Marx verfilmen. Ein Interview von Gertrud Koch mit Alexander Kluge.
Im Jahr 1927 fasste der russische Regisseur Sergej Eisenstein den Entschluss, Das Kapital von Karl Marx zu verfilmen. Er hat dieses Projekt nie umgesetzt. Doch in seinen Notaten zum Kapital besitzen wir Fragmente, Notizen und Exzerpte zu diesem Plan. Der deutsche Schriftsteller, Filmemacher und Fernsehproduzent Alexander Kluge hat sich diesem Projekt im Jahr 2008 in einer dreiteiligen DVD-Box mit einer Laufzeit von 570 Minuten angenähert: Nachrichten aus der ideologischen Antike. Marx – Eisenstein – Das Kapital. Die Filmwissenschaftlerin Gertrud Koch hat sich mit ihm darüber unterhalten.
Wenn man sich Ihre DVDs anschaut, dann gibt es dort nicht mehr die Gesetzmäßigkeiten, von denen Marx geredet hat, und an denen auch Eisenstein interessiert war. Es ist eine filmische Stellungnahme zu den aktuellen Verhältnissen und ihrer longue durée in die Vergangenheit hinein. Wo, würden Sie sagen, ist das Neue in diesen formalen Bestimmungen des Kapitalismus, so wie Sie ihn zeigen? Was hat sich aus Ihrer Sicht gegenüber den Gesetzmäßigkeiten geändert? Ist Ihre offene filmische Form eine Kapitalanalyse?
Ich glaube, dass sich an den objektiven Prozessen wenig geändert hat. Im Geburtsjahr von Marx, 1818, gab es Sklaverei, Kinderarbeit, keinen Acht-Stunden-Tag. Als Marx seinen 125sten Geburtstag feierte, gab es Auschwitz. Also kann ich nicht von Fortschritt sprechen. Insofern würde ich nicht sagen, dass sich etwas wirklich geändert hat. Was sich aber sehr geändert hat, ist die analytische Fähigkeit, mit den objektiven Prozessen umzugehen. Sigmund Freud ist hinzugetreten, eine subjektive Welt, die Marx gar nicht ins Auge gefasst hat.
Mich würde doch noch mal interessieren, welche Funktion der Film in einer solchen Analyse hat.
Es gibt das Optisch-Unbewusste, von dem Benjamin spricht. Technisch ist es das, was die Kamera sieht, der Gewohnheitsblick aber nicht. Unterstellt man, dass wir mit dem ganzen Körper sehen, könnte man vereinfacht sagen, es gibt acht Leinwände im Hinterkopf, auf die die Eindrücke, die die Augen liefern, projiziert werden. Eine Sinnlichkeit des Kopfes, die alles schon vorher weiß, in die durch die Evolution eine Fülle von Vorurteilen eingebaut ist, die früher lebensrettend waren. Nach diesen Vorurteilen wird jeder Eindruck gedeutet. Wenn Sie aber der Sicherheitsbeamte von Präsident Obama sind und ihn beschützen sollen und nicht nach Ihrer menschlichen Sinnlichkeit vorgehen dürfen, würden Sie den Täter nicht sehen. Sie müssen das sehen, was Ihre Vorurteile nicht sehen. Und nur der Film kann, wie Marx sagen würde, vergegenständlichen!
Die Vergegenständlichung der Vergegenständlichung.
So ist es!
Interessanterweise haben Sie ja für ihre neue Produktion eine sehr lange Form gewählt.
