Dienstag, 26. Juni 2018
Italiens Kolonialismus und Italiens Gegenwart
Reden Sie auf Partys über die Kolonialzeit?
Gespräch von Karen Krüger mit Francesa Melandri
Frau Melandri, gerade ist Ihr dritter Roman auf Deutsch erschienen. „Alle, außer mir“ ist eine italienische Familiensaga. Der Originaltitel lautet „Sangue giusto“, „Richtiges Blut“. Was ist „richtiges Blut“ im heutigen Italien?
Richtiges Blut hat es nie gegeben und wird es natürlich auch nie geben. Eine Hierarchie des Blutes oder der Rasse existiert nicht als biologische Realität. Die italienische Halbinsel ist schon vor der Zeit des multikulturellen Römischen Reiches ein Knotenpunkt im Mittelmeer gewesen, deshalb haben Italiener eine sehr bunte DNA.
Matteo Salvini, der neue italienische Innenminister, ist für rassistische Äußerungen bekannt. Wird Abstammung in Italien wichtiger werden?
Auf lange Sicht gesehen auf keinen Fall. Die Entwicklung in Europa geht ja in eine ganz andere Richtung. Die Grundschulen sind voller Kinder mit unterschiedlicher Hautfarbe. Weiße Rechtsextreme mögen vielleicht ein paar Siege erringen wie etwa die Wahl Donald Trumps. Dennoch sind sie auf der Verliererseite der Geschichte. Es heißt, in den Vereinigten Staaten wären Bürger europäischer, also weißer Abstammung, bis zum Jahr 2045 nicht mehr in der Mehrheit. Das Schüren von Rassismus ist einfach sehr nützlich, um von der Forderung nach sozialer Gerechtigkeit abzulenken, die nicht nach der Hautfarbe fragt. Es ist eine uralte Strategie und einer der Gründe, warum der Rassismus erfunden wurde. Europas Populisten tun so, als könnten wir in eine Zeit zurückkehren, in der man sich als Europäer immer inmitten von weißen und christlichen Europäern wiederfand. Aber diese Zeit hat es tatsächlich nie gegeben.
Ihr Roman porträtiert die italienische Gesellschaft von heute, handelt aber auch von der kolonialen Vergangenheit. Im Mittelpunkt steht die Lehrerin Ilaria. Eines Tages steht ein junger Afrikaner vor ihrer Tür in Rom und behauptet, ein Enkel ihres Vaters zu sein. Während der Kolonialzeit diente er als junger Mann im besetzten Äthiopien. Die Suche nach Wahrheit wird Ilarias gesamte Identität in Frage stellen. Wie verbreitet ist es unter Italienern, über die koloniale Vergangenheit zu sprechen?
Es ist nicht besonders verbreitet. Ich kann mir jedoch kaum vorstellen, dass die kolonialen Vergehen der Deutschen in Namibia ein besonders angesagtes Gesprächsthema bei Dinnerpartys in Deutschland sind, oder dass man in Holland oft über die in Indonesien begangenen Massaker plaudert, oder in Belgien über die Schrecken der Kolonialzeit in Kongo. Italien hat seine Kolonialherrschaft, die übrigens von kurzer Dauer war, nie ernsthaft aufgearbeitet. Leider ist das eher die Regel als die Ausnahme. Das Thema, über das in der westlichen Welt tatsächlich nie gesprochen wird, ist allerdings die Tatsache, dass der Kolonialismus noch immer die Verteilung von Wohlstand in der Welt bestimmt.
Die Bundesregierung hat bis heute nicht den deutschen Völkermord an den Nama und Herero im Jahr 1904 anerkannt. 2016 haben Hereros Deutschland bei einem Gericht in New York verklagt. Deutschland hat noch nicht einmal die Anklageschrift entgegengenommen. Es ist beschämend, und ich bin mir sicher, viele Deutsche haben noch nie von den Herero und Nama gehört.
