Gesine Krüger
Wenn der Migrationshintergrund konkret wird, bekommt er Wurzeln – kurdische, arabische, albanische, afrikanische oder türkische zum Beispiel, aber auch Heimisches ist im Angebot, Schweizer Wurzeln zum Beispiel im Fall des bekannten südafrikanischen Comedian Trevor Noah, der in seinen Shows gern über seinen Schweizer Vater erzählt, über die eigene Jugend im Township und den Versuch, in den USA richtig schwarz zu werden. So, wie der Begriff der Identität seit den 1980er Jahren in die Sozialwissenschaften und das Alltagsbewusstsein eingewandert ist, kommt heute kaum ein Artikel, der sich mit Zugewanderten, Secondos oder ganz allgemein mit Herkunft befasst, ohne die botanische Metapher aus. Über deutsche Politiker mit türkischen Wurzeln ist ebenso regelmässig zu lesen wie über Schüler, deren Wurzel in aller Herren Länder reichen würden. Im Gespräch mit Zeitzeugen wurden jüngst an Österreichischen Schulen bosnische Wurzeln erkundet, und anlässlich der WM 2014 erörterte eine Medienservice-Stelle die „internationalen Wurzeln der Fussballer“ – wobei es wohlgemerkt um alle Mannschaften ging! Und natürlich dürfen auch die Verbrecher mit Wurzeln im Balkan nicht fehlen. Dafür haben aber auch 30% der neuen Polizistinnen und Polizisten in Berlin ausländische Wurzeln.
Die Metapher von den Wurzeln ist in den Medien und im Alltagsgebrauch allgegenwärtig und keineswegs so unschuldig, wie sie auf den ersten Blick erscheinen mag. Die Geschichte etwa von Barack Obamas Schweizer Wurzeln, die vor einigen Jahren durch die Presse ging, klingt zunächst ganz lustig. Begeistert berichteten Schweizer Zeitungen vom Blick bis zur NZZ von der Verbindung des ersten schwarzen Präsidenten mit „uns“. Der Blick dichtete am 14.7.2010 die geradezu trunkene Überschrift „Yes, amtlich. Obama can say ich bin ein Schweizer“ und konkretisierte dann weiter: „Geklärt: die Schweizer Wurzeln Obamas liegen in Ried bei Kerzers.“ Ein aufgeregter Gemeindepräsident konnte verkünden, dass vor nur neun Generationen der 1692 in Ried geborene Hans Gutknecht mit seiner Frau Anna Barbara ins Elsass ausgewandert war und der gemeinsame Sohn dann weiter nach Amerika zog. Und dieser war offenbar ein Urahn von Obamas Mutter – wie so viele Männer und Frauen, die in sieben weiteren Generationen viele Kinder zeugten, möchte man beifügen.
Und was ein statischer Stammbaum mit seinen ordentlichen Ästen (der ja ebenfalls, wenn auch meist unsichtbare, Wurzeln hat) ebenfalls nicht zeigt, ist die räumliche Ausdehnung aller dieser Generationen. Wie viele Wurzeln werden im Verlaufe der Generationen angesammelt? Von Freiburg ins Elsass und dann nach „Amerika“, und dabei ist Obamas väterliche Familie noch gar nicht angesprochen. Hier zeigt sich auch ein weiteres Problem mit der Metapher von den Wurzeln: Was passiert mit ihnen, wenn Menschen wandern? Werden sie ausgerissen – und der Mensch ist dann entwurzelt wie eine Pflanze? Und was würde das bedeuten? Sehnt sich Obama des Nachts, wenn ihm das Regieren schwer wird und er nicht weiß, ob er über Trump lachen oder weinen soll, nach Ried oder dem Elsass „zurück“?
Unter einer Stammbaumgrafik im Blick-Artikel war die Bildunterschrift zu lesen: „Dieser Stammbaum beweist: Barack Obama ist Schweizer.“ Da klingt leise, aber bitter die amerikanische One-Drop-Rule an, gemäß der im 19. und 20. Jahrhundert in den USA jeder schwarze Vorfahre (theoretisch) dazu führte, dass selbst der entfernteste Nachfahre nicht als weiß galt. Dass eine umgekehrte One-Drop-Rule Obama zum Schweizer erklärt, könnte noch als ironische Pointe durchgehen. Der Gemeinde Kerzers sei der berühmte Neubürger oder besser Neuehrenbürger von Herzen gegönnt. Und es war wirklich nett vom amerikanischen Botschafter Donald Beyer (wo der wohl seine Wurzeln hat?), dass er die Ehrenbürger-Urkunde persönlich entgegengenommen hat und versprach, auch der Präsident werde sich freuen.
