Dienstag, 1. Oktober 2024

Rechte Allianz

Claus Leggewie: Von Visegrad nach Habsburg 2.0

Frankfurter Rundschau 30.9.2024

Mitten in Europa ist mit dem Erfolgen der FPÖ ein neutralistischer bis russophiler Staatenblock entstanden, der auch gegen Trump nichts einzuwenden hat.

Das im Februar 1991 geschlossene informelle Visegrad-Bündnis ist infolge des russischen Angriffs auf die Ukraine seit dem Februar 2022 erodiert, da Polen und Tschechien ihre autoritären Führungen abwählten und sich gegen Russland stellten. Nun zeichnet sich indessen eine neue Bündniskonstellation ab: Ungarns Premierminister Viktor Orbán formt eine offen russlandfreundliche und ausdrücklich illiberale Allianz gegen die supranationale Europäische Union. Kurz vor der Übernahme der ungarischen Ratspräsidentschaft, die unter dem Vorzeichen dieser souveränistischen Opposition steht, reiste Orbán Ende Juni nach Wien, um die Gründung der „Patrioten für Europa“ zu vereinbaren.

Diese dritte rechtsgerichtete Fraktion im EU-Parlament führen die Gewinner der Europawahl im Juni 2024: Fidesz hatte mit 44,82 Prozent der Stimmen den ersten Platz in Ungarn belegt, die FPÖ siegte unter der Führung Herbert Kickls knapp mit 25,36 Prozent und ANO, die Partei des tschechischen Unternehmers und Ex-Ministerpräsidenten Andrej Babiš, hatte mit 26,14 Prozent die Nase vorn. Orbán wehrte die Herausforderung durch die von dem ehemaligen Fidesz-Mitglied Péter Magyar geführte Tisza-Partei ab, die FPÖ etablierte sich bei den Nationalratswahlen im September 2024 als stärkste Kraft in Österreich und Babiš könnte nach dem Gewinn der Regionalwahlen bei den tschechischen Parlamentswahlen 2025 sein Comeback feiern. Aufnahmegespräche mit der AfD, der derzeit zweitstärksten Kraft in Deutschland, sind gescheitert, obwohl sie mit ihrer prorussischen, strikt gegen den Green Deal und den Migrationspakt der EU gerichteten Programmatik bestens in die nunmehr drittstärkste Fraktion im EU-Parlament hineingepasst hätte.

Die Dreierkonstellation zwischen Budapest, Wien und Prag ergänzt sich schon in Richtung Bratislava, seit die Slowakei mit der Rückeroberung der Macht durch Robert Ficos Partei Smer-SSP 2023 einen ebenso nationalistischen, EU-distanzierten und russlandfreundlichen Kurs eingeschlagen hat. Gemeinsam haben die Partner das Ziel, die Gewaltenteilung auszuhebeln und die Freiheit der Presse, Kunst und Wissenschaft einzuschränken; sie pflegen hochkorrupte Geschäftsbeziehungen und vertreten ausdrücklich oder versteckt antisemitische, homophobe und misogyne Einstellungen. Ausdrücklich wenden sie sich gegen Waffenlieferungen an die Ukraine und legen ihr einen Diktatfrieden des russischen Aggressors nahe, mit dem sie weiterhin Geschäftsbeziehungen aufrechterhalten haben.

Mitten in Europa ist ein neutralistischer bis russophiler Staatenblock entstanden, der die Europäische Union blockiert und im Blick auf die US-Wahlen im November gegen die Wiederwahl Donald Trumps nichts einzuwenden hätte.

Ein Blick auf historische Landkarten zeigt an, dass man es mit einer tektonischen Verschiebung auf dem Gebiet der ehemaligen Doppelmonarchie Österreich-Ungarn zu tun hat. Dazu gehörten nach dem Untergang des Heiligen Römischen Reiches Deutscher Nation und dem Scheitern „großdeutscher“ Nationsbildung bis 1918 Territorien im (damals staatlich inexistenten) Polen (Galizien), in der Ukraine (Bukowina) und im heutigen Rumänien (Sieben-bürgen), Serbien (Wojwodina), Kroatien, Slowenien und Italien.

