – es sind Tatsachen, die an unseren Nerven zerren und zu deren schockierender Wirkung das Bewusstsein von der territorialen Nähe dieses Krieges beiträgt. So wächst unter den Zuschauern im Westen die Beunruhigung mit jedem Toten, die Erschütterung mit jedem Ermordeten, die Empörung mit jedem Kriegsverbrechen – und der Wunsch, auch etwas dagegen zu tun. Der rationale Hintergrund, vor dem diese Emotionen landesweit aufwallen, ist die selbstverständliche Parteinahme gegen Putin und eine russische Regierung, die einen massiven völkerrechtswidrigen Angriffskrieg vom Zaune gebrochen haben und die mit ihrer systematisch menschenverachtenden Kriegführung gegen das humanitäre Völkerrecht verstoßen. Selbstgewissheit und Aggression der Ankläger gegen Olaf Scholz sind irritierend. Trotz dieser einhelligen Parteinahme bahnt sich unter den Regierungen des westlichen Staatenbündnisses ein differenziertes Vorgehen an; und in Deutschland ist ein schriller, von Pressestimmen geschürter Meinungskampf über Art und Ausmaß der militärischen Hilfe für die bedrängte Ukraine ausgebrochen. Die Forderungen der unschuldig bedrängten Ukraine, die die politischen Fehleinschätzungen und falschen Weichenstellungen früherer Bundesregierungen umstandslos in moralische Erpressungen ummünzt, sind so verständlich, wie die Emotionen, das Mitgefühl und das Bedürfnis zu helfen, die sie bei uns allen auslösen, selbstverständlich sind.

Und doch irritiert mich die Selbstgewissheit, mit der in Deutschland die moralisch entrüsteten Ankläger gegen eine reflektiert und zurückhaltend verfahrende Bundesregierung auftreten. Seine Politik bringt der Bundeskanzler im Interview mit dem Spiegel mit dem Satz auf den Punkt: „Wir treten dem Leid, das Russland in der Ukraine anrichtet, mit allen Mitteln entgegen, ohne dass eine unkontrollierbare Eskalation entsteht, die unermessliches Leid auf dem ganzen Kontinent, vielleicht sogar in der ganzen Welt auslöst.“ Nachdem sich der Westen entschlossen hat, in diesen Konflikt nicht als Kriegspartei einzugreifen, gibt es eine Risikoschwelle, die ein ungebremstes Engagement für die Aufrüstung der Ukraine ausschließt. Diese ist durch den jüngsten Schulterschluss unserer Regierung mit den Alliierten in Ramstein ebenso wie durch Lawrows erneute Drohung mit dem Einsatz von Atomwaffen soeben wieder in ein grelles Licht gerückt worden. Wer ungeachtet dieser Schwelle den Bundeskanzler in aggressiv-selbstgewissem Tenor in diese Richtung immer weiter vorantreiben will, übersieht oder missversteht das Dilemma, in das der Westen durch diesen Krieg gestürzt wird; denn dieser hat sich mit dem auch moralisch gut begründeten Entschluss, nicht Kriegspartei zu werden, selbst die Hände gebunden.

Der Bundeskanzler besteht zu Recht auf einer politisch zu verantwortenden Abwägung. Das Dilemma, das den Westen zur risikoreichen Abwägung von Alternativen im Raum zwischen zwei Übeln – einer Niederlage der Ukraine oder der Eskalation eines begrenzten Konflikts zum dritten Weltkrieg – nötigt, liegt auf der Hand. Einerseits haben wir aus dem Kalten Krieg die Lehre gezogen, dass ein Krieg gegen eine Atommacht nicht mehr in irgendeinem vernünftigen Sinne „gewonnen“ werden kann, jedenfalls nicht mit Mitteln militärischer Gewalt innerhalb der überschaubaren Frist eines heißen Konflikts. Das atomare Drohpotenzial hat zur Folge, dass die bedrohte Seite, ob sie nun selber über Atomwaffen verfügt oder nicht, die in jedem Fall unerträglichen Zerstörungen militärischer Gewaltanwendung nicht durch einen Sieg, sondern bestenfalls mit einem für beide Seiten gesichtswahrenden Kompromiss beenden kann. Dann wird keiner Seite eine Niederlage zugemutet, die sie als „Verlierer“ vom Feld gehen lässt. Die derzeit mit den Kämpfen noch parallel laufenden Waffenstillstandsverhandlungen sind ein Ausdruck dieser Einsicht; sie halten einstweilen den reziproken Blick auf den Gegner als möglichen Verhandlungspartner offen. Zwar hängt das russische Drohpotenzial davon ab, dass der Westen Putin den Einsatz von ABC-Waffen zutraut. Aber tatsächlich hat die CIA während der letzten Wochen schon vor der aktuellen Gefahr sogenannter „kleiner“ Atomwaffen gewarnt (die offenbar nur deshalb entwickelt worden sind, um Kriege unter Atommächten wieder möglich zu machen). Das verleiht der russischen Seite einen asymmetrischen Vorteil gegenüber der Nato, die wegen des apokalyptischen Ausmaßes eines Weltkrieges – mit der Beteiligung von vier Atommächten – nicht zur Kriegspartei werden will.