Die einzelnen Beiträge sind oft kurz, aber insgesamt ist sie lang, das stimmt. Dem Gesetz der Kürze, das das Netz regiert, steht das sehr großzügige Gesetz der DVD gegenüber, die eben nicht nur Speichermedium ist. Eigentlich funktioniert eine DVD wie ein Floß. Sie können sehr viele Baumstämme aneinanderkoppeln und damit sehr sicher fahren. Wahrscheinlich ist ganz Polynesien so besiedelt worden. Das eröffnet die Möglichkeit, dreistündige, zehnstündige, dreißigstündige Filme zu machen. Für mich polarisiert sich die Filmgeschichte von jeher entweder, extrem lang zu sein und dabei viel Rohstoff zu zeigen oder extrem kurz zu sein, so wie der Augenblick kurz ist, alle wirklichen, relevanten Geschehnisse jedoch Dauer haben.
Aber es fällt schon auf, wenn man sich die drei DVDs anschaut, dass es darin eine Rhythmisierung gibt. Und die hat, denke ich, etwas damit zu tun, dass es Gespräche mit „Talking Heads“ gibt, auf die sehr schnelle Bildmontagen folgen, die mit sehr sparsamen Sprachmotiven auskommen.
Es ist gewissermaßen eine Montage mit ganzen Sequenzen. Beim Film würde man ja Einstellungen montieren. Jetzt gibt es bei der DVD die Möglichkeit, ganze Sequenzen, so als wären sie Einstellungen, einander gegenüberzustellen. Wenn also z.B. Peter Sloterdijk über den Satz von Marx „Alle Dinge sind verzauberte Menschen“ spricht, d.h. über den Warenfetisch, dann gebraucht er die Erzählweise, die ihm eigen ist, so wie man einen Essay schreibt. Unmittelbar danach hören Sie Arbeiter, die in den sechziger Jahren streiken. Das sind Menschen, die noch nicht gebeugt sind. Die haben noch das Selbstbewusstsein, dass sie im Krieg notwendig waren, dass sie den Wiederaufbau hinter sich haben, das sind Bergarbeiter. Und die lassen sich nichts gefallen, auch nicht von der eigenen Streikleitung. Was Sloterdijk da erzählt, das interessiert mich sehr, nur ist diese Information nicht der Inhalt der Szene, sondern der Kontrast zur nächsten Sequenz, einem Beitrag von Oskar Negt über das Gedicht Der Gesang des Krans Nr. 4 von Bert Brecht, in dem die Maschinerie, die vom Menschen gemacht ist, mit dem Menschen spricht, wobei beide eigentlich vom ewigen Leben sprechen, vom aufrechten Gang, also in sehr knapper Form das sagen, wovon Sloterdijk vorher schon 45 Minuten gesprochen hat.
(***)
Marx hat eine metaphernreiche Sprache. Ist es Teil ihres Projektes, nicht nur Eisenstein, sondern auch Marx in eine eigene Poetik zu übersetzen?
Ich würde das sehr schön finden. Wenn Marx etwa von der Verflüssigung aller versteinerten Verhältnisse spricht, dann muss man dieses Wort ganz ernstnehmen. Das Wort kommt bei Shakespeare und Hegel nicht vor. Sie müssen ein guter Analytiker sein wie Marx, um es überhaupt zu finden.
Wenn man eine neue Theorie schreibt, entwickelt man in gewisser Weise natürlich auch eine neue Semantik, eine neue Sprache. Und das ist ja auch die Stärke von Marx. Aber ihr Projekt ist auch eine Wiederübersetzung von einer Zeit, die Sie mit der Antike in Verbindung bringen, der „ideologischen Antike“. Ich habe mich gefragt, warum eigentlich ideologische Antike und nicht einfach „Ideengeschichte“?
Ideologie heißt bei Marx ein notwendig falsches Bewusstsein. Ich kann mir also nicht aussuchen, ob ich das habe, sondern lebe davon. Das kindliche Urvertrauen ist z.B. ein notwendig falsches Bewusstsein, ohne das man nicht lebt, sonst kann man kein Selbstbewusstsein entfalten. Wenn ich Selbstbewusstsein auf Irrtum gründe, kann ich mich aber trotzdem emanzipieren. Das ist ein einfacher marxistischer Gedanke. Und den würde ich gerne vier, fünf, sieben Mal erzählen, so lange, bis man ihn von allen Seiten beleuchtet hat. Ich bin im Grunde hier ein Putzer, der das, was nicht glänzt, zum Glänzen bringt.
