Gesine Krüger
Wenn der Migrationshintergrund konkret wird, bekommt er Wurzeln – kurdische, arabische, albanische, afrikanische oder türkische zum Beispiel, aber auch Heimisches ist im Angebot, Schweizer Wurzeln zum Beispiel im Fall des bekannten südafrikanischen Comedian Trevor Noah, der in seinen Shows gern über seinen Schweizer Vater erzählt, über die eigene Jugend im Township und den Versuch, in den USA richtig schwarz zu werden. So, wie der Begriff der Identität seit den 1980er Jahren in die Sozialwissenschaften und das Alltagsbewusstsein eingewandert ist, kommt heute kaum ein Artikel, der sich mit Zugewanderten, Secondos oder ganz allgemein mit Herkunft befasst, ohne die botanische Metapher aus. Über deutsche Politiker mit türkischen Wurzeln ist ebenso regelmässig zu lesen wie über Schüler, deren Wurzel in aller Herren Länder reichen würden. Im Gespräch mit Zeitzeugen wurden jüngst an Österreichischen Schulen bosnische Wurzeln erkundet, und anlässlich der WM 2014 erörterte eine Medienservice-Stelle die „internationalen Wurzeln der Fussballer“ – wobei es wohlgemerkt um alle Mannschaften ging! Und natürlich dürfen auch die Verbrecher mit Wurzeln im Balkan nicht fehlen. Dafür haben aber auch 30% der neuen Polizistinnen und Polizisten in Berlin ausländische Wurzeln.
Die Metapher von den Wurzeln ist in den Medien und im Alltagsgebrauch allgegenwärtig und keineswegs so unschuldig, wie sie auf den ersten Blick erscheinen mag. Die Geschichte etwa von Barack Obamas Schweizer Wurzeln, die vor einigen Jahren durch die Presse ging, klingt zunächst ganz lustig. Begeistert berichteten Schweizer Zeitungen vom Blick bis zur NZZ von der Verbindung des ersten schwarzen Präsidenten mit „uns“. Der Blick dichtete am 14.7.2010 die geradezu trunkene Überschrift „Yes, amtlich. Obama can say ich bin ein Schweizer“ und konkretisierte dann weiter: „Geklärt: die Schweizer Wurzeln Obamas liegen in Ried bei Kerzers.“ Ein aufgeregter Gemeindepräsident konnte verkünden, dass vor nur neun Generationen der 1692 in Ried geborene Hans Gutknecht mit seiner Frau Anna Barbara ins Elsass ausgewandert war und der gemeinsame Sohn dann weiter nach Amerika zog. Und dieser war offenbar ein Urahn von Obamas Mutter – wie so viele Männer und Frauen, die in sieben weiteren Generationen viele Kinder zeugten, möchte man beifügen.
Und was ein statischer Stammbaum mit seinen ordentlichen Ästen (der ja ebenfalls, wenn auch meist unsichtbare, Wurzeln hat) ebenfalls nicht zeigt, ist die räumliche Ausdehnung aller dieser Generationen. Wie viele Wurzeln werden im Verlaufe der Generationen angesammelt? Von Freiburg ins Elsass und dann nach „Amerika“, und dabei ist Obamas väterliche Familie noch gar nicht angesprochen. Hier zeigt sich auch ein weiteres Problem mit der Metapher von den Wurzeln: Was passiert mit ihnen, wenn Menschen wandern? Werden sie ausgerissen – und der Mensch ist dann entwurzelt wie eine Pflanze? Und was würde das bedeuten? Sehnt sich Obama des Nachts, wenn ihm das Regieren schwer wird und er nicht weiß, ob er über Trump lachen oder weinen soll, nach Ried oder dem Elsass „zurück“?
Unter einer Stammbaumgrafik im Blick-Artikel war die Bildunterschrift zu lesen: „Dieser Stammbaum beweist: Barack Obama ist Schweizer.“ Da klingt leise, aber bitter die amerikanische One-Drop-Rule an, gemäß der im 19. und 20. Jahrhundert in den USA jeder schwarze Vorfahre (theoretisch) dazu führte, dass selbst der entfernteste Nachfahre nicht als weiß galt. Dass eine umgekehrte One-Drop-Rule Obama zum Schweizer erklärt, könnte noch als ironische Pointe durchgehen. Der Gemeinde Kerzers sei der berühmte Neubürger oder besser Neuehrenbürger von Herzen gegönnt. Und es war wirklich nett vom amerikanischen Botschafter Donald Beyer (wo der wohl seine Wurzeln hat?), dass er die Ehrenbürger-Urkunde persönlich entgegengenommen hat und versprach, auch der Präsident werde sich freuen.
Auf den zweiten Blick sind solche Vorstellungen sehr weit zurückliegender Verwurzelung, die im vorliegenden Fall ja eigentlich ein recht völkerumschlingendes Potential besitzen, allerdings höchst fragwürdig. Mit der Frage nach den Wurzeln wird einerseits unterstellt, dass jemand, der dazugekommen ist, nicht dazugehört, sondern woanders verwurzelt bleibt. Andererseits wird suggeriert, alle hätten eindeutig zu bestimmende Wurzeln, die zu einem bestimmten Boden gehören. Wenn zum Beispiel laut Pressemeldungen jeder dritte Arbeitslose „ausländische Wurzeln“ hat, geht es nicht mehr um Staatsangehörigkeit, um Bildung oder Klassenzugehörigkeit; und das Problem wird nicht mehr im Land von Wohnsitz, Arbeit und Ausweisdokumenten lokalisiert, sondern in einer mehr oder weniger fernen ‚Heimat‘, zu der man für immer gehört.