Auf den zweiten Blick sind solche Vorstellungen sehr weit zurückliegender Verwurzelung, die im vorliegenden Fall ja eigentlich ein recht völkerumschlingendes Potential besitzen, allerdings höchst fragwürdig. Mit der Frage nach den Wurzeln wird einerseits unterstellt, dass jemand, der dazugekommen ist, nicht dazugehört, sondern woanders verwurzelt bleibt. Andererseits wird suggeriert, alle hätten eindeutig zu bestimmende Wurzeln, die zu einem bestimmten Boden gehören. Wenn zum Beispiel laut Pressemeldungen jeder dritte Arbeitslose „ausländische Wurzeln“ hat, geht es nicht mehr um Staatsangehörigkeit, um Bildung oder Klassenzugehörigkeit; und das Problem wird nicht mehr im Land von Wohnsitz, Arbeit und Ausweisdokumenten lokalisiert, sondern in einer mehr oder weniger fernen ‚Heimat‘, zu der man für immer gehört.
Die Ideologie von natürlicher Zugehörigkeit und Abstammung mit allen dazugehörigen Rechten und Ansprüchen unterliegt seit einiger Zeit einer globalen Konjunktur. Dabei sind Vorstellungen von Autochthonie in ganz unterschiedlichen Milieus verbreitet, im linken, globalisierungskritischen Milieu ebenso wie bei Konservativen und Pegida-Anhängern, die ihre Heimat schützen wollen. Solche Zuordnungen bieten vermeintlich Sicherheit. Doch wer bestimmt die echte Autochthonie? Wer verbürgt die Wahrhaftigkeit der Wurzeln? Schon die Abstammung von zwei Eltern mit unterschiedlichen Herkunftsgeschichten birgt die Gefahr, im Konfliktfall nicht die richtige Zugehörigkeit zu besitzen, sondern ‚gemischte‘ Wurzeln.
Wir sehr die Rede von den Wurzeln in biologisierenden Rassentheorien und politischen Mythologien gründen, deren Hochkonjunktur zwischen 1890 und 1950 man längst überwunden glaubte, zeigt eine weitere, völlig sinnfreie Meldung auf Shortnews. Hier heißt es: „Die Sängerin Adele wurde jüngst mit Plagiatsvorwürfen aus der Türkei konfrontiert. Davor hatte sie in einem Interview erklärt, wo ihre Wurzeln zu finden sind. Dies könnte nun vielleicht die Ähnlichkeit ihres Songs ‚Million years ago‘ mit Ahmet Kayas Lied ‚Acilara tutunmak‘ erklären.“ Vielleicht wollte der Redaktionspraktikant nach der Mittagpause einen kleinen Witz loswerden, doch solche Vorstellungen und Denkmuster vom Blut der Ahnen, in denen ein Lied raunt, entstehen nicht im leeren Raum. Mit einem ganz ähnlichen Argument berichtete während der Kriege in Ex-Jugoslawien ein Reporter aus einem Flüchtlingslager bei Benkovac über kleine Kinder, die ein Lied im Zehnsilbenvers zu Ehren des Pressebesuchs sangen: „Sie wissen höchstwahrscheinlich gar nicht, was ein Zehnsilbenvers ist, und haben ihn bei der Niederschrift des Liedes nicht bewusst angewandt, er ist ihnen eingeboren, ist in ihrem genetischen Code notiert.“
Der Sozialanthropologe Ivan Čolović hat diesen wahnhaften Unsinn 1994 in einem luziden Artikel in Lettre International offengelegt und gezeigt, wie solche Mythen im Kontext der Jugoslawienkriege zur dominanten Sprache des zeitgenössischen ethnischen Nationalismus und zum dominanten Merkmal der öffentlichen Kommunikation geworden sind. Sie beruhten nicht auf einer Beschwörung der Vergangenheit, sondern gerade auf einer Aussetzung, einem Verlassen der historischen Zeit: Mythen verwandeln Geschichte „in ewige Anwesenheit oder ewige Rückkehr desselben“. Historische Argumente – etwa, dass Menschen schon immer gewandert sind und sich schon immer ‚vermischt‘ haben – können in einer solchen Konstellation nicht greifen. Untrennbar verbunden mit der mythischen Zeit ist ein mythischer Raum, „gewonnen durch das Anhalten der historischen Zeit, d.h. durch die Projektion historischer Ereignisse von der diachronischen Achse auf die der Synchronie.“