Aber Sie sind sozusagen in einer Putzkolonne. Denn das haben ja schon viele Marxisten nach Marx versucht, den Ideologiebegriff zu verallgemeinern, in der Althusser-Tradition beispielsweise, wo es in dem Sinne gar keinen Horizont eines richtigen Bewusstseins mehr geben kann, weil alles notwendig falsches Bewusstsein ist. Und dagegen hat die Frankfurter Schule immer opponiert.
In dem Sinne würde ich auch opponieren. Ich knüpfe an die prominente Stelle bei Marx in der Einleitung zu den Grundrissen an, wo er von der Sehnsucht nach der Kindheit der Gedanken ausgeht. Er sagt, dass die Griechen gesellschaftlich eigentlich gar nicht entwickelt waren, aber trotzdem etwas gedacht haben, was uns auch 2000 Jahre später noch entzückt.
Nicht nur entzückt, sondern noch beschäftigt. Das sind ja die ungelösten Fragen.
Da haben Sie völlig Recht. Und schauen Sie, wie die griechischen Mythen und Helden sterben müssen, in den Himmel rücken – die Geliebte von Zeus wird der Große Bär usw.. Das ist ein achtungsvoller Umgang mit dem, was wir lieben, was aber doch sterben muss. Und dies ist das Verhältnis zu unseren Altvorderen, das ich gut finde. Vor uns liegt eine Zukunft. Sie können aber auch sagen, dass hinter uns eine Schubkraft liegt. Es hat Glücksfälle in der Evolution gegeben, auch in der gesellschaftlichen Evolution. Und von denen leben wir. Also können Sie dem Engel der Geschichte noch zwei oder drei weitere Engel beigesellen, die nicht ganz so zerstörerisch sind.
Würden Sie dann sagen, dass hinter ihrem Projekt ein anderer Horizont auftaucht, in dem dieser Bogen in die Antike als ein möglicher Vorgriff auf die Zukunft im Grunde eine Figur der Endlosigkeit ist? Auf der filmischen Ebene kommen Sie zu parataktischen Momenten, in denen Zeitblöcke nebeneinandergestellt sind. Wann wissen Sie, dass das Projekt eine endgültige Form hat und veröffentlicht werden kann?
Das Projekt ist nicht beendet. Sowie jemand hinzuträte und Lust hätte mitzumachen, würde ich es sofort wieder öffnen. Die erste DVD dient nur dazu, mit den Tönen, die in Marx und Eisenstein stecken, vertraut zu werden. Nehmen Sie etwa das Lamento der liegengebliebenen Waren. Das ist ja der Kern des Marxschen Gedankens, dass die menschliche Arbeitskraft in den Produkten steckt, mit denen sie sich mehr Mühe als mit sich selbst geben. Und das machen sie gezwungenermaßen, aber in ihnen steckt auch etwas Selbstreguliertes, ihr Eigensinn. Dann kommt die zweite DVD, die ein einziges Bild von Marx aufgreift, nämlich den Warenfetisch. Das ist auf der dritten Seite vom Kapital. Und das ist ein sehr komplexes Bild, weil es bedeutet, dass die Menschen das Beste, was sie haben, in ihre Arbeit legen. Könnten sie erkennen, dass die ganze gesellschaftliche Produktion in ihnen liegt und sie sich selbst produzieren, wäre eine reiche und spontan emanzipatorische Gesellschaft die Folge. Dass dieser Anteil in den Menschen nicht tot ist, davon bin ich überzeugt. Ich habe in der Protestbewegung mehrfach beobachtet, dass so etwas gelingt. Es ist nur nicht stabilisierbar.
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