Daniele Dell'Agli
Joe Biden und Kamala Harris haben sich in den ersten, weltweit beachteten Reden nach der gewonnenen Wahl große Mühe gegeben, mit einer Stimme zu sprechen, und doch hat Biden eine "republikanische", Harris eine "demokratische" Rede gehalten. Gemeinsam haben sie das andere, das noch nicht vollends von Zynikern, Politgangstern und Oligarchen vergiftete Amerika beschworen, doch bei Biden war es das Land der "opportunities", bei Harris das der "possibilities". Die Spaltung des Landes verläuft mitten durch die neue Führungsriege.
Die Unterscheidung mag auf den ersten Blick spitzfindig erscheinen, doch sie ist bezeichnend. Eine Opportunität ist eine günstige Gelegenheit oder zumindest eine, die man sich nicht entgehen lassen sollte; die zwar nicht per se gegeben ist, sich aber jederzeit einstellen kann, und zwar als etwas, das man nicht selbst herstellen, sondern, wenn es da ist, nur ergreifen kann - ursprünglich übrigens wenn der Wind günstig genug wehte, das Schiff in den Hafen zu treiben (ob portum). Also letztlich die neoliberale Aufforderung, jede sich bietende Situation individuell zum eigenen Vorteil zu nutzen, ohne Rücksicht auf Kollateralschäden für andere - woraus sich die sprichwörtliche Prinzipienlosigkeit des Opportunisten ableitet.
Genau diese Einstellung aber widerspricht dem während der Biden-Rede wiederholt evozierten Geist des Kommunitarismus, eines "gemeinsam sind wir stark-Amerika". Mit ungleich verteilten Chancen fördert man keine Gemeinschaftsgefühle, sondern nur Neid, Missgunst und den Kampf jeder gegen jeden, der etwa die Latinos in den USA für Propaganda gegen migrationsfreundliche Politik empfänglich gemacht hat.
Das Opportunitätsdenken widerspricht aber ebenso sehr dem Amerika der "possibilities", für das Kamala Harris wirbt. Möglichkeiten im possibilistischen Sinne müssen im Unterschied zu Gelegenheiten intentional verfolgt und programmatisch entfaltet werden, sie locken nicht als Gesetzeslücke im Steuerrecht oder Lockerung von Umweltauflagen. Sie müssen nicht selten gegen Widerstände wahrgenommen und erkämpft werden, demgegenüber man Gelegenheiten nur ergreift, indem man sich reaktiv dem Spiel von Angebot und Nachfrage auf dem Arbeitsmarkt anpasst. Hierbei geht es nicht darum, etwas "aus sich" zu machen, Potenziale zu realisieren, um die Zukunft gestaltungsoffen zu halten: Chancen (vom französisch cadence, dem Glücksfall beim Würfelspiel) muss man vor allem abwarten. Dabei fordert der Stand-by-Opportunismus eine energiezehrende Alarmbereitschaft, um die Gunst der Stunde nicht zu verpassen, die wiederum für das Experimentieren von Möglichkeiten weder Muße noch Aufmerksamkeit übrig lässt.
Natürlich sind Situationen denkbar, die diese Gegenüberstellung unterlaufen, in denen etwa Chancen in Möglichkeiten verwandelt werden; das aber setzt Rahmenbedingungen und Gesetze voraus, die die Republikaner seit je strikt ablehnen: Die gottgegeben willkürliche und ungerechte Verteilung der "opportunities" soll kein Staat paternalistisch ausgleichen.
Kamala Harris wiederum vermeidet den Superlativ "unbegrenzt", der notorisch den amerikanischen "possibilities" angehängt wird; sie weiß, dass diese Kombination spätestens seit Trump weltweit nur noch mit grenzenloser Habgier in Tateinheit mit präsidialem Hass und Manipulationswillen assoziiert wird. Sie möchte das Interim der Plutokratie wieder durch die traditionell elitenkonformere Meritokratie ablösen, doch deren gnadenloses, schon pädagogisch verankertes Leistungsdiktat (die "ambitionierten Träume" der Vize-Präsidentin) hat sich mentalitätspyschologisch als treibende Kraft der planetarisch ruinösen Wachstumsdynamik erwiesen und wird jeden Versuch einer ökologischen und sozialen Neuausrichtung der Politik vereiteln.
Vielleicht ist es von einem 77-Jährigen zuviel verlangt, im Namen von "possibilities" an etwas zu appellieren, das er lebensgeschichtlich hinter sich hat. Wie aber das "demokratische" Amerika der selbstwirksam zu realisierenden Möglichkeiten mit dem "republikanischen" Amerika der schicksalhaft angenommenen Chancen; wie eine Synergie von Possibilismus und Opportunismus jenseits aller manifest ideologischen Gräben das zerrissene "soziale Band" (Toqueville) der zwangsvereinigten Staaten wieder knüpfen soll, ist derzeit nicht auszudenken. Jedenfalls nicht ohne eine radikale Verfassungsreform, die Republikaner und gemäßigte Demokraten gemeinsam zu verhindern wissen werden. Darin immerhin sind sie sich einig.
Von 330 Millionen US-Amerikanern sind nur zwei Drittel als wahlberechtigt registriert, davon haben wiederum nur zwei Drittel ihre Stimme abgegeben. Von rund 110 Millionen potentiellen Wählern haben wir demnach nichts erfahren. Vielleicht sind sie, die es verschmäht haben, sich zur Verschiebemasse von Machtspielen instrumentalisieren zu lassen, der eigentliche Souverän?
Taz, 11.11.2020
Donnerstag, 19. November 2020
USA: Neue Politiker - neue Politik?
Abonnieren
Kommentare zum Post (Atom)
Keine Kommentare:
Kommentar veröffentlichen