Genauso wissen nur wenige Italiener über General Rodolfo Grazianis blutige Vergeltungsschläge in Äthiopien Bescheid. Man nannte ihn den Schlächter von Libyen und Abessinien. Vielleicht haben manche davon gehört, es ist ihnen jedoch egal. Und viele Engländer wissen nichts über die furchtbare Niederschlagung der Mau-Mau-Rebellion in Kenia durch britische Kolonialtruppen. Die Hegemonie des Westens hat uns das Privileg der Ignoranz geschenkt. Viele glauben noch immer, der Kolonialismus sei ein gleichberechtigtes Geben und Nehmen gewesen: „Wir gaben ihnen Zivilisation und nahmen uns dafür ihre Ressourcen.“
In Ihrem Roman wurde Attilio Profeti, Ilarias Vater, 1905 geboren. Er wuchs zur Zeit des Faschismus auf und kämpfte im Zweiten Italienisch-Äthiopischen Krieg. Später stellte er weder den Faschismus noch, was er damals getan hat, in Frage. Ist das in Italien typisch für diese Generation?
Es gibt diese spezielle Form des kollektiven Schweigens, das immer auf das katastrophale Versagen einer Gesellschaft folgt. Dieses Schweigen ist einer bestimmten Generation von Deutschen und Italienern gemein, aber es gibt Unterschiede. Die Deutschen haben den Krieg verloren und Auschwitz erschaffen. Nichts konnte diese Tatsachen abmildern. Italien war zunächst ein Verbündeter Hitlers, wurde dann jedoch von den Nazis besetzt. Die Menschen reagierten mit einer starken Widerstandsbewegung. Aus diesem Grund haben uns die Alliierten, als der Krieg zu Ende ging, anders behandelt. Sie zwangen uns nie, ein Gerichtsverfahren wie die Nürnberger Prozesse gegen Kriegsverbrecher wie Graziani anzustrengen. Die Briten waren verständlicherweise nicht gerade begeistert von der Idee, andere Europäer für deren koloniale Verbrechen zur Verantwortung zu ziehen. All das hat es den Italienern relativ leicht gemacht, sich mit der Rolle des Opfers oder des Helden zu identifizieren und nicht mit der Rolle des Täters.
„Ihr wisst nichts von uns, nicht einmal, wenn ihr hier gewesen seid“, sagt im Buch Shimeta, Ilarias äthiopischer Neffe.
Zwischen dem Kolonisator und dem Kolonisierten herrscht immer ein Ungleichgewicht an Aufmerksamkeit. Der erste will den anderen nur ausbeuten. Der Kolonisierte muss hingegen lernen, den Kolonisator zu verstehen, um zu überleben. Dieser Mechanismus trifft auf alle Arten von ungleichen Beziehungen zu. Es ist paradox, denn der Dominante ist in Wirklichkeit im kognitiven Nachteil. Er kennt nur sich selbst, während der andere beide kennt. Das Gleiche passiert mit Migranten: Um zu überleben, muss ein Migrant die Mehrheitsgesellschaft beobachten und verstehen lernen. Andersherum passiert das selten.
Einige glauben, der derzeitige Erfolg von Populisten und rechten Parteien in Italien habe mit der fehlenden Vergangenheitsbewältigung zu tun.
Wie überall auf der Welt sind da bestimmt noch andere Faktoren im Spiel. Der Abbau des Wohlfahrtsstaates macht viele unzufrieden. Wir haben eine alternde Gesellschaft und damit viele Wähler, die besonders anfällig sind für Sorgen und Ängste, und rechte Parteien sind sehr geschickt darin, daraus Kapital zu schlagen. Zudem hat es ausländische Einmischungen gegeben. Putin zum Beispiel hat einen Haufen Geld in rechte Parteien und Bewegungen gesteckt und tut dies immer noch – man denke nur einmal an Marine Le Pens Front National. Ich bin außerdem überzeugt, dass die Medien mitverantwortlich sind für die derzeitige Situation. In Italien wurde der investigative Journalismus fast vollständig von den Talkshows verdrängt. Wenn nur noch gestritten, geschrien und nicht mehr richtig diskutiert wird, werden unweigerlich populistische Standpunkte zum Ausdruck gebracht. Sogar altehrwürdige Zeitungen fingen ab einem gewissen Zeitpunkt an, eine Weltsicht zu hofieren, die unterschwellig rassistisch und frauenfeindlich ist. Und nun – Überraschung! – sind rassistische und frauenfeindliche Leute an der Macht. Selbstverständlich haben kein einziger Journalist und keine Chefredaktion Verantwortung für das kulturelle Debakel der vierten Gewalt übernommen. Schuld sind immer andere: Facebook, Lehrer, Smartphones, was auch immer. Alle, außer mir eben.