Nun entscheidet Putin darüber, wann der Westen die völkerrechtlich definierte Schwelle überschreitet, jenseits derer er die militärische Unterstützung der Ukraine auch formal als Kriegseintritt des Westens betrachtet. Angesichts des unbedingt zu vermeidenden Risikos eines Weltenbrandes lässt die Unbestimmtheit dieser Entscheidung keinen Spielraum für riskantes Pokern. Selbst wenn der Westen zynisch genug wäre, die „Warnung“ mit einer dieser „kleinen“ Atomwaffen als Risiko einzukalkulieren, also schlimmstenfalls in Kauf zu nehmen, wer könnte garantieren, dass die Eskalation dann noch aufzuhalten wäre? Was bleibt, ist ein Spielraum für Argumente, die im Licht der fachlich notwendigen Kenntnisse und aller erforderlichen, nicht immer öffentlich zugänglichen Informationen sorgfältig abgewogen werden müssen, um begründete Entscheidungen treffen zu können. Der Westen, der ja schon mit der Verhängung drastischer Sanktionen von Anbeginn keinen Zweifel an seiner faktischen Kriegsbeteiligung gelassen hat, muss deshalb bei jedem weiteren Schritt der militärischen Unterstützung sorgfältig abwägen, ob er damit nicht auch die unbestimmte, weil von Putins Definitionsmacht abhängige Grenze des formalen Kriegseintritts überschreitet.

Andererseits kann sich der Westen aufgrund dieser Asymmetrie, wie auch die russische Seite weiß, nicht beliebig erpressen lassen. Würde dieser die Ukraine einfach ihrem Schicksal überlassen, wäre das nicht nur unter politisch-moralischen Gesichtspunkten ein Skandal, es läge auch nicht im eigenen Interesse. Denn dann müsste er erwarten, das gleiche russische Roulette demnächst wiederum im Falle von Georgien oder der Republik Moldau spielen zu müssen – und wer wäre der Nächste? Gewiss, die Asymmetrie, die den Westen längerfristig in eine Sackgasse treiben könnte, besteht ja nur so lange, wie sich dieser aus guten Gründen scheut, einen nuklearen Weltkrieg zu riskieren. Mithin wird dem Argument, Putin nicht in die Ecke zu drängen, weil er dann zu allem fähig sei, entgegnet, dass erst diese „Politik der Furcht“ dem Gegner freie Hand lässt, die Eskalation des Konflikts Schritt für Schritt voranzutreiben (Ralf Fücks in der SZ). Freilich bestätigt auch dieses Argument nur den Charakter einer schwer berechenbaren Lage. Denn solange wir aus guten Gründen entschlossen sind, für den Schutz der Ukraine nicht als eine weitere Partei in den Krieg einzutreten, müssen Art und Umfang der militärischen Unterstützung auch unter diesem Gesichtspunkt qualifiziert werden. Wer sich auf rational vertretbare Weise gegen eine „Politik der Furcht“ wendet, bewegt sich schon innerhalb des Argumentationsspielraums jener politisch zu verantwortenden und sachlich umfassend informierten Abwägung, auf der Bundeskanzler Olaf Scholz zu Recht besteht.

Deutsche Leitmedien breiten Spekulationen zu Putin aus wie zu besten Sowjetzeiten. Dabei geht es um die Beachtung einer aus unserer Sicht für Putin zustimmungsfähigen Interpretation einer rechtlich definierten Grenze, die wir uns selbst auferlegt haben. Die echauffierten Gegner der Regierungslinie sind, wenn sie die Implikationen einer Grundsatzentscheidung, die sie nicht in Frage stellen, leugnen, inkonsequent.

Der Entschluss zur Nichtbeteiligung bedeutet nicht, dass der Westen die Ukraine up to the point of immediate involvement dem Schicksal ihres Kampfes mit einem überlegenen Gegner überlassen muss. Seine Waffenlieferungen können offensichtlich den Verlauf eines Kampfes, den die Ukraine selbst um den Preis großer Opfer weiterzuführen entschlossen ist, günstig beeinflussen. Aber ist es nicht ein frommer Selbstbetrug, auf einen Sieg der Ukraine gegen die mörderische russische Kriegführung zu setzen, ohne selbst Waffen in die Hand zu nehmen?

Die kriegstreiberische Rhetorik verträgt sich schlecht mit der Zuschauerloge, aus der sie wortstark tönt. Denn sie entkräftet ja nicht die Unberechenbarkeit eines Gegners, der alles auf eine Karte setzen könnte. Das Dilemma des Westens besteht darin, dass er einem gegebenenfalls auch zur atomaren Eskalation bereiten Putin nur durch eine sich selbst begrenzende militärische Unterstützung der Ukraine, die diesseits der roten Linie eines völkerrechtlich definierten Kriegseintritts bleibt, den Grundsatz signalisieren kann, dass er auf der Integrität staatlicher Grenzen in Europa besteht.

Die kühle Abwägung einer sich selbst begrenzenden Militärhilfe wird zusätzlich kompliziert durch die Einschätzung der Motive, die die russische Seite zu ihrem offensichtlich falsch kalkulierten Entschluss bewogen haben. Die Konzentration auf die Person Putins führt zu wilden Spekulationen, die unsere Leitmedien heute wie zu den besten Zeiten der spekulativen Sowjetologie ausbreiten. Das heute vorherrschende Bild vom entschlossen revisionistischen Putin bedarf wenigstens des Abgleichs mit einer rationalen Einschätzung seiner Interessen. Auch wenn Putin die Auflösung der Sowjetunion für einen großen Fehler hält, kann das Bild des verstiegenen Visionärs, der mit dem Segen der russisch-orthodoxen Kirche und unter dem Einfluss des autoritären Ideologen Alexander Dugin die schrittweise Wiederherstellung des großrussischen Reiches als seine politische Lebensaufgabe betrachtet, kaum die ganze Wahrheit über seinen Charakter widerspiegeln. Aber auf solche Projektionen stützt sich die weitgehende Annahme, dass sich die aggressiven Absichten Putins über die Ukraine hinaus auf Georgien und die Republik Moldau, sodann auf die Nato-Mitglieder des Baltikums und schließlich bis weit in den Balkan hinein erstrecken. Kann dieser Krieg gegen eine Atommacht also „gewonnen“ werden?