Im Netz der symbolischen Orte, die den mythischen Raum bilden, spielt das Grab – und mehr noch, das Grab als Wurzel – eine zentrale Rolle. Gräber symbolisieren zugleich, wie Čolović schreibt, Keime nationaler Erneuerung und Wurzeln, „durch die das Volk an den Boden der Ahnen gebunden ist.“ Und weiter: „Die Symbolik der Gräber als Wurzel hat heute, in der Zeit interethnischer Kämpfe um Territorien, besondere Bedeutung. Das liegt daran, dass heute die Ideen vom ethnischen Raum und dem Recht der Ethnie auf territoriale Souveränität wieder aufgegriffen werden, und diese Ideen gründen auf einer Art morbider Geopolitik, deren wesentlicher Faktor die Existenz von Ahnen- und Familiengräbern auf einem umstrittenen Territorium ist.“
Diese morbide Geopolitik taucht heute, mehr als zwanzig Jahre später, in mächtiger Gestalt wieder auf. Čolović hatte übrigens bereits in seinem Artikel von 1994 vor dem latenten Ethno-Nationalismus der „zivilisierten“ westlichen Staaten gewarnt, die mit Entsetzen auf den Balkan und das zerfallende Jugoslawien starrten, den Wahnsinn ethnischer, territorial gebundener Reinheit aber latent mit sich trugen. Phantasien von Grenzzäunen, Schießbefehlen, und von ihren gegen „Ströme“ und „Fluten“ fremder Eindringlinge zu verteidigenden Territorien beziehen ihre Kraft aus eben dieser politischen Mythologie, die von Geschichte und Politik nichts mehr wissen will.
Postskriptum: Man hat herausgefunden, dass 50% der Schweizer Männer und immerhin noch 45% der deutschen mit dem ägyptischen Pharao Tutanchamun verwandt sind. Wenn es Ihnen also hier zu bunt wird: Ab in die Heimat!
Quelle: http://geschichtedergegenwart.ch/wurzeln-ziehen/
Sonntag, 26. November 2017
Frauenfeindlichkeit
Sexismus: "Frauenfeindlichkeit hat eine soziale Funktion"
Frauen unterstützen Männer seit jeher. Und umgekehrt? Die Philosophieprofessorin Kate Manne untersucht, wie misogyne Gesellschaften funktionieren.
Von Claudia Steinberg, New York
ZEIT ONLINE: Ms Manne, in Ihrem gerade erschienenen Buch Down Girl – The Logic of Misogyny erklären Sie Frauenfeindlichkeit aus philosophischer Perspektive. Es scheint das Buch zur Stunde zu sein – ein passender, aber unglücklicher Zufall. Was tragen Ihre Studien zur aktuellen Lage bei?
Kate Manne hat am MIT ihren Doktor in Philosophie gemacht, danach ging sie als Junior Fellow nach Harvard. Als Assistenzprofessorin für Moral- und Sozialphilosophie lehrt sie an der Cornell University. Anfang Oktober ist ihr Buch "Down Girl – The Logic of Misogyny" bei Oxford University Press erschienen. © privat
Kate Manne: Meines Wissens handelt es sich um das erste Buch, das Frauenfeindlichkeit in der Tradition analytisch feministischer Philosophie untersucht. Ich sehe Frauenfeindlichkeit als ein Instrument, um das Bild der Frau als Gebende, Liebevolle und Fürsorgliche zu bestärken. Wenn Frauen sich machthungrig, gefühllos und dominant verhalten, geraten sie in Konkurrenz mit Männern – den historischen Nutznießern weiblicher Wohltätigkeit. Verweigern Frauen ihre "moralischen Güter", werden sie kritisiert: Sie vernachlässigten die Schutzlosen und griffen nach verbotener Macht. In diesem System müssen sie den Mann auch sexuell umsorgen. Er bestätigt seine Dominanz, indem er das einfordert, und fühlt sich moralisch im Recht.