K. und k. ist im Ersten Weltkrieg begraben worden und die Nationen entflohen dem „Völkergefängnis“. Doch scheint sich der zentrifugalen Dynamik heute eine weltanschauliche Konvergenz beizumischen, die auch in Serbien und dem serbischen Teil Bosniens auf Resonanz stößt.

Dabei wirken gegensätzliche Kräfte: Für Polen ist die von Wladimir Putin ausgehende Gefahr offenbar weit existenzieller als für Ungarn und die Slowakei, auch erweist sich die polnische, auf einer langen Freiheitstradition beruhende Demokratie resilienter.Die tschechischen und slowenischen Gesellschaften schwanken zwischen Nationalpopulismus und liberalem Pluralismus, Westorientierung und Russophilie. Unterschwellig wirkt im einstigen Habsburger Gebiet, das kulturellen Hochleistungen genau wie reaktionären Stumpfsinn kannte, beides fort: die Sehnsucht nach größtmöglicher national-kultureller Unabhängigkeit und die Unterwerfung ethnischer Gemeinschaften unter ein Imperium. Damit könnte sich „Visegrad“ in eine Art „Habsburg 2.0“ verwandeln. Die konservative ÖVP hat nie ausgeschlossen, erneut mit den Freiheitlichen zu koalieren, was sie in drei Bundesländern gerade praktiziert.

Dabei können auch globale Brandmauern bersten. Die Ironie besteht darin, dass die angesagte Kapitulation vor Russland in dem Bestreben erfolgt, sich der als „EUSSR“ (das soll heißen: krypto-kommunistisches Empire) denunzierten Europäischen Union zu entziehen, ohne freilich auf deren finanzielle Zuwendungen verzichten zu wollen. Mit der österreichisch-ungarischen Doppelansage hat sich die Herausforderung Putins weit nach Westen verschoben. Und die AfD bereitet das Terrain in Dunkeldeutschland.

Mittwoch, 25. September 2024

Rechtes Österreich

Sarah Schmalz und Daria Wild (Interview) und Florian Bachmann (Foto): Vor den Wahlen in Österreich:«Dann kommt etwas ins Rutschen» WOZ, Nr. 38 – 19. September 2024

Wird sich die Hochwasserkatastrophe auf die österreichischen Wahlen auswirken? Die renommierte Politologin Natascha Strobl über den Kulturkampf der extremen Rechten in ihrem Land – und in Europa.

«Manchmal traue ich mich kaum zu erzählen, worüber in Österreich gerade diskutiert wird. Weil es so absurd ist»: Natascha Strobl im Zürcher Hotel Marktgasse.

WOZ: Frau Strobl, Österreich wird von starken Unwettern heimgesucht, auch Niederösterreich, wo Sie leben. Wie geht es Ihnen gerade?

Natascha Strobl: Mein Mann war in den letzten Tagen beim Dammbauen, ich mit den Kindern daheim, die Schule ist ausgefallen. Die Lage entspannt sich nur langsam.

War die Katastrophe abzusehen?

Ja, aber der öffentliche Rundfunk hat sehr spät gewarnt. Unser bisheriges Frühwarnsystem wurde einfach abgeschaltet, obwohl das neue noch nicht richtig funktioniert. Politisch ist wirklich sehr viel schiefgelaufen. Gerade in Gebieten mit trockenen Böden wie Niederösterreich hat die schwarz-blaue ÖVP-FPÖ-Regierung alle Klimaschutzmassnahmen und den Hochwasserschutz vertagt. Jetzt häufen sich die Extremwetterereignisse. Doch der öffentliche Rundfunk strahlte zunächst tagelang Sendungen aus, in denen das Wort «Klimakrise» oder «Klimawandel» nicht ein einziges Mal fiel.

Wie wird das Ereignis gedeutet?