Diesem Persönlichkeitsbild eines wahnhaft getriebenen Geschichtsnostalgikers steht ein Lebenslauf des sozialen Aufstiegs und der Karriere eines im KGB geschulten rational kalkulierenden Machtmenschen gegenüber, den die Westwendung der Ukraine und die politische Widerstandsbewegung in Belarus in seiner Beunruhigung über den politischen Protest in den fortschreitend liberaler denkenden Kreisen der eigenen Gesellschaft bestärkt haben.

Aus dieser Sicht wäre die wiederholte Aggression eher als die frustrierte Antwort auf die Weigerung des Westens zu verstehen, über Putins geopolitische Agenda zu verhandeln – vor allem über die internationale Anerkennung seiner völkerrechtswidrigen Eroberungen und die Neutralisierung eines „Vorfeldes“, das die Ukraine einschließen sollte. Das Spektrum dieser und ähnlicher Spekulationen vertieft nur die Ungewissheit eines Dilemmas, das „äußerste Vorsicht und Zurückhaltung gebietet“ (so das Fazit einer lehrreichen Analyse von Peter Graf Kielmansegg in der FAZ vom 19. April 2022).

Wie erklärt sich dann aber die innenpolitisch aufgeheizte Debatte über die von Bundeskanzler Scholz immer wieder bekräftigte Politik einer in Übereinstimmung mit den EU- und den Nato-Partnern überlegten Solidarität mit der Ukraine? Um die Themen zu entflechten, lasse ich den Streit über die Fortsetzung der bis zum Ende der Sowjetunion und auch noch darüber hinaus erfolgreichen Entspannungspolitik gegenüber einem unberechenbar gewordenen Putin, die sich nun als folgenreicher Fehler herausgestellt hat, beiseite; ebenso den Fehler deutscher

Regierungen, sich auch unter dem Druck der Wirtschaft von billigen russischen Ölimporten abhängig zu machen. Über das kurze Gedächtnis der heutigen Kontroversen wird eines Tages das Urteil der Historiker entscheiden.

Anders verhält es sich mit der Debatte, die sich unter dem bedeutungsträchtigen Namen einer „neuen deutschen Identitätskrise“ schon jetzt mit den Konsequenzen der zunächst nüchtern auf die deutsche Ostpolitik und den Verteidigungshaushalt bezogenen „Zeitenwende“ befasst. Denn diese Debatte, die vor allem an Beispiele der erstaunlichen Konversion friedensbewegter Geister anknüpft, soll einen historischen Wandel der von rechts immer wieder denunzierten, tatsächlich schwer genug errungenen Nachkriegsmentalität der Deutschen ankündigen

– und damit überhaupt das Ende eines auf Dialog und Friedenswahrung angelegten Modus der deutschen Politik.

Schon ist die emotional ergriffene Außenministerin zur Ikone geworden. Diese Lesart fixiert sich auf das Beispiel jener Jüngeren, die zur Empfindlichkeit in normativen Fragen erzogen worden sind, ihre Emotionen nicht verstecken und am lautesten ein stärkeres Engagement einfordern. Sie erwecken den Eindruck, als habe sie die völlig neue Realität des Krieges aus ihren pazifistischen Illusionen herausgerissen. Das erinnert auch an die zur Ikone gewordene Außenministerin, die unmittelbar nach Kriegsbeginn mit glaubwürdigen Gesten und einer bekenntnishaften Rhetorik der Erschütterung einen authentischen Ausdruck verliehen hat. Nicht als stünde sie damit nicht auch für das Mitgefühl und den Impuls zu helfen, die in unserer Bevölkerung allgemein verbreitet sind; aber sie hat darüber hinaus der spontanen Identifizierung mit dem ungestüm moralisierenden Drängen der zum Sieg entschlossenen ukrainischen Führung eine überzeugende Gestalt gegeben. Damit berühren wir den Kern des Konflikts zwischen denen, die empathisch, aber unvermittelt die Perspektive einer um ihre Freiheit, ihr Recht und ihr Leben kämpfenden Nation einnehmen, und denen, die aus den Erfahrungen des Kalten Krieges eine andere Lehre gezogen und – wie doch die auf unseren Straßen Protestierenden auch – eine andere Mentalität ausgebildet haben. Die einen können sich einen Krieg nur unter der Alternative von Sieg oder Niederlage vorstellen, die anderen wissen, dass Kriege gegen eine Atommacht nicht mehr i herkömmlichen Sinne „gewonnen“ werden können.

Grob gesagt, bilden die eher national und die eher postnational geprägten Mentalitäten von Bevölkerungen den Hintergrund für verschiedene Einstellungen zu Krieg überhaupt. Diese Differenz wird deutlich, wenn man den bewunderten heroischen Widerstand und die selbstverständliche Opferbereitschaft der ukrainischen Bevölkerung mit dem vergleicht, was von „unseren“, sagen wir verallgemeinernd, westeuropäischen Bevölkerungen in ähnlicher Situation zu erwarten wäre. In unsere Bewunderung mischt sich ein gewisses Erstaunen über die Siegesgewissheit und den ungebrochenen Mut der Soldaten und der für den Kampf rekrutierten Jahrgänge, die finster entschlossen sind, ihre Heimat gegen einen militärisch weit überlegenen Feind zu verteidigen. Demgegenüber setzen wir im Westen auf Berufsheere, die wir bezahlen, um uns gegebenenfalls nicht selbst mit der Waffe in der Hand schützen zu müssen, sondern von Berufssoldaten schützen zu lassen.

Noch muss übrigens mit ebenjenem Wladimir Putin verhandelt werden. Diese postheroische Mentalität hat sich im Westen Europas – wenn ich das so überverallgemeinernd sagen darf – während der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts unter dem atomaren Schutzschirm der USA ausbilden können. 

