Freitag, 16. Oktober 2020

Die Spaltung der USA

Richard Herzinger 

 Kurz vor der US-Präsidentschaftswahl ist die Zukunft der Vereinigten Staaten von Amerika so ungewiss wie seit dem Sezessionskrieg von 1861 bis 1865 nicht mehr. Erhebliche Zweifel sind angebracht, ob die Wahl überhaupt regulär über die Bühne gehen kann und ob die unterlegene Seite das Ergebnis anerkennen wird. So extrem zugespitzt ist die politische und kulturelle Polarisierung des Landes, dass nach der Wahl mit massiven Ausbrüchen von Gewalt, wenn nicht mit bürgerkriegsähnlichen Zuständen gerechnet werden muss.

Donald Trump bereitet diesem Szenario den Boden, indem er im Voraus erklärt, dass seine Wiederwahl nur durch einen gigantischen Betrug verhindert werden könne. Dass Trump sein Amt im Falle einer Niederlage freiwillig abgeben wird, erscheint unter diesen Vorzeichen immer unwahrscheinlicher. Seine angeblich überstandene Corona-Infektion lässt ihn in seinen eigenen wie in den Augen seiner Anhänger endgültig als unbesiegbar und unantastbar erscheinen. Mittels legaler wie illegaler Manöver könnte Trump die Amtsübergabe zumindest so lange hinauszögern, bis das Land in Hass und Chaos versinkt - und er sich dann als einzig berufener Retter der Nation vor ihrem Untergang präsentieren kann. Indirekt ermutigt er schon jetzt schwer bewaffnete rechtsextreme Milizen, sich für den entscheidenden Moment bereit zu halten. 

Auf der anderen Seite würde ein Wahlsieg Trumps bei den Anhängern der Demokraten massive Zweifel wecken, ob dabei alles mit rechten Dingen zugegangen sei. Tatsächlich stellt die in manchen republikanisch regierten Bundesstaaten zu verzeichnende Praxis, Wahllokale zu reduzieren und vor allem schwarzen Bürgern die Stimmabgabe zu erschweren, eine ernsthafte Beeinträchtigung des Wahlrechts dar. Auch eine massive Einschüchterung von Wählern und Wahlhelfern durch fanatische Trump-Anhänger ist denkbar. Das alles zeigt, wie akut das Überleben der US-Demokratie gefährdet ist. 

Aber es steht für die USA noch mehr auf dem Spiel: Selbst das Auseinanderbrechen ihrer staatlichen Einheit scheint angesichts der extremen, hasserfüllten Konfrontation zwischen den gesellschaftlichen Lagern nicht ausgeschlossen. In einem taz-Interview (unser Resümee) erinnerte der US-Autor Richard Kreitner kürzlich an die Dynamik, die Mitte des 19. Jahrhunderts zur Abspaltung der Südstaaten von der Union und zu dem darauf folgenden Bürgerkrieg führte. Die Fliehkräfte, die damals die Nation zerrissen, sind unterschwellig bis heute präsent - auch wenn eine mögliche Spaltung heute nicht entlang derselben geografischen Linie verlaufen würde. Zwar ist kaum vorstellbar, dass sich eine Tragödie dieses Ausmaßes in den USA wiederholen kann. Doch die Gefahr eines schleichenden Rückzugs einzelner Bundesstaaten aus der Union ist durchaus real. 

Staaten wie Kalifornien und New York etwa stehen in Fragen des Grundverständnisses einer Gesellschaft in solch fundamentalem Gegensatz zum harten Kern des republikanischen Lagers, dass auf längere Sicht eine Separation geradezu zwingend erscheint. Gewiss, dies sind Negativszenarien, die keineswegs so eintreten müssen. Doch in einer Zeit, in der vieles wahr zu werden pflegt, was gerade noch für unmöglich gehalten wurde, tut man gut daran, auch den schlimmsten Fall nicht auszuschließen. Die Erfolgsgeschichte der USA seit dem Ende des Bürgerkrieges hat vielfach vergessen lassen, wie fragil die Konstruktion und die Balance der amerikanischen Gesellschaft stets gewesen ist. 

Seit ihrer Gründung vor nahezu 250 Jahren führen die USA ein einzigartiges weltgeschichtliches Experiment durch. Das von den Verfassungsvätern eingeführte Prinzip der "Regierung durch das Volk und für das Volk", damals ein unerhörtes geschichtliches Novum, ist auch heute weltweit alles andere als eine Selbstverständlichkeit. Nicht weniger kühn war die Gründungsidee der USA, Menschen unabhängig von ihrer Abstammung und Religion in einer Gesellschaft von Bürgern mit gleichen Rechten zu vereinen. Durch schwerste innere Konflikte und Rückschläge hindurch haben die USA an dieser Grundorientierung festgehalten. 

Doch jetzt hat sich ein großer Teil der Nation, dessen Stimme Trump ist, von dem aufklärerischen, universalistischen Gründungsimpetus der amerikanischen Demokratie radikal losgesagt. Aber auch auf der äußersten Linken, deren Einfluss bis weit in die Demokratische Partei reicht, hat sich eine Ideologie verfestigt, die den klassischen Werten der amerikanischen Demokratie feindlich gesonnen ist. Im Namen einer an den Interessen unterdrückter Minderheiten orientierten "Identitätspolitik" denunzieren linke Radikale die universalistischen Grundwerte der USA als in ihrem Kern "rassistisch". 

Der Wertekonsens, der die US-Gesellschaft jahrhundertelang zusammengehalten hat, droht von zwei Seiten her zertrümmert zu werden. Sollte die US-Demokratie kollabieren oder das Land zumindest durch eine existenziell bedrohliche Staatskrise paralysiert werden, würde es auch für die europäischen Nationen sehr schwer, ihre demokratische Ordnung zu bewahren. Erliegt die US-Demokratie den Kräften des Irrationalismus und der autoritären Regression, wird das die übrige demokratischen Welt zutiefst demoralisieren. Ein Scheitern der Demokratie in den USA, dem Leitstern moderner demokratischer Gemeinwesen schlechthin, könnte somit gar das Ende der Epoche der liberalen Demokratie insgesamt einläuten. 

Nur ein überwältigender Erdrutschsieg Joe Bidens mit vielen Stimmen auch aus der republikanischen Wählerschaft könnte fürs erste sicherstellen, dass es nicht so weit kommt. Denn er würde signalisieren, dass die gesellschaftliche Mitte keine weitere Eskalation des Konflikts zwischen den beiden politisch-gesellschaftlichen Lagern, sondern deren Wiederannäherung wünscht. Dies würde die Republikaner zwingen, von ihrem Flirt mit der extremen Rechten abzulassen, und es würde zugleich die gemäßigten Kräfte in der Demokratischen Partei stärken. Doch eine solcher Wahlausgang ist kaum zu erwarten. Eher wird es zu einem knappen Ergebnis kommen - das die USA und mit ihr die Demokratien weltweit in eine existenzielle Krise stürzen könnte. 

 

aus: Perlentaucher, 15.10.2020

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