Es wird so getan, als hätte Gott eine Strafe geschickt. Das ist empörend – und sehr österreichisch. Die Parteien, die die Klimakrise die ganze Zeit leugnen, sagen jetzt, man dürfe dieses Ereignis nicht politisieren. Dabei wird jede Messerstecherei, jeder Raufhandel politisiert – so weit, dass man Menschenrechte ausser Kraft setzen will. Jetzt, wo Millionen von Menschen betroffen sind, sagt man: Das ist halt so passiert. Das zeigt die Strategie der Rechten: Man führt rasende Kulturkämpfe, und wenn andere über Politik sprechen wollen, ist man das Opfer.

Ende September wird in Österreich gewählt. Werden die Hochwasser einen Einfluss auf die Wahlen haben?

Das kann man gerade nicht öffentlich diskutieren, der unmittelbare Einsatz hat Priorität. Ob die Katastrophe der derzeit in Umfragen vorne liegenden FPÖ schaden wird, ist schwierig abzuschätzen. Die ÖVP positioniert ihren Bundeskanzler Karl Nehammer als super Krisenmanager, der er aber nicht ist. Die Grünen haben die authentischste Position, die warnen seit zwanzig Jahren vor so einem Ereignis. Und SPÖ-Chef Andreas Babler ist mit der Freiwilligen Feuerwehr im Einsatz, das ist natürlich auch authentisch.

Sie haben gesagt, es sei «sehr österreichisch», was gerade passiere. Können Sie uns bitte in aller Kürze Österreich erklären?

(Lacht.) Wo fängt man nur an? Österreich ist ein sehr gemütliches Land. Politisch prägten es lange die grossen Volksparteien, die ÖVP und die SPÖ. Aber seit ungefähr zehn Jahren ist nichts mehr so, wie es einmal war. Heute ist Österreich bei zwei Dingen ganz vorne mit dabei: bei der klassischen Musik und beim Rechtsextremismus. Das eine ist ein bisschen schöner als das andere.

Was begann sich vor zehn Jahren zu verschieben?

Strobl: Um das Jahr 2016 herum ist der ÖVP-Politiker Sebastian Kurz auf der Bildfläche erschienen, das war eine Zäsur. Plötzlich war es die grosse Volkspartei ÖVP, die so gesprochen hat wie bis dahin nur die kleine, rechtsextreme FPÖ. Das hat das ganze politische Spektrum nach rechts verschoben. Wenn man heute verstehen will, wie rechtsextreme Parteien mehrheitsfähig werden, kann man nach Österreich schauen oder in Richtung Ungarn, da sind sich diese Länder sehr ähnlich.

2017 bildeten ÖVP und FPÖ eine Regierungskoalition, die ÖVP brach aber nach dem «Ibiza-Skandal» mit der FPÖ. Ein Video wurde publik, das unter anderem FPÖ-Chef Heinz-Christian Strache mit der angeblichen Nichte eines russischen Oligarchen zeigte. Darin sprachen sie davon, Gesetze zur Parteienfinanzierung umgehen oder die Kontrolle parteiunabhängiger Medien übernehmen zu wollen. Wenig später stolperte auch Kurz über Korruptionsskandale. Wie ist es möglich, dass die extreme Rechte heute dennoch stärkste Kraft werden könnte?

Strobl: Die FPÖ hat sich innerhalb weniger Jahre wieder aufgerichtet. Das hat viel mit dem neuen Parteichef Herbert Kickl zu tun. Er ist diszipliniert, nicht so ein Lebemann, der über Skandale aus der halbprivaten Sphäre stolpert wie Strache. Und die Coronaproteste haben eine sehr grosse Rolle gespielt. Die FPÖ hatte als erste Partei Tests und Lockdowns gefordert, aber dann schnell realisiert, dass es ihr nützt, wenn sie auf den Zug der Coronaproteste aufspringt und Verschwörungstheorien nährt.

Der aktuelle Wahlkampfslogan der FPÖ lautet «Festung Österreich, Festung der Freiheit». Mit was für einer FPÖ haben wir es heute zu tun?

