Alexander Kluge
"Ich muss mich ganz in die Perspektive des Gegners hineinversetzen". Über die Kunst, Frieden zu schließen. Interview: Dr.Peter Neumann
Aus der ZEIT Nr. 28/2025 2. Juli 2025
DIE ZEIT: Herr Kluge, überall wird aufgerüstet, sprechen die Waffen. Haben wir verlernt, den Frieden zu denken?
Alexander Kluge: Ich hätte mir nie träumen lassen, dass wir nach den Erfahrungen von 1918 und 1945 noch einmal so grundsätzlich neu denken müssen. Aber genau das steht uns jetzt bevor.
ZEIT: Inwiefern?
Kluge: Wenn man heute glaubt, man könne mit Drohnen, Raketen, Fernwaffen einen Krieg gewinnen, ist das eine Illusion. Der Krieg ist ein Dämon. Er folgt einer Eigenlogik, die weder von denen, die ihn beginnen, noch von denen, die ihn bekämpfen, vollständig beherrscht werden kann. Niemand kann sich zum Richter über Gut und Böse aufschwingen, weil der Krieg sich jedem Urteil entzieht. Er ist unberechenbar, wandelt nur seine Gestalt, aber nie sein Wesen. Auf diese Erfahrung müssen wir eine Antwort finden.
ZEIT: Momentan erleben wir eher das Gegenteil. Nach den jüngsten Luftangriffen auf den Iran durch Israel und die USA ist die ohnehin fragile Konfliktzone Naher Osten noch weiter ins Wanken geraten.
Kluge: Das hat mich als Kriegskind unmittelbar an den Zweiten Weltkrieg erinnert. Ich war 13 Jahre alt, der Kronprinz meiner Eltern, als ich erlebte, wie meine Heimatstadt Halberstadt am 8. April 1945 im Feuersturm der alliierten Bomber unterging. Das hat mich tief erschüttert. Und doch: Selbst bis zum 8. Mai, bis in die letzten Tage des Krieges, haben die Bombenangriffe kaum etwas bewirkt.
ZEIT: Der Alltag ging einfach weiter?
Kluge: Ja. Man kann den Willen eines Volkes nicht durch Bomben brechen, selbst dann nicht, wenn es selbst keinen guten Grund mehr für den Krieg sieht. Man verlängert ihn dadurch nur. Unsere Putzfrau in Halberstadt, Frau Anna Will, hat einmal einen Satz gesagt, der mich sehr beeindruckt hat: "An einem bestimmten Punkt des Unglücks ist es gleich, wer es begangen hat. Es soll nur aufhören."
ZEIT: Sie meinen, militärische Gewalt allein reicht nicht?
Kluge: Nein, das kann sie gar nicht.
ZEIT: Warum nicht?
Kluge: Weil die Idee, den Feind restlos zu vernichten, ein Irrtum ist. Denken Sie nur an die Zerschlagung des antiken Karthago durch die Römer. Zerstörte Städte, zertrümmerte Steine bilden kein Fundament für einen echten Frieden.
ZEIT: Sie sprechen vom Dritten Punischen Krieg im 2. Jahrhundert vor Christus. Von Cato dem Älteren, einem römischen Staatsmann, ist das berühmte Wort überliefert: "Im Übrigen bin ich der Meinung, dass Karthago zerstört werden muss."
Kluge: Ja. Und nicht einmal die Zerstörung schien Cato zu genügen. Er schlug vor, Pflüge aus Tunis nach Karthago zu bringen, um die Trümmer, die zerschlagenen Steinblöcke der Paläste und Mauern, noch einmal umzupflügen.
ZEIT: Ein symbolischer Akt der Verwüstung.
Kluge: Genau, das ist das Prinzip: Nach dem Sieg soll es keine Versöhnung geben, sondern radikale Auslöschung. Das ist das schlechteste Rezept überhaupt. Es verlängert den Krieg ins Unendliche. Und vergiftet jeden künftigen Frieden.
Alexander Kluge: "Ich muss mich ganz in die Perspektive des Gegners hineinversetzen"
ZEIT: Kann man denn Kriege überhaupt gewinnen?
Kluge: Nein. Man kann einen Krieg nicht wirklich gewinnen. Das ist das eigentliche Paradox: Von Troja bis heute bleibt es eine Illusion, dass der Sieger tatsächlich siegt. Agamemnon, der König der Griechen, kehrt als Triumphator heim und wird im Badehaus blutig geschlachtet. Die Deutschen besiegen 1870 bei Sedan die Franzosen und besiegeln damit ihr eigenes Elend im Jahr 1918. Die Franzosen wiederum nutzen den Sieg von 1918 und stehen 1940 vor dem Scherbenhaufen. Wer auch immer siegt, stürzt ab.
ZEIT: Dennoch: War es nicht notwendig, dass Hitler-Deutschland durch die Alliierten vollständig besiegt wurde?
Kluge: Der militärische Sieg war zweifellos zentral. Doch ebenso wichtig war das, was darauf folgte: der Marshallplan, der wirtschaftliche Wiederaufbau des Landes. Dieses Programm hatte in Europa enorme moralische Autorität und trug maßgeblich zum Sieg des Westens im Kalten Krieg bei.
ZEIT: Sie haben in diesen Tagen in Chemnitz eine Ausstellung über den Krieg eröffnet und darüber, wie man ihm vielleicht entkommen kann. Was wäre ein gutes Rezept, um Frieden zu schließen?