Im Hinblick auf die möglich gewordenen Verwüstungen eines Atomkrieges hat sich in den politischen Eliten und dem jeweils weit überwiegenden Teil der Bevölkerungen die Einsicht verbreitet, dass internationale Konflikte grundsätzlich nur durch Diplomatie und Sanktionen gelöst werden können – und dass im Fall des Ausbruchs von militärischen Konflikten der Krieg, da er nach menschlichem Ermessen im Hinblick auf das schwer kalkulierbare Risiko eines drohenden Einsatzes von ABC-Waffen nicht mehr im klassischen Sinne mit Sieg oder

Niederlage zu Ende geführt werden kann, so schnell wie möglich beigelegt werden muss: „Vom Krieg kann man nur lernen, Frieden zu machen“, sagt Alexander Kluge. Diese Orientierung bedeutet nicht etwa einen grundsätzlichen Pazifismus, also Frieden um jeden Preis. Die Orientierung an der möglichst schnellen Beendigung von

Destruktion, menschlichen Opfern und Entzivilisierung ist nicht gleichbedeutend mit der Forderung, eine politisch freie Existenz für das bloße Überleben aufzuopfern. Die Skepsis gegen das Mittel kriegerischer Gewalt findet prima facie eine Grenze an dem Preis, den ein autoritär ersticktes Leben fordert – ein Dasein, aus dem auch noch das Bewusstsein vom Widerspruch zwischen erzwungener Normalität und selbstbestimmtem Leben verschwunden wäre.

Die von den rechten Interpreten der Zeitenwende begrüßte Umkehr unserer ehemaligen Pazifisten erkläre ich mir  aus einer Konfusion jener beiden gleichzeitig aufeinanderstoßenden, aber historisch ungleichzeitigen Mentalitäten. Diese markante Gruppe teilt die Siegeszuversicht der Ukrainer und appelliert mit großer Selbstverständlichkeit an das verletzte internationale Recht. Nach Butscha verbreitete sich in Windeseile die Parole: „Putin nach Den Haag!“ Das signalisiert allgemein die Selbstverständlichkeit der normativen Maßstäbe, die wir heute an die internationalen Beziehungen anlegen, also das tatsächliche Ausmaß der Veränderung in den entsprechenden Erwartungen und humanitären Sensibilitäten der Bevölkerung.

In meinem Alter verhehle ich nicht eine gewisse Überraschung: Wie tief muss der Boden der kulturellen Selbstverständlichkeiten, auf dem unsere Kinder und Enkel heute leben, umgepflügt worden sein, wenn sogar die konservative Presse nach den Staatsanwälten eines Internationalen Strafgerichtshofes ruft, der weder von Russland und China noch von den USA anerkannt wird. Leider verrät sich in solchen Realitäten auch der doch noch hohl klingende Boden einer erregten Identifizierung mit den immer schriller gewordenen moralischen Anklagen der deutschen Zurückhaltung. Nicht als hätte es der Kriegsverbrecher Putin nicht verdient, vor einem solchen Gericht zu stehen; aber noch nimmt er im Sicherheitsrat der Vereinten Nationen den Sitz einer Vetomacht ein und kann seinen Gegnern mit Atomwaffen drohen. Noch muss mit ihm ein Ende des Krieges, wenigstens ein Waffenstillstand verhandelt werden. Ich sehe keine überzeugende Rechtfertigung für die Forderung nach einer Politik, die – im peinigenden, immer unerträglicher werdenden Anblick der täglich qualvolleren Opfer – den gleichwohl gut begründeten Entschluss der Nichtbeteiligung an diesem Krieg de facto aufs Spiel setzt.

Die Konversion der ehemaligen Pazifisten führt zu Fehlern und Missverständnissen. Politisch-mentale Differenzen, die sich aus ungleichzeitigen historischen Entwicklungen erklären, dürfen sich Verbündete nicht zum Vorwurf machen, sie sollten diese als Fakten zur Kenntnis nehmen und in ihrer Kooperation klug berücksichtigen. Aber solange diese Perspektiven bildenden Unterschiede im Hintergrund bleiben, verursachen sie wie im Falle der Reaktion der Abgeordneten auf die moralischen Ordnungsrufe des ukrainischen Präsidenten in seiner Videoansprache an den Bundestag nur eine Konfusion der Gefühle – ein Durcheinander zwischen ungaren Reaktionen der Zustimmung, des bloßen Verständnisses für die Perspektive des Anderen und der gebotenen Selbstachtung. Die Vernachlässigung der historisch begründeten Differenzen in der Wahrnehmung und Interpretation von Kriegen führt nicht nur, wie im Falle der brüsken Ausladung des deutschen Bundespräsidenten, zu folgenreichen Fehlern im Umgang miteinander. Sie führt, was schlimmer ist, zur einem reziproken Missverständnis dessen, was der andere tatsächlich denkt und will.

Diese Erkenntnis rückt auch die Konversion der einstigen Pazifisten in ein nüchterneres Licht. Denn sowohl die Empörung wie das Entsetzen und das Mitgefühl, die den motivationalen Hintergrund ihrer kurzschlüssigen Forderungen bilden, erklären sich ja nicht aus einer Absage an die normativen Orientierungen, über die sich die sogenannten Realisten immer schon mokiert haben. Sondern aus einer überprägnanten Lesart gerade dieser Grundsätze. Sie haben sich nicht zu Realisten bekehrt, sondern überschlagen sich geradezu in Realismus: Gewiss, ohne moralische Gefühle keine moralischen Urteile; aber das verallgemeinernde Urteil korrigiert auch seinerseits die beschränkte Reichweite der aus der Nähe stimulierten Gefühle.

Immerhin nicht zufällig sind die Autoren der „Zeitenwende“ jene Linken und Liberalen, die angesichts einer drastisch veränderten Konstellation der Großmächte – und im Schatten transatlantischer Ungewissheiten – mit einer überfälligen Einsicht Ernst machen wollen: Eine Europäische Union, die ihre gesellschaftliche und politische Lebensform weder von außen destabilisieren noch von innen aushöhlen lassen will, wird nur dann politisch handlungsfähig werden, wenn sie auch militärisch auf eigenen Beinen stehen kann. Macrons Wiederwahl markiert eine Galgenfrist. Aber zunächst müssen wir einen konstruktiven Ausgang aus unserem Dilemma finden.

