Noch
nie in der europäischen Nachkriegsgeschichte gab es einen solchen
Totalausfall gesellschaftswissenschaftlicher Zeitdiagnose wie heute: Da
werden ohne parlamentarische Legitimation souveräne Staaten in
Protektorate ohne finanzpolitisches Mandat verwandelt, da finden
unablässig Krisengipfel statt, auf denen an den Parlamenten vorbei tief
in die Zukunft reichende Beschlüsse gefasst werden, da erodieren
Politik- und Systemvertrauen in atemberaubender Geschwindigkeit, ohne
dass an den Universitäten und Akademien, in den Zeitungs- und
Radiofeuilletons sich Politik-, Sozial- und Geschichtswissenschaftler
mit Analysen dazu vernehmen ließen, was da gerade geschieht.
Keine Exzellenzuni schafft es, ein Symposium zum Beispiel zu der Frage
zu veranstalten, was Demokratiegefährdung heute bedeutet, kein
akademisches Journal widmet sich der beispiellosen Umverteilung von
Volks- in Privatvermögen. Die sonst so gern vorgezeigten Hochkaräter der
akademischen Landschaft sind ausgerechnet dann unsichtbar, wenn es
tatsächlich mal um mehr geht als um Cluster, Credit Points, Peer Reviews
und andere Possierlichkeiten.
Bis auf die Ökonomen: So wie in
der wirklichen Welt das Heft des Handelns den Finanzmarktakteuren – also
den Banken, Investoren, Rating-Agenturen – überantwortet worden ist,
die ganze Volkswirtschaften in Geiselhaft nehmen, so bleibt die Deutung
der Krise ausgerechnet jener Wissenschaft überlassen, die sich
jahrzehntelang in reiner Affirmation dessen ergangen hat, was auf „den
Märkten“ eben so geschieht.
„Postdemokratie“ hat Colin Crouch die
fatale Arbeitsteilung genannt, die Politik als Angelegenheit von
Politikern, Experten und Lobbyisten betrachtet und das demokratische
Gemeinwesen in bloßes Publikum verwandelt. Das ist schon unter
Normalbedingungen gefährlich, weil die für Demokratien lebensnotwendige
politische Öffentlichkeit verschwindet. Im Krisenfall werden in der
Postdemokratie Entscheidungen nicht mehr politisch begründet, sondern
nur noch attentistisch: es herrscht Zeitdruck, Alternativen gibt es
nicht. Parlamente werden nicht gefragt – die Materie ist für
durchschnittlich begabte Abgeordnete ohnedies zu kompliziert. Die EZB
wird in eine Bad Bank verwandelt und der notorische IWF in eine
imperiale Position manövriert – „die Märkte“ sind nämlich „beunruhigt“.
Und kein Philosoph oder Linguist entlarvt das Marktgefasel als Werfen
von ideologischen Nebelkerzen, kein Politikwissenschaftler, keine
Soziologin beschreibt den historisch beispiellosen Raubzug, der vor
ihren Augen stattfindet, kein Historiker seine Folgen für die künftigen
Blockierungen einer gestaltenden Bildungs-, Wissenschafts-, Umwelt-,
Sozial- oder Gesundheitspolitik.
Weiß eigentlich jemand, woran
Demokratien scheitern? Nein. Denn nach dem scheinbar unaufhaltsamen
Siegeszug der Demokratien nach dem Zweiten Weltkrieg und der idyllischen
Vorstellung, der sich globalisierende Wirtschaftsliberalismus würde
automatisch die Globalisierung der Demokratie nach sich ziehen, machte
sich kaum noch jemand die Mühe, die Gefährdungspotenziale und
Zerfallsfaktoren moderner Gesellschaften zu untersuchen. Man ging
einfach davon aus, dass alles schön stabil und sicher sei und schaute
allenfalls darauf, welche systemfremden Feinde – vom Typ Al Qaida – die
Demokratien erklärtermaßen bedrohten.
Dabei sind moderne
Gesellschaften womöglich viel stärker durch höchst systemkonform
aussehende suprastaatliche Akteure gefährdet als durch Terroristen.
Die
ETH Zürich hat unlängst eine Netzwerkanalyse publiziert, die akribisch
nachweist, dass die wirtschaftliche Macht auf dem Planeten sich auf
gerade mal 147 Unternehmen konzentriert; die 50 stärksten davon kommen
mit nur einer einzigen Ausnahme sämtlich aus der Finanz- oder
Versicherungswirtschaft. Diese Player sind, die Euro-Krise führt es vor,
in der Lage, Regierungen nach Belieben unter Druck zu setzen. Und die
reagieren mit ihren atemlosen Gipfeln und Rettungsschirmen als bloße
Erfüllungsgehilfen: indem sie Spardiktate verhängen, Referenden
verhindern, Staatseigentum verscherbeln und das politische Mandat an
einen Markt delegieren, dessen schlichte Funktionslogik sie nicht
verstehen oder nicht zu verstehen vorgeben. Der Markt funktioniert (und
funktionierte immer) nach der einzigen Maxime, die Vorteile der
Marktakteure zu erhöhen.
Dass diese Logik keine Selbstbegrenzung
vorsieht, ist klar; gerade deshalb wurden ja jene Regulierungen
geschaffen, die – wie unvollkommen auch immer – ein Primat des
Staatlichen durchzusetzen und aufrechtzuhalten versuchten.
Genau
das verschwindet gerade vor aller Augen und mit ihm der Vorrang, der
demokratischen Verfahren und rechtsstaatlichen Prinzipien vor allem
anderen zukam. Es ist erschütternd, wie ganze Gesellschaften inklusive
ihrer Deutungseliten dabei zuschauen, wie sie entdemokratisiert werden.
Die Verantwortungslosigkeit liegt dabei vielleicht gar nicht so sehr bei
den Politikern oder der Kanzlerin, die wie Laborratten durch ein
verhaltenswissenschaftliches Experiment gejagt werden und unter Stress
den Ausgang immer an der falschen Stelle suchen.
Verantwortungslos sind alle, die nicht eingreifen. Und besonders die
Funktions- und Deutungseliten, deren Indolenz auch noch staatlich
finanziert wird. Aber die sind vermutlich zur Zeit vor allem damit
beschäftigt, die richtige Anlage für ihre Kröten zu finden und haben
gerade keine Zeit, sich um den Schutz der demokratischen Ordnung zu
kümmern. Es steht zu befürchten, dass Demokratien unter Stress genau
daran scheitern: nicht an der abgelaufenen Halbwertzeit der Macht wie im
Fall von Diktaturen, sondern an einer kollektiven Haltung von
Unzuständigkeit. Wenn niemand die Demokratie für seine eigene
Angelegenheit hält, hat sie sich schon erledigt.
Harald Welzer
ist Direktor des Center for Interdisciplinary Memory Research am
Kulturwissenschaftlichen Institut in Essen.
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