Kluge: Der erste Schritt ist: Man muss die Generosität finden, für einen Moment mit dem Kopf des anderen zu denken. Ich muss mich ganz in die Perspektive des Gegners hineinversetzen: Was könnte ihm so wichtig sein, dass er bereit ist, seine Verbrechen zu beenden, seine Irrtümer einzusehen? Es geht darum, den Punkt zu finden, an dem selbst ein Tyrann oder ein Böser bereit wäre, einem Deal zuzustimmen.
"Der Krieg ist ein eitler Dämon, er hört sich gern selbst zu"
ZEIT: Trump hat versucht, einen Deal mit Putin in der Ukraine zu erreichen. Bisher allerdings ohne Erfolg.
Kluge: Trump hat versucht, diesen Punkt zu finden. Dafür braucht es aber Vorstellungsmögen, Fantasie. Das ist der zweite Schritt: Gäbe es ernsthafte Forschung, fänden sich viele verhandlungsfähige Themen, etwa eine Anpassung der Sanktionen rund um Kaliningrad, immerhin der Geburts- und Sterbeort Immanuel Kants, der für Russland wertvoller sein könnte als Mariupol mit einer widerwilligen Bevölkerung. Oder gemeinsame Zukunftsprojekte, etwa in der Raumfahrt. Möglich wäre das allemal. Jetzt müsste man solche Optionen sammeln und sorgfältig abwägen, ohne in Verhandlungen sofort Zugeständnisse zu machen.
ZEIT: Übertreiben Sie nicht?
Kluge: Es gibt einen Satz, der Herakles, dem größten Helden der Antike, zugeschrieben wird: "Der Pfeil, den ich ins Herz meines Gegners schieße, trifft mein eigenes Herz." Das ist die Dialektik des Krieges, die man nicht unterschätzen darf: Der Pfeil der physikalischen Zeit lässt sich nicht umkehren, aber in der chaotischen Zeit des Krieges sind die logischen Gesetze, die Ordnung von Nacheinander und Nebeneinander, aufgehoben. Alles versinkt im "Nebel des Krieges", wie es der preußische Kriegstheoretiker Carl von Clausewitz einmal genannt hat. Und deshalb kehrt der Pfeil, den man auf den Gegner abschießt, am Ende wieder zurück. Das ist das Prinzip des Krieges, er schiebt die Dauer der Zeit bis zum Frieden in die Länge.
ZEIT: Heute wird aber nicht mehr mit Pfeil und Bogen gekämpft. Man lässt Drohnen aufsteigen.
Kluge: Drohnen sind im Grunde atavistische Geräte.
ZEIT: Wie meinen Sie das?
Kluge: Sie sind unbemannte Kampfflugzeuge, operieren ohne Piloten. Das heißt: Man kann größere Risiken eingehen. Sie fliegen bodennah, sind kaum ortbar, entziehen sich dem Radar. Ihre Kleinheit, ihre schlichte Bauweise, all das macht sie nahezu unaufhaltbar. Mich erinnern sie an die Drachen, mit denen wir als Kinder gespielt haben. Diese Schlichtheit ist ihre Gefahr: eine Waffe, die sich nicht wirklich besiegen lässt.
ZEIT: Heute bekommt man sie sogar im Baumarkt. Im Ukrainekrieg werden Minen daran befestigt und über die Front geschickt. Ist das also – trotz aller Technologie – im Kern eine primitive Waffe?
Kluge: Ja, man könnte sagen: Die Drohne ist die Rückkehr der Höhlenmalerei im Krieg.
ZEIT: Aber es muss doch einen Ausweg geben.
Kluge: Ich würde nie behaupten, dass der Verblendungszusammenhang des Krieges – oder, wie Hegel es nannte, die "Schlachtbank" der Geschichte – unüberwindbar ist.
ZEIT: Nur wie?
Kluge: Vielleicht kann man ihn nicht beenden, aber einschläfern. Zum Verstummen bringen.
ZEIT: Woran denken Sie?
Kluge: Ich denke an die alten persischen Geschichten aus Tausendundeiner Nacht. Scheherazade, die Tochter eines Wesirs, eines hohen Beamten, weiß, dass sie sterben wird. Der König hat beschlossen, jede Nacht eine neue Frau zu heiraten, um seine Begierde zu stillen, und sie am nächsten Morgen töten zu lassen, aus Angst vor Verrat. Doch Scheherazade will diesen Kreislauf der Gewalt mit einer List durchbrechen.
ZEIT: Sie beginnt, zu erzählen ...
Kluge: Ja. Sie erzählt ihm jede Nacht eine Geschichte. Immer bleibt ein Faden offen, der den König neugierig macht. Also verschont er sie, Nacht für Nacht, um zu hören, wie es weitergeht. So spinnt sie ihre Erzählungen über tausendundeine Nacht, bis der König seinen Schwur bricht, das Töten beendet und ihr Gnade gewährt.
ZEIT: Sie meinen, auch der Krieg vergisst, dass er da ist?
Kluge: Ja. Der Krieg ist ein eitler Dämon, er hört sich gern selbst zu. Und wenn er je zur Ruhe kommt, dann am ehesten durch Geschichten über ihn. Solche Geschichten sind verstreut, versprengt, aber wir müssen sie sammeln und neu zusammensetzen. Es sind kollektive Erfahrungen aus drei-, viertausend Jahren, und sie können uns helfen, nicht immer wieder dieselben Fehler zu begehen.
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