ZEIT ONLINE: Heutige Frauenfeindlichkeit basiert also darauf, die gesellschaftlich gewachsene Balance von Geben und Nehmen zu bewahren. Je weiter Frauen in männliches Terrain vordringen, desto drastischer die Gegenreaktion. Viele moderne Frauen möchten darauf vertrauen, dass dieses Denken eine Generationenfrage sei und sich im Lauf der Zeit von selbst überholt. Ein Irrglaube?
Manne: Tatsächlich sind viele Täter, die in jüngster Zeit öffentlich sexueller Übergriffe beschuldigt wurden, fortgeschrittenen Alters. Trump und Weinstein waren aber schon in ihren Dreißigern sexuelle Aggressoren, wenn nicht gar früher. Und unsere Gesellschaft nimmt ihre jungen Männer in Schutz. Generell haben wir eine Tendenz zur "Himpathy", wie ich es nenne – die dem weiblichen Opfer zustehende Sympathie fließt dem männlichen Täter zu,
ZEIT ONLINE: Zur Zeit können wir in den Medien allerdings auch das Gegenteil beobachten. Abgesehen von den prominenten Männern, deren mögliche sexuelle Grenzübertritte gerade untersucht werden: Es gibt viele Fälle von Frauen, die sich öffentlich über die Gewalttätigkeit ihrer Männer beklagten, sich aber dann von ihren Aussagen distanzierten. Auch Ivanka Trump nahm ihre Schilderung brutaler sexueller Übergriffe ihres Mannes zurück – lässt sich aus diesem Verhalten ein Prinzip erkennen?
Manne: Solche Rückzieher haben unterschiedliche Gründe: beispielsweise der schlichte Wunsch, eine harmonische Beziehung mit einem mächtigen Mann zu unterhalten. Kinder und finanzielle Erwägungen sind oft der Hintergrund dafür, Anschuldigungen zurückzuziehen. Doch in manchen Fällen bezweifelt die Anklägerin offenbar tatsächlich ihre eigene Geschichte. Frauen aus der Mittelschicht vertrauen darauf, dass man sich nach ihrer Darstellung von Misshandlung und Vergewaltigung um sie sorgt, dass man interveniert. Wenn dann aber niemand hilft, wirkt es wie eine Bestätigung nach innen wie nach außen, dass sie sich das alles nur eingebildet hat. Der Frau werden nicht nur gesetzliche Maßnahmen und vielleicht auch weitere Gewalttätigkeiten angedroht, sondern sie sieht ihren guten Ruf gefährdet: Wenn sie weiterhin auf ihrer Schilderung besteht, wird sie als verrückt bezeichnet, man denunziert sie als moralisch unglaubwürdig. Viele Männer sind mit ihrer Version der Geschichte meist ungestraft davon gekommen, auf politischer ebenso wie auf persönlicher Ebene.
ZEIT ONLINE: Muss man nicht jeden Fall einzeln betrachten?
Manne: Ich möchte mit meinem Buch Frauenfeindlichkeit entmystifizieren, sie als ein systematisches soziales Phänomen erklären. Im Kern erfüllt sie eine soziale Funktion, psychologische Ansätze als Erklärungsmodelle sind naiv. Das weiße, heterosexuelle Patriarchat funktioniert wie jede andere Hierarchie auch. An der Spitze dieser Ordnung existiert ein untrüglicher Sinn dafür, wer wohin gehört und wer wem etwas schuldet, wenn es um Geschlecht, Ethnie, Klasse, Sexualität, oder Behinderung geht.
"Ich selbst hatte Schuldgefühle beim Schreiben"
ZEIT ONLINE: Sie differenzieren in Ihrem Buch deutlich zwischen Sexismus und Frauenfeindlichkeit – was ist der Unterschied?