Diese Hoffnung spiegelt sich in der vorsichtigen Formulierung des Zieles, dass die Ukraine den Krieg nicht verlieren darf.


Mittwoch, 27. Dezember 2023

Die Klimapolitik nährt längst nur noch Illusionen

Worüber niemand sprechen will. Die Begrenzung der Erderhitzung auf zwei Grad ist längst Illusion, sagt der US-amerikanische Schriftsteller Jonathan Franzen. Was schlägt er vor?

Interview von Peter Unfried mit Autor Jonathan Franzen, taz 19.12.2023


»WAS PASSIERT, WENN WIR UNS DARAUF EINIGEN, DASS DAS EH NICHT MEHR HINZUKRIEGEN IST?«

taz FUTURZWEI: Jonathan Franzen, seit Ihrem Klimaessay sind vier Jahre vergangen, die Emissionen steigen weiter, wir tun faktisch viel zu wenig, aber rhetorisch immer noch so, als seien wir auf dem Weg, das Paris-Abkommen – möglichst 1,5, mindestens unter zwei Grad – einzuhalten. Wie sehen Sie inzwischen die Lage?

Jonathan Franzen: Das ist für mich ein Problem des Klimaaktivismus. Auf der einen Seite muss man das düsterste drohende Szenario entwerfen, auf der anderen Seite muss man sagen: Wir haben noch etwas Zeit. Einer meiner beiden besten Freunde aus dem College ist Geologiephysiker an der Columbia, wie auch seine Frau. Wie die miteinander reden, hat überhaupt nichts mit dem zu tun, was offiziell gesagt wird.

Was ist denn offizieller Sprech?

Naja, fahrt mehr Fahrrad, dann wird das schon, und so ein Unsinn.

Wann haben Sie sich selbst denn eingestanden, dass die Klimakatastrophe nicht mehr zur verhindern ist?

Nach der Lektüre von Fachliteratur und basierend auf meinem Vertrauen in die Experten, mit denen ich gesprochen habe, vor allem aber auch durch viele Gespräche mit dem Umweltwissenschaftler Dale Jamieson und dessen Buch Reason in a Dark Time machte mich dieses schreckliche Spannungsfeld zwischen der Klimarealität und dem, was als Realität beschrieben wurde, total sauer. Das war unehrlich, selbstverständlich in den meisten Fällen gut gemeint, aber manchmal auch nur, um den eigenen Job zu retten. Dadurch existiert eben auch eine weniger sympathische, selbsterhaltende Kultur in diesen Instituten und NGOs, die einem erzählen, dass es noch nicht zu spät ist und wir das Klimaproblem immer noch lösen können.

Die Sorge ist, dass gar nichts mehr geht, wenn das Zwei-Grad-Ziel aufgegeben würde.

There you go.

Aber ich traue der Regierung nicht, denn ich weiß, wie der Hase läuft.

Wie denn?

Die Regierung, die Unternehmen und die Gewerkschaften in Kalifornien hassen Solarmodule auf Dächern. Ich frage Sie: Was würde hier denn mehr Sinn machen als Solardächer? Okay, schwierig für Arme, die die finanzielle Vorleistung nicht aufbringen können. Das müsste man also fördern, sodass es für alle funktioniert. Aber die Energieunternehmen wollen das nicht. Sie sagen: Moment mal, die Leute wollen das Produkt selbst herstellen, das wir verkaufen? Das ist aber gar nicht gut. Die wollen die Produktionsmittel kontrollieren, das bedeutet also gigantische Installationen. Im Moment sind Solarinstallateure in der Regel keine Gewerkschaftsmitglieder, weshalb die Gewerkschaften die Großprojekte in der südkalifornischen Mojave-Wüste lieben, weil das neue Jobs garantiert.

Bringen Sie Licht ins Dunkel mit einem Jahresabo der taz FUTURZWEI! Mit unserem Geschenkabo erhalten Sie einen Verschenkgutschein für die nächsten vier Ausgaben, dazu gibt es die Solarlampe „Little Sun“ von Olafur Eliasson. Das Geschenkabo endet automatisch nach einem Jahr.

Was ist mit der Politik?

Politisch steht die Biden-Regierung unter immensem Druck, dass schnell was passiert, und deshalb klüngeln Regierung und mächtige Gewerkschaften und die noch mächtigeren Energieunternehmen zusammen, um Umweltrestriktionen zu umgehen. Das empfinde ich als Zumutung, weil Leute ihre Energie lokal produzieren und irgendwann auch selbst verteilen und in manchen Fällen speichern könnten.

Kein gutes Wort?

Naja, ich schätze die These hinter dem Green New Deal. Dass dieser nicht zwangsläufig politisch auf verlorenem Posten steht, denn die Transformation zu erneuerbarer Energie sollte eine Menge neuer Arbeitsplätze schaffen, und zwar gute mittelständische Arbeitsplätze. So gewinnt man hier Wahlen.

»When I hear climate, I think jobs« – einen besseren Slogan als Joe Biden wird man schwer finden, um postfossile Wirtschaft mehrheitsfähig zu machen.

Der Slogan ist gut, aber nicht, wie er umgesetzt wird. Es ist nicht zu fassen, dass die grünen Organisationen auch gegen Solardächer sind, was sie damit rechtfertigen, dass diese nur für die Mittelschicht bezahlbar seien. Die Energieunternehmen sind ganz und gar nicht arm und total glücklich mit dieser Politik. Weil sie die Armen viel mehr lieben als ich? Das glaube ich nicht.

Die öffentliche Diskussion wird im Moment meist populistisch und an den großen Fragen vorbeigeführt. Wie entsteht eine Kultur, in der ernsthaft über die zentralen Probleme geredet wird?