Strobl: Du musst dich einbunkern, damit du frei bist: Das trifft gut, wo die extreme Rechte hinwill. Und natürlich sind es militärische Begriffe, was suggeriert, wir seien im Krieg: «Wir oder die». Die FPÖ hatte schon immer einen rechtsextremen Kern, aber während Strache noch versuchte, das zu verharmlosen, macht das Kickl nicht mehr. Auf FPÖ-Demonstrationen laufen Leute mit Galgen herum. Kickl prahlt auf Wahlveranstaltungen mit Fahndungslisten, auf denen 2000 Namen stünden – Menschen, die dann schon sähen, was passiere, wenn die FPÖ an der Macht sei. Wir haben es aber auch mit einer Partei zu tun, die sich modernisiert hat: Man macht nicht mehr den traditionellen, verstaubten Rechtsextremismus in Tiroler Tracht.

Für Ihr neues Buchprojekt beschäftigen Sie sich mit der Strategie des Kulturkampfs, derer sich die Rechte bedient. Inwiefern ist Österreich ein Beispiel dafür?

Ich traue mich manchmal kaum zu erzählen, worüber in Österreich gerade diskutiert wird, weil es so absurd ist. Gerade empört man sich darüber, dass die Stadt Wien den Kindergärten verbiete, Symbole über die Garderobenhaken der Kinder zu kleben. Diese Story wurde von der «Kronen Zeitung» in die Welt gesetzt und stimmt so nicht. Doch sie wird gerne geglaubt, weil in Wien viele Ausländer:innen leben. Suggeriert wird, dass Muslim:innen hinter dem imaginierten Verbot stecken müssten. Oder irgendwelche «woken» Motive. Diesen Sommer haben wir auch darüber diskutiert, ob Weinköniginnen wirklich alles «echte» Frauen seien. Wenn ichs auf eine Formel runterbrechen müsste: Kulturkampf ist die Emotionalisierung der Anekdote.

Die dritte Folge des «What's left?»-Podcast über Sozialismus mit Jabari Brisport anhören

Was ist die Funktion dieser Anekdoten?

Strobl: Es gibt so viele reale Probleme: Klimawandel, Inflation, Kinderarmut, steigende Energiepreise, Arbeitslosigkeit, Fachkräftemangel. Aber das Geschlecht der Weinköniginnen und die Garderobenbildchen überlagern alles. Das bindet Energie, es bindet Aufmerksamkeit. Und dann gibt es immer diesen Feind, der nie sichtbar ist, aber das alles orchestriert, diese vielen kleinen Dinge, die angeblich zusammenhängen: die «Woken» oder die «Globalisten» – ein antisemitisches Codewort – oder ein Konglomerat an Verschwörern. Und, das ist das Wichtigste: Die Kulturkämpfe bewirken, dass sich jene, die glauben, was da erzählt wird, unterdrückt fühlen und Gewalt als legitimes Mittel der Notwehr ansehen. Wenn man diesen Sprung gemacht hat, wird alles zu einer «Wir oder die»-Frage.

Haben wir es mit einer eigentlichen Entpolitisierung des öffentlichen Raumes zu tun?

Ich würde eher sagen, es ist ein politischer Nihilismus. Man weiss überhaupt nicht mehr, was real ist, was wichtig ist, was Priorität hat. Es reicht ja schon, wenn diese Anekdoten wahr sein könnten. Dieses Leben im Konjunktiv verschiebt die Realität. Man muss auch bedenken: Die Medien spielen in Österreich eine sehr grosse Rolle. Die grösste Boulevardzeitung des Landes ist im Verhältnis mächtiger und auflagenstärker als die «Bild»-Zeitung in Deutschland. Sehr viele Medienprojekte wurden über die boulevardfreundliche Medienförderung, die von 2017 bis 2019 unter Schwarz-Blau erlassen wurde, nach oben gespült. Die haben Millionen von Euro bekommen dafür, dass sie jetzt – wie etwa die Plattform «Express» – diese Kulturkampfthemen bespielen.