Manne: Sexismus ist diejenige Abteilung des Patriarchats, die für die Rechtfertigung der sozialen Ordnung verantwortlich ist: Es handelt sich um eine Ideologie, die Männer und Frauen aufgrund der ihrem Geschlecht zugesprochenen Fähigkeiten diskriminiert, obwohl die wissenschaftlich nicht belegt sind. Frauenfeindlichkeit oder Misogynie unterscheidet zwischen guten und schlechten Frauen. Sexismus ist eine Theorie; Frauenfeindlichkeit schwingt die Keule.
ZEIT ONLINE: Wie weit ist denn der Feminismus gegen die Frauenfeindlichkeit angekommen?
Manne: Wir sprechen immer wieder über sogenannte Wellen des Feminismus, im Unterschied zu anderen politischen Bewegungen. Dadurch entsteht der Eindruck, als sei feministisches Denken zur schnellen Veralterung verurteilt, als handele es sich nur um kurzlebige Theorien, die bald von der Realität eingeholt werden. Tatsächlich können wir zwar keinen linearen Fortschritt verzeichnen, aber vor 50 Jahren wäre es in meiner Disziplin noch undenkbar gewesen, über das Phänomen Frauenfeindlichkeit offen zu schreiben. Das stellt eine wirkliche Verbesserung in gesellschaftlicher Hinsicht dar, von der aber nur privilegierte Frauen wie ich profitieren. Unter frauenfeindlichen Rückfällen leiden meist die leichter verwundbaren Frauen.
ZEIT ONLINE: Sie schreiben, dass Frauen oft Schuldgefühle plagen, wenn Männern traditionelle Privilegien entzogen werden. Haben Sie ein Beispiel?
Manne: Ich selbst habe gemerkt, wie groß meine Schuldgefühle beim Schreiben dieses Buches waren. Ich habe es dann zur Methode erhoben und immer dorthin den Finger gelegt, wo es schmerzte: Wenn sich zum Beispiel der Gedanke einstellte, dass ich mehr Sympathie für die entrechteten, gekränkten weißen Männer aufbringen sollte. Rational hielt ich es für falsch und unproduktiv, mich um diesen männlichen Schmerz zu kümmern – ich wollte mich ja vielmehr auf die Mädchen und Frauen konzentrieren, die Opfer dieser Männer geworden waren. Ironischerweise standen mir zwei ungemein hilfreiche heterosexuelle Männer bei – mein Mann und mein Lektor.
ZEIT ONLINE: Das heißt, es geht nicht um Männer gegen Frauen und umgekehrt?
Manne: Nein. Wir müssen viel mehr Männer zur Unterstützung von Frauen heranziehen. Umgekehrt ist es ja selbstverständlich.
ZEIT ONLINE: Nicht alle Frauen unterstützen Frauen. Tragen sie damit eine gewisse Mitschuld an der Aufrechterhaltung der patriarchalischen Ordnung? Und ist in diesem Zusammenhang allein die Sehnsucht nach altmodischen Kavalieren kontraproduktiv?
Manne: Manchmal schon, aber es lohnt sich nicht, gegen jeden Effekt geschlechtsspezifischer Sozialnormen mit gleicher Energie anzukämpfen. Mein Mann und ich unterrichten beide und beschäftigen uns seit Langem mit feministischer Literatur, Politik und Theorie. Dennoch kümmern wir uns umeinander in geschlechtsspezifischer Weise: Ich koche für ihn, er fährt mich herum. Aber ich bin viel stärker karriereorientiert als er. Unser bewusster, gewissenhafter Pragmatismus ist mir persönlich ganz recht.
aus; DIE ZEIT online, 4. November 2017
Frauen unterstützen Männer seit jeher. Und umgekehrt? Die Philosophieprofessorin Kate Manne untersucht, wie misogyne Gesellschaften funktionieren.
Von Claudia Steinberg, New York
ZEIT ONLINE: Ms Manne, in Ihrem gerade erschienenen Buch Down Girl – The Logic of Misogyny erklären Sie Frauenfeindlichkeit aus philosophischer Perspektive. Es scheint das Buch zur Stunde zu sein – ein passender, aber unglücklicher Zufall. Was tragen Ihre Studien zur aktuellen Lage bei?