Die Ideologie von natürlicher Zugehörigkeit und Abstammung mit allen dazugehörigen Rechten und Ansprüchen unterliegt seit einiger Zeit einer globalen Konjunktur. Dabei sind Vorstellungen von Autochthonie in ganz unterschiedlichen Milieus verbreitet, im linken, globalisierungskritischen Milieu ebenso wie bei Konservativen und Pegida-Anhängern, die ihre Heimat schützen wollen. Solche Zuordnungen bieten vermeintlich Sicherheit. Doch wer bestimmt die echte Autochthonie? Wer verbürgt die Wahrhaftigkeit der Wurzeln? Schon die Abstammung von zwei Eltern mit unterschiedlichen Herkunftsgeschichten birgt die Gefahr, im Konfliktfall nicht die richtige Zugehörigkeit zu besitzen, sondern ‚gemischte‘ Wurzeln.
Wir sehr die Rede von den Wurzeln in biologisierenden Rassentheorien und politischen Mythologien gründen, deren Hochkonjunktur zwischen 1890 und 1950 man längst überwunden glaubte, zeigt eine weitere, völlig sinnfreie Meldung auf Shortnews. Hier heißt es: „Die Sängerin Adele wurde jüngst mit Plagiatsvorwürfen aus der Türkei konfrontiert. Davor hatte sie in einem Interview erklärt, wo ihre Wurzeln zu finden sind. Dies könnte nun vielleicht die Ähnlichkeit ihres Songs ‚Million years ago‘ mit Ahmet Kayas Lied ‚Acilara tutunmak‘ erklären.“ Vielleicht wollte der Redaktionspraktikant nach der Mittagpause einen kleinen Witz loswerden, doch solche Vorstellungen und Denkmuster vom Blut der Ahnen, in denen ein Lied raunt, entstehen nicht im leeren Raum. Mit einem ganz ähnlichen Argument berichtete während der Kriege in Ex-Jugoslawien ein Reporter aus einem Flüchtlingslager bei Benkovac über kleine Kinder, die ein Lied im Zehnsilbenvers zu Ehren des Pressebesuchs sangen: „Sie wissen höchstwahrscheinlich gar nicht, was ein Zehnsilbenvers ist, und haben ihn bei der Niederschrift des Liedes nicht bewusst angewandt, er ist ihnen eingeboren, ist in ihrem genetischen Code notiert.“
Der Sozialanthropologe Ivan Čolović hat diesen wahnhaften Unsinn 1994 in einem luziden Artikel in Lettre International offengelegt und gezeigt, wie solche Mythen im Kontext der Jugoslawienkriege zur dominanten Sprache des zeitgenössischen ethnischen Nationalismus und zum dominanten Merkmal der öffentlichen Kommunikation geworden sind. Sie beruhten nicht auf einer Beschwörung der Vergangenheit, sondern gerade auf einer Aussetzung, einem Verlassen der historischen Zeit: Mythen verwandeln Geschichte „in ewige Anwesenheit oder ewige Rückkehr desselben“. Historische Argumente – etwa, dass Menschen schon immer gewandert sind und sich schon immer ‚vermischt‘ haben – können in einer solchen Konstellation nicht greifen. Untrennbar verbunden mit der mythischen Zeit ist ein mythischer Raum, „gewonnen durch das Anhalten der historischen Zeit, d.h. durch die Projektion historischer Ereignisse von der diachronischen Achse auf die der Synchronie.“
Im Netz der symbolischen Orte, die den mythischen Raum bilden, spielt das Grab – und mehr noch, das Grab als Wurzel – eine zentrale Rolle. Gräber symbolisieren zugleich, wie Čolović schreibt, Keime nationaler Erneuerung und Wurzeln, „durch die das Volk an den Boden der Ahnen gebunden ist.“ Und weiter: „Die Symbolik der Gräber als Wurzel hat heute, in der Zeit interethnischer Kämpfe um Territorien, besondere Bedeutung. Das liegt daran, dass heute die Ideen vom ethnischen Raum und dem Recht der Ethnie auf territoriale Souveränität wieder aufgegriffen werden, und diese Ideen gründen auf einer Art morbider Geopolitik, deren wesentlicher Faktor die Existenz von Ahnen- und Familiengräbern auf einem umstrittenen Territorium ist.“
Diese morbide Geopolitik taucht heute, mehr als zwanzig Jahre später, in mächtiger Gestalt wieder auf. Čolović hatte übrigens bereits in seinem Artikel von 1994 vor dem latenten Ethno-Nationalismus der „zivilisierten“ westlichen Staaten gewarnt, die mit Entsetzen auf den Balkan und das zerfallende Jugoslawien starrten, den Wahnsinn ethnischer, territorial gebundener Reinheit aber latent mit sich trugen. Phantasien von Grenzzäunen, Schießbefehlen, und von ihren gegen „Ströme“ und „Fluten“ fremder Eindringlinge zu verteidigenden Territorien beziehen ihre Kraft aus eben dieser politischen Mythologie, die von Geschichte und Politik nichts mehr wissen will.
Postskriptum: Man hat herausgefunden, dass 50% der Schweizer Männer und immerhin noch 45% der deutschen mit dem ägyptischen Pharao Tutanchamun verwandt sind. Wenn es Ihnen also hier zu bunt wird: Ab in die Heimat!
Quelle: http://geschichtedergegenwart.ch/wurzeln-ziehen/
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