Viele FPÖ-Wähler:innen informieren sich gemäss Umfragen «alternativ», also auf verschwörungsaffinen Internetportalen 

Strobl: Der rechtsextreme, verschwörungsideologische Sender «Auf1» spielt hier eine sehr grosse Rolle. Mit dieser Art von Nachrichten wird der ganze deutschsprachige Raum bespielt – mit der Folge, dass sich die extreme Rechte den digitalen Raum nimmt und ihre Narrative hegemonial werden.

Eine Plakataktion in Graz zeigte Kickl mit NS-Symbolik und Nehammer mit Engelbert Dollfuss, dem Begründer des Austrofaschismus 

Strobl: Man sollte Faschismus und Rechtsextremismus nicht synonym verwenden. Ich bin jedoch dafür, sehr besonnen, aber ernst die Faschismusfrage zu diskutieren. Denn wir wissen aus der Geschichte, dass es nicht so viele Möglichkeiten gibt, den Faschismus aufzuhalten, wenn einmal erste Schwellen überschritten sind. Was wir derzeit sehen, ist, dass faschistische Diskurse stark Verbreitung finden – nicht nur durch Hardcorefaschisten. Es gibt heute zudem verschiedene Fraktionen mit faschistischen Tendenzen, die ein Bündnis bilden, weil sie so ihre Interessen am besten durchsetzen können – das war auch im historischen Faschismus so.

Was für Fraktionen meinen Sie?

Strobl: Wir haben die Kulturkampfrechte, die Kapitalfraktionen, es gibt den genuinen Techfaschismus im Silicon Valley, es gibt bestimmte Antworten auf die Klimakrise, die sich in ein faschistisches Projekt einfügen lassen. Wladimir Putin führt einen faschistischen Krieg, Viktor Orbán träumt von einem Grossungarn. Wir haben Faschismus ganz lange als Ultranationalismus gesehen, als ein nationales Projekt. Vielleicht ist das nicht mehr zeitgemäss, vielleicht müssten wir ihn mehr als übernationales Machtprojekt begreifen. Vielleicht gab es im 20. Jahrhundert nichts Grösseres als die Nation, aber jetzt gibt es das Internet. Wenn man den digitalen Raum beherrscht, hat man ziemlich viel gewonnen. Es ist natürlich die Frage, wie sich das in den analogen Raum übersetzt, ob dieser Faschismus in eine organisierte Form übergeht. Aber ich plädiere dafür, die sozialen Medien als Realität zu sehen. Das sind digitale Schlägertrupps, die dort auf Leute losgehen.

Wie definieren Sie Faschismus?

Strobl: Wenn wir uns diese Mobs im Internet anschauen, die einfach nur Blut sehen wollen, sind wir, glaube ich – mit Hannah Arendts Definition von Faschismus als Bündnis von Mob und Elite – sehr nahe bei dem, was uns auch gegenwärtig präsentiert wird. Mit Robert Paxton gesprochen, ist Faschismus zudem die einzige politische Ideologie, die Gewalt nicht rationalisieren muss, sondern die Gewalt ohne Grenzen, ohne moralische, juristische, politische Grenzen, kennt.

Sie haben erwähnt, dass sich faschistische Diskurse stark verbreiten. Welche meinen Sie?

Strobl: Faschistische Diskurse zeichnen sich dadurch aus, dass sie von einer Dekadenzdiagnose ausgehen: Alles ist in einem Niedergang, den man durch einen gewaltvollen Akt nach vorne überwinden muss. Etwas muss gereinigt werden, etwas muss vernichtet werden, dann kann es wieder gut sein. Da steckt ein starker Sozialdarwinismus drin, der schon immer Kern des Faschismus war. Wir haben solche Diskurse während der Pandemie gesehen. Lohnt es sich wirklich, auf die Alten und Kranken und Menschen mit Behinderung Rücksicht zu nehmen, oder sollen die nicht lieber sterben? Dass Ausländer unsere Haustiere essen, das hat nicht Donald Trump erfunden, diese Erzählung hatten wir eins zu eins im 19. Jahrhundert. In der Asyldebatte haben wir diese Diskurse die ganze Zeit. Und ich gehe davon aus, dass die Rechten auch bei der Klimafrage immer stärker auf solche Diskurse setzen werden.