Kate Manne hat am MIT ihren Doktor in Philosophie gemacht, danach ging sie als Junior Fellow nach Harvard. Als Assistenzprofessorin für Moral- und Sozialphilosophie lehrt sie an der Cornell University. Anfang Oktober ist ihr Buch "Down Girl – The Logic of Misogyny" bei Oxford University Press erschienen. © privat
Kate Manne: Meines Wissens handelt es sich um das erste Buch, das Frauenfeindlichkeit in der Tradition analytisch feministischer Philosophie untersucht. Ich sehe Frauenfeindlichkeit als ein Instrument, um das Bild der Frau als Gebende, Liebevolle und Fürsorgliche zu bestärken. Wenn Frauen sich machthungrig, gefühllos und dominant verhalten, geraten sie in Konkurrenz mit Männern – den historischen Nutznießern weiblicher Wohltätigkeit. Verweigern Frauen ihre "moralischen Güter", werden sie kritisiert: Sie vernachlässigten die Schutzlosen und griffen nach verbotener Macht. In diesem System müssen sie den Mann auch sexuell umsorgen. Er bestätigt seine Dominanz, indem er das einfordert, und fühlt sich moralisch im Recht.
ZEIT ONLINE: Heutige Frauenfeindlichkeit basiert also darauf, die gesellschaftlich gewachsene Balance von Geben und Nehmen zu bewahren. Je weiter Frauen in männliches Terrain vordringen, desto drastischer die Gegenreaktion. Viele moderne Frauen möchten darauf vertrauen, dass dieses Denken eine Generationenfrage sei und sich im Lauf der Zeit von selbst überholt. Ein Irrglaube?
Manne: Tatsächlich sind viele Täter, die in jüngster Zeit öffentlich sexueller Übergriffe beschuldigt wurden, fortgeschrittenen Alters. Trump und Weinstein waren aber schon in ihren Dreißigern sexuelle Aggressoren, wenn nicht gar früher. Und unsere Gesellschaft nimmt ihre jungen Männer in Schutz. Generell haben wir eine Tendenz zur "Himpathy", wie ich es nenne – die dem weiblichen Opfer zustehende Sympathie fließt dem männlichen Täter zu,
ZEIT ONLINE: Zur Zeit können wir in den Medien allerdings auch das Gegenteil beobachten. Abgesehen von den prominenten Männern, deren mögliche sexuelle Grenzübertritte gerade untersucht werden: Es gibt viele Fälle von Frauen, die sich öffentlich über die Gewalttätigkeit ihrer Männer beklagten, sich aber dann von ihren Aussagen distanzierten. Auch Ivanka Trump nahm ihre Schilderung brutaler sexueller Übergriffe ihres Mannes zurück – lässt sich aus diesem Verhalten ein Prinzip erkennen?
Manne: Solche Rückzieher haben unterschiedliche Gründe: beispielsweise der schlichte Wunsch, eine harmonische Beziehung mit einem mächtigen Mann zu unterhalten. Kinder und finanzielle Erwägungen sind oft der Hintergrund dafür, Anschuldigungen zurückzuziehen. Doch in manchen Fällen bezweifelt die Anklägerin offenbar tatsächlich ihre eigene Geschichte. Frauen aus der Mittelschicht vertrauen darauf, dass man sich nach ihrer Darstellung von Misshandlung und Vergewaltigung um sie sorgt, dass man interveniert. Wenn dann aber niemand hilft, wirkt es wie eine Bestätigung nach innen wie nach außen, dass sie sich das alles nur eingebildet hat. Der Frau werden nicht nur gesetzliche Maßnahmen und vielleicht auch weitere Gewalttätigkeiten angedroht, sondern sie sieht ihren guten Ruf gefährdet: Wenn sie weiterhin auf ihrer Schilderung besteht, wird sie als verrückt bezeichnet, man denunziert sie als moralisch unglaubwürdig. Viele Männer sind mit ihrer Version der Geschichte meist ungestraft davon gekommen, auf politischer ebenso wie auf persönlicher Ebene.
ZEIT ONLINE: Muss man nicht jeden Fall einzeln betrachten?
