Ranga Yogeshwar im Gespräch mit Dietmar Dath Rechnen Sie damit, lebenslang ein Verdächtiger zu sein
FAZ 12.07.2013
(Auszüge)
Yogeshwar: Bislang wurden die Behörden erst dann aktiv, wenn eine Straftat vorlag, und man ging zum Arzt, wenn man krank war. Inzwischen aber lässt sich immer genauer berechnen, ob ein Mensch womöglich kurz davor steht, eine kriminelle Handlung zu begehen, oder eine noch gesunde Patientin eine erhöhte Wahrscheinlichkeit aufweist, zum Beispiel an Brustkrebs zu erkranken. Sie ist noch nicht krank, jedoch zeigen genetische Daten und bestimmte andere biologische Indikatoren, dass sie in der Zukunft erkranken könnte.
Und an genau dieser Stelle überschreiten wir den Rubikon zwischen Realität und dem digitalen Abbild: Nicht der Mensch an sich, sondern die Vorhersage des Modells wird Grundlage des Handelns. Der noch gesunden Patientin entfernt man vorsorglich die Brüste, und der unbescholtene Bürger wird vorsorglich womöglich verhaftet.
Dath: Wer Menschen ausrechnet, braucht nicht nur Rechner, sondern auch einen Begriff davon, was das ist: ein Mensch. Man kann diesen Begriff spieltheoretisch formulieren - Ein Mensch ist einer, der rational spielt, um zu gewinnen. Wenn das Spiel aber etwa heißt: Der mit den wenigsten Fingern kriegt den Jackpot, dann gilt für ein spieltheoretisches Kalkül derjenige als rational, der sich die Finger abschneidet. Die neuen Überwachungstechniken scheinen die Wahrheit dieser spieltheoretischen Kalküle zu beweisen. In Wirklichkeit setzen sie die Geltung dieser Kalküle selbst erst durch - weil es nicht nur um Überwachung geht, sondern um die ökonomische, politische und militärische Macht, die da überwacht. Die Kalküle werden von ihr als vom Himmel gefallene Wahrsagekunst verkauft. Dabei kann man durchaus beschreiben, wie sie funktionieren.
Yogeshwar:Diese Entwicklung basiert auf einer Magie der Mathematik: Beginnen wir bei der Identifizierung - wie finde ich einen Menschen unter einer Million? Nehmen Sie mal eine Eigenschaft, die nichts Abseitiges ist, die bei einem von zehn Menschen vorkommt. Da würde jeder Bürger einer Stadt mit dreißigtausend Einwohnern sagen: Na gut, wenn das jemand über mich weiß, habe ich nichts dagegen, es gibt ja in meiner Stadt dreitausend Bürger, auf die das ebenfalls zutrifft. Aber mit zwei solchen Eigenschaften filtern Sie mathematisch aus hundert Menschen einen heraus, mit drei einen aus tausend, mit nur sechs Eigenschaften finden Sie einen in einer Million. Das sind orthogonale Filter, im Sinne der Mathematik orthogonal: voneinander unabhängig.
Der zweite Schritt ist nun, dass man die Leute nicht mehr nur finden, sondern digitale Profile erzeugen kann, die sich modellieren lassen - wenn eine Person dies, das und jenes gemacht hat, kann ich mit einer guten Wahrscheinlichkeit vorhersagen, was sie als Nächstes tun wird. Sie haben etwa einen Internet-User, der kauft sich eine Fahrradhose und ein Fahrrad. Dann ist die Wahrscheinlichkeit relativ groß, dass er einen Helm kaufen wird - also kann ich ihm Werbung für einen Helm schicken lassen, von einer Maschine. Weiter: Gibt es Indikatoren, dass dieses Ehepaar sich scheiden lassen wird? Wird ein Arbeitgeber bald kündigen? Wechselt ein Stammwähler vielleicht die Partei?
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