Also für diese Art Perspektivblick bin ich nicht zuständig, schon gar nicht für positive Visionen.

That‘s a shame.

Für die immer katastrophaleren Klimaschocks kann ich ziemlich sicher neue Gefahren vorhersagen und auch, dass das Kommende die gegenwärtige Flüchtlingskrise aussehen lassen wird wie die gute alte Zeit.

Wir werden aktiv gegen Klimaflüchtlinge, aber nicht, um Solarmodule aufzustellen und andere Grundlagen dafür zu schaffen, dass Menschen nicht fliehen müssen?

Also, ich weiß nicht, wie das in Deutschland ist, aber wozu soll man in Kalifornien Kohle verbrennen, um Energie zu erzeugen, wenn es so viel Sonne gibt?

Das ist die herrschende Kultur und Machtstruktur, an die wir uns gewöhnt haben.

Nochmal: Ich bewerbe mich nicht um ein politisches Amt, und mein Publikum erwartet von mir auch nicht, gesagt zu bekommen, was es tun soll. Meine Stärke liegt vielmehr darin, die Situation zu erfassen, in der wir uns befinden. Ich pflege eine bestimmte Form von intuitiver politischer Analyse, etwa den Vormarsch nationalistischer Populisten, die den Leuten erzählen, dass ihnen die Einwanderer die Butter vom Brot nehmen. Das geht Hand in Hand mit den Rechten, von denen die meisten sehr genau über die Klimakrise Bescheid wissen und die ihre eigenen schrecklichen Gründe haben, so zu tun, als seien das alles Falschmeldungen. Und die in einer allgemeinverständlichen Sprache den Leuten erzählen, alles sei außer Kontrolle geraten, die Infrastrukturen brächen zusammen und Millionen und Abermillionen wollen in ihr Land rein ... haben Sie den Vogel gesehen?

Deutsch: Wann hören wir auf, uns etwas vorzumachen? Gestehen wir uns ein, dass wir die Klimakatastrophe nicht verhindern können (Rowohlt 2020)

Hab ich verpasst.

Jetzt ist er da hinten, dieser gelbe.

Wie kann man verhindern, dass jeder die Klimakrise für seine Zwecke instrumentalisiert?

Wie gesagt, ich mache solche Vorhersagen nicht. Aber wenn Sie mir die Pistole auf die Brust setzen und mich fragen, was ich will: Ich will ein ehrliches Gespräch mit allen Interessenvertretern. Es wäre auch interessant, was AOC zu sagen hat ...


... die Abgeordnete des Repräsentantenhauses, Alexandria Ocasio-Cortez, Gesicht der links-emanzipatorischen Milieus ...

... zum Beispiel zu Einwanderung, wenn in 15 Jahren große Teile der lateinamerikanischen Länder in Äquatornähe unbewohnbar sind. Die Leute wollen darüber nicht reden und sagen deshalb ganz schnell: Deshalb brauchen wir den Green New Deal.

Geht das gegen mich?

Können wir mal aufhören so zu tun, als ob Dinge plötzlich wie durch ein Wunder besser werden, und zugeben, dass mit großer Wahrscheinlichkeit die Dinge ganz schnell viel schlechter werden? Was machen wir dann? Was ist als US-Bürger politisch und moralisch zu tun, wenn dieses Land noch einigermaßen klarkommt, aber ein großer Teil der Welt nicht mehr? Das ist eine Frage, über die niemand sprechen will. Die Rechte tut so, als hätten wir nur ein, zwei schlechte Sommer. Und die Linke tut so, als würde man das Problem los, wenn man nur schön Fahrrad fährt und mehr Bäume pflanzt.

Und Sie setzen auf ein ehrliches Gespräch aller Interessenvertreter?

Wenn wir diese Repräsentanten für zwei Wochen in einen Raum bekämen, dann wäre ich auf das Ergebnis gespannt. Die bittere Realität ist nicht nur das wachsende Klimaproblem, sondern die Erschöpfung von Ressourcen und ein ökonomisches Modell, das auf einer weiteren Ausschöpfung von Ressourcen beruht. Darüber will niemand sprechen. Und dann gibt es noch zwei, drei, die sagen: Und was ist mit der Natur?

Sie, zum Beispiel. Sie haben erfolgreiche Klimapolitik interessanterweise genau in dem Jahr abgeschrieben, als bei mir und vielen neue Hoffnung aufkam: 2015 als das völkerrechtliche Übereinkommen von Paris getroffen wurde. Wie das?


Das war das Jahr, in dem ich Dale Jamiesons Buch las. Danach wollte ich mehr wissen und begann damals auch mit Wissenschaftlern zu sprechen. Ich hörte von so vielen aus der Naturschutzszene, dass die Ressourcen zu Ende gingen und alles nur noch Klima, Klima, Klima sei. Und man konnte ja bei genauer Lektüre des Pariser Abkommens sehen, dass das hübsche Worte waren. Aber entscheidend war Dales Buch, das in fünf Aspekten beschreibt, dass der Klimawandel ein Problem ist, das Menschen nicht lösen können.

Weil es keine Weltgesellschaft gibt, die kollektiv handeln könnte?

Ja. Aber auch aus kognitiven und ökonomischen Gründen. Es ist das eine, zu sagen, dass Kapitalismus schlimm ist, aber es gibt keinen unmittelbaren Ersatz

Wir haben immer noch Kommunismus.

Genau, Kommunisten, diese Freunde der Umwelt.

Die Ironie trifft es, ist aber etwas billig.

Mag sein, aber China kehrt auf eine Weise zum Hardcore-Kommunismus zurück, entwickelt kontinuierlich Kohlekraftwerke, zeigt außerdem ideologisch gefärbte Unfähigkeit, mit den plötzlich auftretenden ökonomischen Problemen umzugehen. Aber klar, wir können immer auch auf den Kommunismus zurückgreifen.