Manne: Ich möchte mit meinem Buch Frauenfeindlichkeit entmystifizieren, sie als ein systematisches soziales Phänomen erklären. Im Kern erfüllt sie eine soziale Funktion, psychologische Ansätze als Erklärungsmodelle sind naiv. Das weiße, heterosexuelle Patriarchat funktioniert wie jede andere Hierarchie auch. An der Spitze dieser Ordnung existiert ein untrüglicher Sinn dafür, wer wohin gehört und wer wem etwas schuldet, wenn es um Geschlecht, Ethnie, Klasse, Sexualität, oder Behinderung geht.
"Ich selbst hatte Schuldgefühle beim Schreiben"
ZEIT ONLINE: Sie differenzieren in Ihrem Buch deutlich zwischen Sexismus und Frauenfeindlichkeit – was ist der Unterschied?
Manne: Sexismus ist diejenige Abteilung des Patriarchats, die für die Rechtfertigung der sozialen Ordnung verantwortlich ist: Es handelt sich um eine Ideologie, die Männer und Frauen aufgrund der ihrem Geschlecht zugesprochenen Fähigkeiten diskriminiert, obwohl die wissenschaftlich nicht belegt sind. Frauenfeindlichkeit oder Misogynie unterscheidet zwischen guten und schlechten Frauen. Sexismus ist eine Theorie; Frauenfeindlichkeit schwingt die Keule.
ZEIT ONLINE: Wie weit ist denn der Feminismus gegen die Frauenfeindlichkeit angekommen?
Manne: Wir sprechen immer wieder über sogenannte Wellen des Feminismus, im Unterschied zu anderen politischen Bewegungen. Dadurch entsteht der Eindruck, als sei feministisches Denken zur schnellen Veralterung verurteilt, als handele es sich nur um kurzlebige Theorien, die bald von der Realität eingeholt werden. Tatsächlich können wir zwar keinen linearen Fortschritt verzeichnen, aber vor 50 Jahren wäre es in meiner Disziplin noch undenkbar gewesen, über das Phänomen Frauenfeindlichkeit offen zu schreiben. Das stellt eine wirkliche Verbesserung in gesellschaftlicher Hinsicht dar, von der aber nur privilegierte Frauen wie ich profitieren. Unter frauenfeindlichen Rückfällen leiden meist die leichter verwundbaren Frauen.
ZEIT ONLINE: Sie schreiben, dass Frauen oft Schuldgefühle plagen, wenn Männern traditionelle Privilegien entzogen werden. Haben Sie ein Beispiel?
Manne: Ich selbst habe gemerkt, wie groß meine Schuldgefühle beim Schreiben dieses Buches waren. Ich habe es dann zur Methode erhoben und immer dorthin den Finger gelegt, wo es schmerzte: Wenn sich zum Beispiel der Gedanke einstellte, dass ich mehr Sympathie für die entrechteten, gekränkten weißen Männer aufbringen sollte. Rational hielt ich es für falsch und unproduktiv, mich um diesen männlichen Schmerz zu kümmern – ich wollte mich ja vielmehr auf die Mädchen und Frauen konzentrieren, die Opfer dieser Männer geworden waren. Ironischerweise standen mir zwei ungemein hilfreiche heterosexuelle Männer bei – mein Mann und mein Lektor.
ZEIT ONLINE: Das heißt, es geht nicht um Männer gegen Frauen und umgekehrt?
Manne: Nein. Wir müssen viel mehr Männer zur Unterstützung von Frauen heranziehen. Umgekehrt ist es ja selbstverständlich.
ZEIT ONLINE: Nicht alle Frauen unterstützen Frauen. Tragen sie damit eine gewisse Mitschuld an der Aufrechterhaltung der patriarchalischen Ordnung? Und ist in diesem Zusammenhang allein die Sehnsucht nach altmodischen Kavalieren kontraproduktiv?
Manne: Manchmal schon, aber es lohnt sich nicht, gegen jeden Effekt geschlechtsspezifischer Sozialnormen mit gleicher Energie anzukämpfen. Mein Mann und ich unterrichten beide und beschäftigen uns seit Langem mit feministischer Literatur, Politik und Theorie. Dennoch kümmern wir uns umeinander in geschlechtsspezifischer Weise: Ich koche für ihn, er fährt mich herum. Aber ich bin viel stärker karriereorientiert als er. Unser bewusster, gewissenhafter Pragmatismus ist mir persönlich ganz recht.
aus; DIE ZEIT online, 4. November 2017
Die Sache mit der Hegemonie
Isolde Charim
Die Hegemonie zurückgewinnen?