Sie beschreiben für die Flüchtlinge katastrophale Lebensbedingungen in Italien. In Rom leben viele auf der Straße. Sie schlafen tagsüber, weil die Nacht zu gefährlich für sie ist. Ist Italien überfordert?
Es halten sich ganz bestimmt nicht zu viele Flüchtlinge in Italien auf. Die Populisten behaupten das und sind sehr erfolgreich damit. Italien verfügt aber eigentlich über genügend Mittel, um die Flüchtlinge erfolgreich zu integrieren. Die Eingliederung in die Gesellschaft wäre im Interesse aller, da das Land dringend neue Steuerzahler braucht, die unsere Pensionen und das staatliche Gesundheitssystem finanzieren. Die Geburtenrate sinkt, die Lebenserwartung steigt. Doch die integrationsfördernden Strukturen sind nicht so implementiert, wie sie es längst sein sollten. Oft wissen die Geflüchteten nicht, wo sie Unterstützung bekommen können. Das betrifft selbst jene, die einen gesetzlichen Anspruch darauf haben, da ihnen der Flüchtlingsstatus zugesprochen wurde. Aus diesem Grund sind Migranten, die sich erst seit kurzem in Italien aufhalten, sehr sichtbar in den Straßen. Gleichzeitig gibt es viele Fälle, in denen die Integration schnell und hervorragend gelingt. Das allerdings ahnt man nicht, wenn man die italienischen Abendnachrichten sieht: Migranten kommen darin nur als Kriminelle vor oder wenn sie im Meer ertrunken sind. Die Populisten, die jetzt an der Macht sind, haben eine klare Agenda: Sie wollen die Situation vor die Wand fahren, damit sich soziale Ängste und Konflikte zementieren und noch mehr Leute sie wählen. Die Kriminalisierung von Organisationen und Strukturen, die Migranten unterstützen, wird der nächste Schritt sein. Orbán macht es in Ungarn ja vor.
Im Roman lebt Ilaria in Rom im multiethnischen Viertel Esquilino. Es gefällt ihr dort. Sie ist aber voller Sarkasmus für Leute, die Immigration als Bereicherung bezeichnen.
Migranten ausnahmslos toll zu finden, ist auch eine Art von Rassismus. Es ist genauso rassistisch, wie sie generell als Kriminelle anzusehen.
Was hat Sie dazu gebracht, über einen äthiopischen Flüchtling zu schreiben?
Vor einigen Jahren hat einer meiner Dokumentarfilme einen Preis beim Filmfestival von Lampedusa gewonnen. Die Jury bestand aus Filmemachern, Fotografen und Schauspielern die alle als Migranten nach Italien gekommen waren. Einer von ihnen war in Libyen in ein Boot gestiegen. Ich fragte ihn nach dieser ungewöhnlichen Reise. Er sagte: „Euch alle interessiert immer nur das. Aber niemand fragt, wie unser Leben zu Hause gewesen ist.“ Tatsächlich hatte auch ich ihn in diese Schublade „Migrant“ gesteckt. Danach habe ich viel über meine Voreingenommenheit nachgedacht.
Würde jemand wie Innenminister Salvini Ihren Roman lesen?
Das Lesen eines Romans erfordert eine gewisse Zurückgezogenheit ohne Publikum und Fotografen. Es ist eine Form von Einsamkeit, die nur dem Zweck dient, den persönlichen geistigen, emotionalen und intellektuellen Horizont zu erweitern. Ich denke, Salvini hat andere Prioritäten, seine Zeit zu verbringen.
aus: FAZ, 25.06.2018
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