Können Sie das etwas ausführen?

Nehmen wir etwa die Zehn-Millionen-Schweiz-Initiative der SVP. Die behauptet ja, wir müssten eine Abwägung treffen zwischen Umwelt und Menschen, die Überbevölkerung sei schuld an der Klimakrise. Das Zweite, was sie damit sagt, ist: Zu viel sind die, die herkommen. Es sind in dieser Erzählung die Menschen aus dem Globalen Süden, die das Klima kaputt machen. Wenn man das weiterspielt, heisst das: Die müssen vielleicht sogar im Mittelmeer ertrinken, damit das Klima gerettet wird. Das wird so natürlich nicht ausgesprochen, aber es ist die Idee dahinter. Erst setzt man die Bevölkerungszahl der Schweiz fest, dann die von Europa, dann die der Welt. Diese Idee ist eine faschistische, und ich glaube, die extreme Rechte wird künftig so mit der Klimadiskussion umgehen. Sie wird den Klimawandel ja nicht länger leugnen können, wenn er so evident ist. Und das Problem ist natürlich, wenn eine Gesellschaft das einmal akzeptiert, Menschen so zu sehen, wie die extreme Rechte sie sieht, dann kommt etwas ins Rutschen.

Gleichzeitig gibt es ja auch eine grosse Bewegung, die sich eine solidarischere Zukunft vorstellt. Wo stehen wir also?

Es ist alles offen. Und das liegt uns natürlich nicht. Wir hätten als Gesellschaft gerne, dass wir wissen, wie es weitergeht. Aber diese Zukunft ist verschwunden. Nun kann es furchtbar werden. Aber es kann auch gut werden, noch demokratischer, noch inklusiver. Um diesen Zukunftsentwurf muss man aber auch kämpfen.

Die konservativen und die liberalen Kräfte sind in vielen Ländern nach rechts gerückt. Und wenn man sich die parlamentarische Linke anschaut, ist auch nicht gerade Optimismus angezeigt. In Deutschland etwa steht auch die Sozialdemokratie nicht mehr für eine pluralistische Gesellschaft ein.

Strobl: Die SPD macht gerade alle typischen Fehler der Sozialdemokratie – aber zehn Jahre später als in anderen Ländern. Es ist unschön, was in Österreich passiert, aber Deutschland ist entscheidender. Deutschland war lange stabil. Wenn es kippt und einen rechtsextremen Weg geht, dann kippt Europa. Es ist ein fataler Fehler, der AfD so unverschämt recht zu geben. Zu sagen: Jetzt machen wir das auch, aber wir machen es ein bisschen schöner. Das darf nicht die Botschaft sein. Man müsste sagen: Die AfD hat einfach unrecht. Nicht nur auf der Werteebene, sondern auch sachlich. Grenzkontrollen helfen nichts gegen Gewalttaten.

Wenn wir nochmals auf Österreich zu sprechen kommen: Herbert Kickl inszeniert sich als «Volkskanzler». Was sagt das über die Vergangenheitsbewältigung Österreichs, wenn er Kanzler wird?

Strobl: Kickl war schon mal Innenminister. Und als solcher hat er mit einer Polizeieinheit zur Bekämpfung der Strassenkriminalität die Büros des Verfassungsschutzes durchsuchen lassen. Die haben Daten und Akten mitgenommen, die für immer verschwunden sind. Das hat das Vertrauen anderer Geheimdienste in den österreichischen erschüttert. Bis heute: Auch die Informationen zum geplanten Anschlag auf das Taylor-Swift-Konzert in Wien gingen nicht über den österreichischen Geheimdienst, sondern über den militärischen Abwehrdienst. Das muss man über Kickl als Politiker wissen. Es ist völlig klar, was man mit ihm bekommt. Der wird seine Politik durchziehen. Konventionen, Gesetze – das spielt dann keine Rolle mehr. Wenn die FPÖ an die Macht kommt, hat sie Zugriff auf die Medien, den Kulturbereich, den Sozialstaat, die Schulen, die Staatsanwaltschaften. Und es wird keinen Klimaschutz geben.