Let‘s not do it.

Let‘s not do it. Ich bin allergisch gegen Ideologien jeder Art.

Die sind überall.

Ich weiß, die kommen in allen möglichen Ausführungen, und mir gefällt keine davon. Um aber auf Ihre Frage zurückzukommen, was wir kulturell tun können, ich weiß nicht, ob ich Ihnen hier wirklich helfen kann, Peter.

Ihr Essay „Wann hören wir auf, uns etwas vorzumachen?“ hat mich mehrfach durchgeschüttelt, aber nichtsdestotrotz führe ich nach Ende der Lektüre stets mein gewohntes Leben und Denken weiter.

Das wird bei Dale erklärt, warum das auch Vorteile hat: weil wir ein Leben und Beziehungen zu führen haben und es Dinge gibt, die wir lieben, die uns wichtig sind – und das ist auch gut. Das geht den meisten Leuten so. Die jungen Aktivisten kritisieren die Boomer oder eigentlich so ziemlich jeden außer sich selbst, dass sie nicht 24/7 daran denken, was zu tun ist, um den Planeten zu retten. Daran wollen die meisten nicht denken. Sie denken: Ich sollte vielleicht mehr mit meinem Sohn lesen, irgendwie liest der nicht.

Was ein echtes Problem ist.

Ja, aber eben ein anderes Problem. Oder ich fange an, darüber nachzudenken, dass wir vielleicht kein Rindfleisch mehr essen sollten. Das sind diese kleinen Sachen, die im täglichen Leben auftauchen und die sind wichtig. Wir würden gern in Zeiten leben, in denen es nur um diese Dinge geht, aber leider ist das nicht so. Und trotzdem wollen wir, dass es nur darum geht.

Wir haben eine neue Obsession in Deutschland: Frührente. Aber nicht um die Welt zu retten, sondern um endlich – das ist das treibende Gefühl des Mittelklassen-Individualismus – Zeit für uns selbst zu haben, um das eigene Leben durch noch mehr Ausstellungen, Theater, Bücher anzureichern ...

Oder endlich dieses Jahr in Italien zu verbringen.

Genau.

Es gibt die persönliche Ebene der kleinen Dinge, die einen Menschen bewegen und es gibt das große Ganze. Aber dazwischen gibt es noch etwas, was genau vor deinen Augen ist. Bei den schrecklichen Waldbränden haben wir vor drei Jahren hier in der Stadt etwa 1.500 Gebäude verloren. Daraufhin kam erst Trump und behauptete, das sei keine Folge des Klimawandels, sondern des schlechten Managements des Staates Kalifornien, was ziemlich dumm war, da er als Präsident zuständig für die Bundeswälder war, in denen die meisten Feuer brannten. Doch es wurde noch schlimmer, als Kaliforniens Gouverneur Gavin Newsom ankam und meinte: Der Klimawandel kommt und es wird schrecklich, wenn wir nichts dagegen tun, deshalb werden wir hier in Kalifornien bis 2035 nur noch Elektroautos haben.

»ES GIBT ZWEI ARTEN VON LINKEN: DIE ALTMODISCHEN LYNDON-JOHNSON-LINKEN UND DIE SANTA-CRUZ-LINKEN.«

Was ist daran schlimm?

Warum sprach er nicht das eigentliche Problem an? Warum sprach er nicht davon, dass es künftig ein besseres Forstmanagement braucht, dass Programme aufgelegt werden müssen, um solche katastrophalen Brände zu vermeiden und die Menschen hier besser davor zu schützen? Das ist teuer, klar, aber es ist auch sehr teuer, aus Kalifornien in 15 Jahren ein hundertprozentiges Elektroautoland zu machen.

Warum tat er es nicht?

Das interessiert ihn nicht, weil er mit dem Klimawandel punkten will und die Waldbrände politisch benutzt, um diese Agenda voranzubringen. Und dann will er auch nicht zugeben, dass wir wirklich ein Problem mit dem Forstmanagement haben, weil Trump das ja gesagt hatte. Es stimmt selbstverständlich, dass Klimawandel diese Feuer noch begünstigt, aber das ist nicht das einzige Problem. Warum reden wir nicht über das, was wir jetzt in der Gegenwart brauchen? Eine bessere Forstwirtschaft.

Vermutlich, weil man damit keine Wahlen gewinnen und eines Tages Präsident werden kann?

Ich weiß es nicht. Wir hatten vor Newsom einen Gouverneur namens Jerry Brown. Ein großartiger Mann, problematisch, aber auch großartig. Ich würde gern glauben, dass Jerry Brown das Managementproblem nicht ignoriert hätte.

Wie kommen Sie darauf?

Er wurde Politiker, weil sein Vater Politiker war, okay. Aber er war auch immer einer, der dachte: Ich muss nicht nur politischen Bullshit machen.

Ihr Punkt ist jedenfalls, vom Abstrakten ins Konkrete zu kommen und die Gegenwart real zu gestalten, statt globale und abstrakte Ziele als Handlungsersatz zu verschärfen?

Es gibt das Globale und das Lokale. Unser Leben besteht zum Großteil aus Letzterem, und ich denke, dass hier die wichtigsten Dinge stattfinden, über die wir nachdenken sollten. Wie ich sagte: Solarmodule auf dem Dach sind zumindest in Kalifornien einfach sinnvoll. Der einzige Grund, warum man es nicht will: Es ist politisch schwieriger umzusetzen. Was auch der Grund ist, warum ich kein Politiker bin.

Es ist bei unsereins kulturell eingeübter, darüber zu reden, was Politiker tun müssten, als selbst zu handeln.

Stimmt. Das ist der Grund dafür, dass ich Sie hierher in das Homeless Garden Project gebeten habe: Das ist ein lokales Projekt und das schätze ich an Darrie Ganzhorn, der Leiterin hier: Sie redet nicht nur, sondern sorgt genau an diesem Ort, an dem wir jetzt sitzen, für eine Veränderung.