Die Hegemonie zurückgewinnen?
Die Wahl sei ein Richtungsentscheid gewesen - mit ihr habe sich die Hegemonie verschoben: Die Rechte haben sie gewonnen, die Hegemonie. Die Linken, die haben sie verloren - und schicken sich nun an, sie zurückzuerobern. Aber Wahlsiege begründen noch keine Hegemonie, schreibt Armin Thurnher zu Recht. Also was nun? Zeit, über Hegemonie zu sprechen.
Hegemonie ist, wie Antonio Gramsci gezeigt hat, eine der beiden Arten Macht auszuüben. Die andere Art ist Repression. Während diese über Zwang funktioniert, erzeugt Hegemonie das genaue Gegenteil - nämlich Zustimmung. Hegemonie heißt also: Herrschen durch Konsens. Woher aber kommt diese Zustimmung?
Zustimmung heißt nicht Gleichschaltung. Es bedeutet vielmehr, die Menschen zu prägen: die Bedeutungen, die sie leiten, die Identitäten, die sie leben.
Bedeutungen sind nicht festgeschrieben. Eben deshalb sind sie ja umkämpft. Hegemonie heißt, die Bedeutung von dem, was gesellschaftlich falsch und richtig, was akzeptiert und nicht akzeptiert ist, durchzusetzen. Und zwar in der Art, dass die Menschen diese Prägung nicht als Schulmeisterei erleben, sondern diese zu ihrem Alltagsverstand machen. So findet Herrschaft Eingang in die alltäglichen Denk- und Handlungsweisen. Das fühlt sich dann nicht als äußere Herrschaft, sondern als innere Überzeugung an. Das wird dann Teil der eigenen Identität.
Nun entsteht diese Vorherrschaft in den Köpfen weder durch Magie noch durch Beschwörung. Hegemonie wird vielmehr erzeugt - ganz materiell. In dem, was man Hegemonieapparate nennen könnte: in den Schulen, den Universitäten, den Thinktanks, in den Massenmedien, Kirchen, Vereinen, in den Parteien, den Gewerkschaften, im öffentlichen Diskurs. Das ist ihr handfestes Moment. Hegemonie aber ist ein Zwitterwesen, denn sie ist zugleich auch filigran - ein heikles Durchsetzen, das jederzeit kippen kann. Ein Konsens, der sich nie endgültig fixieren lässt, weil er immer umstritten, umkämpft ist. So sind die Hegemonieapparate nicht nur Orte der Konsensproduktion, sondern auch Orte der hegemonialen Kämpfe, des Ringens um die kulturelle Vorherrschaft. In jeder Schule, in jeder Redaktion, in jedem Internetforum findet eine harte politische Auseinandersetzung statt, ein Ringen um das Fixieren oder um das Erschüttern von Hegemonie.
An der Stelle ist es zentral, sich vor Augen zu halten, welcher Art diese Auseinandersetzung ist, wie das Ringen um Hegemonie funktioniert. Denn dieses hat eine eigene Logik.
Die Hegemonie behauptet der, dem es gelingt, das Terrain der Auseinandersetzung und der Konsensbildung zu bestimmen. Hegemonie erringen heißt also, die gesellschaftliche Demarkationslinie zu bestimmen, heißt, die Menschen dort zu versammeln. Wenn etwa die Demarkationslinie "Flüchtlinge" durchgesetzt wird, dann versammeln sich weniger Menschen an der D-Linie soziale Gerechtigkeit oder Klimawandel.
Deshalb reicht es nicht, ein Thema zu haben, um die kulturelle Vorherrschaft zurückzugewinnen. Es muss vielmehr gelingen, das Thema mit einer Bedeutung, mit einem Identitätsangebot zu verbinden. Ja, Hegemonie folgt nicht aus Wahlsiegen. Hegemonie folgt aus einem politischen Projekt.
aus: Wiener Zeitung, 177.11.2017
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