Wird das als politisch links verstanden?

Es gibt zwei Arten von Linken: die altmodischen Lyndon-Johnson-Linken, die sagen, wir brauchen ein Regierungsprogramm und müssen Billiarden dafür ausgeben. Und die Santa-Cruz-Linken, die finden, dass alles lokal passieren sollte.

Das ist konkret, aber als Weltverbesserungstheoretiker kommt uns so ein lokales Gartenprojekt einfach mickrig vor.

Mag sein, aber es gibt nun mal keine globale Community. Nordkorea gehört zu keiner Community, zu der ich gehöre. China ehrlicherweise auch nicht. Man muss kleiner werden, wenn man eine Community sucht, in der die Leute sich wirklich gegenseitig respektieren und versuchen, die Vision eines besseren Ortes zu leben.

Womit ich intellektuell beim Fokussieren auf das Lokale nicht klarkomme: Menschen, die sich auf eine überschaubare geografische Heimat beziehen, kritisieren wir Weltbürger gern als nationalistisch und selbstbezogen.

Das ist nicht selbstbezogen. Anders herum: Wem ich überhaupt nicht traue, sind Leute, die die ganze Menschheit lieben. Die ständig sagen: Ich liebe den, ich liebe den und den liebe ich auch.

Sie sagen, nicht nur die Rechte lügt, wenn sie den Klimawandel leugnet, sondern auch die Linke, wenn sie behauptet, dass das Problem noch zu lösen sei. Klimaaktivisten haben Sie dafür gehasst.

Naja, drei Tage lang auf Social Media. Aber ja, manche Leute haben das als bedrohlich empfunden und mich ganz schnell als privilegierten weißen Mann gelabelt.

Das ist eine identitäre Denkreduzierung und außerdem in Ihrem Fall richtig.

Ja, es ist richtig. Aber insgesamt habe ich immens positive Reaktionen bekommen, und bekomme sie immer noch. Wissen Sie eigentlich, dass ich den Essay, über den wir reden, ursprünglich als Rede geschrieben habe, die ich an diesem Ort hier gehalten habe?

Nee.

Zehn Meter von wo wir sitzen, stellen sie jedes Jahr ein Zelt auf und machen ein Fundraising-Dinner, wirklich gutes Bio-Essen. Darry fragte regelmäßig, ob ich dafür eine Rede halten könne und irgendwann sagte ich zu und schrieb diesen Essay. Und hinterher kamen die Leute und sagten: Danke, dass Sie das gesagt haben. Die Leute sind nicht dumm. Wenn man ihnen im Jahr 2000 sagt, dass wir noch zehn Jahre haben und dann 2010 erneut und 2020 ein weiteres Mal, dann werden sie nachdenklich.

Sie rechnen nach?

Ja. Hatten wir im Jahr 2000 noch dreißig Jahre oder haben wir jetzt eben keine zehn Jahre mehr, um alles zu ändern – was denn nun? Das ist das Problem, wenn man nicht die Wahrheit sagt. Es macht die Leute erst skeptisch und dann zynisch. Obwohl du ihnen die Lüge eigentlich erzählst, um sie zum Handeln zu bringen, fällt dir die Unehrlichkeit auf die Füße und führt dazu, dass die Wahrscheinlichkeit noch geringer wird, dass sie handeln.

»DAS IST DAS PROBLEM, WENN MAN NICHT DIE WAHRHEIT SAGT.«

Sie vergleichen das mit einer Religion, bei der die Botschaft lautet: Hört auf zu sündigen und wir vermeiden alle die Hölle. Aufklärung ernst nehmen, hieße zu sagen, es gibt keine Hölle, aber auch kein Paradies. Wir kommen mit Ratio voran, im Deutschen: Vernunft?

(Franzen wechselt ins Deutsche.)

Wir hätten das Gespräch auch auf Deutsch führen können.

Darauf hatte ich eigentlich gehofft.

Für ein Interview wie dieses aber lieber doch nicht.

(Wechselt ins Englische zurück.)

Es gibt Vernunft, und dann gibt es ein Wort, für das ich keine genaue deutsche Übersetzung kenne: kindness.

Nettigkeit, Freundlichkeit, Zugewandtheit, Sanftheit, Hilfsbereitschaft, Fürsorglichkeit?

Das trifft es alles nicht genau.

Was ist Ihr Punkt?

Selbst wenn man zu dem Schluss kommt, das Problem nicht lösen zu können, kann man doch versuchen, kind zu sein, die Leute gut und respektvoll zu behandeln und denen zu helfen, die Hilfe brauchen, wenn es in der eigenen Macht liegt. Das betrifft die menschliche Community, die Tierwelt, die Natur.

In „Wann hören wir auf, uns etwas vorzumachen?“ sagen Sie: Wir müssen Hoffnung neu definieren. Ist das jetzt Ihr Weg?

Seit ich den Essay schrieb, denke ich über kindness nach, weil es die Antithese ist zu dem, was auf Social Media passiert: Dort regiert das Gegenteil. Wassili Grossman hat sein Buch Leben und Schicksal nach den schlimmsten Jahren Europas geschrieben: dem Nationalsozialismus und dem Stalinismus. Er hat alles erlebt und alles überlebt. Kommunismus, ein Alptraum, Faschismus, ein noch größerer Alptraum.

Was war seine Erkenntnis?

Grossman hatte keine politische Lösung, deshalb schrieb er dieses gewaltige Buch, dessen Kern lautet: Was können wir tun? Wir können versuchen, kind zueinander zu sein.

Wohlwollend nachsichtig?

Das klingt verrückt und etwas christlich, aber das würde ich auf die Liste der Dinge nehmen, die wir immer noch tun können: kind miteinander umzugehen.

Gütig?