Kickl kann allerdings nur Kanzler werden, wenn die ÖVP es zulässt.

ÖVP-Chef Nehammer behauptet, es gebe keine Regierung mit Kickl. Aber das Vertrauen in die ÖVP ist aufgebraucht. Sie hat schon in mehreren Bundesländern versprochen, nicht mit der FPÖ im Landtag zusammenzugehen – und es dann doch getan.

Eine Brandmauer hat es in Österreich ohnehin nie gegeben.

Es gibt nicht mal ein Löschblatt. Aber wenn die ÖVP tatsächlich mit Kickl einen rechtsextremen Kanzler zulässt, ist das die grösste Zäsur, die man sich vorstellen kann.


Donnerstag, 19. September 2024

Gender, Sex und anderes was Unruhe verursacht

 Adrian Daub: Judith Butler:Hat hier jemand «Gender» gesagt?

in: WOZ Nr. 25; 20. Juni 2024
https://www.woz.ch/2425/judith-butler/hat-hier-jemand-gender-gesagt/!V05FMXWVZT4A

In ihrem neuen Buch zeichnet die Philosophin Judith Butler nach, wie die Gendertheorie zum Hassobjekt nicht nur von Rechten werden konnte – und was das mit dem neuen Autoritarismus zu tun hat.

Judith Butler darf von sich behaupten, das heutige Verständnis von Geschlecht und Identität stark beeinflusst zu haben. Inwiefern aber ihr Werk schlicht von Kritiker:innen benutzt wird, um ebendieses Verständnis zum Problem zu erklären, ist eine offene Frage. Und diese Frage steht hinter Butlers neuem, bislang erst auf Englisch erschienenen Buch, «Who’s Afraid of Gender?». Es ist das erste von ihr, das in einem grossen Publikumsverlag erschienen ist und sich explizit an eine breitere Öffentlichkeit wendet.

Der Schlüssel zu «Who’s Afraid of Gender?» kommt sehr spät, auf Seite 289. In den Danksagungen erzählt Butler, wie sie und ihre Partnerin 2017 im Flughafen in São Paulo von einem rechten Mob angegriffen wurden. «Mein erster Dank», so beginnt sie, «geht an den jungen Mann mit dem Rucksack, der sich zwischen uns und einen Angreifer warf und der die Prügel abbekam, die mir galten. Ich wünschte, ich würde seinen Namen kennen.»

So erschreckend der Zwischenfall für Butler gewesen sein muss, man versteht, wieso er sie auch zum Nachdenken inspiriert hat: Wie kommt es, dass eine Theoretikerin, die 1990 ein Buch bei einem Wissenschaftsverlag veröffentlicht, 27 Jahre später von einem Mob durch einen Flughafen gejagt wird? In «Who’s Afraid of Gender?» sucht Butler nach den Bedingungen, die diese Entwicklung ermöglicht haben. «Indem ich versuchte zu reflektieren, wer diese erzürnten Menschen waren, die uns eines chaotischen und reisserischen Bündels an Sexualverbrechen bezichtigten, beschloss ich, über die Bewegung der Anti-Gender-Ideologie zu schreiben.»

Jahrzehntelanger Feldzug
«Who’s Afraid of Gender?» zeichnet die Geschichte dieser Ideologie nach – was gar nicht so einfach ist, gerade für jemanden wie Butler. Denn es gibt beide jeweils mehrfach: den Genderbegriff und Judith Butler. Einmal gibt es die Philosophin und ihr Werk, sechzehn Bücher allein mit ihr als einziger Autorin. Und dann gibt es die propagandistische Schreckgestalt, die die Angreifer in São Paolo zu stellen versuchten – und als Puppe verbrannten. Es gibt «Gender» als Begriff, «Gender» als Forschungsgegenstand, und dann gibt es die Karikatur von «Gendergaga», «Genderideologie» und so weiter, gegen die rechte Politiker:innen, die katholische Kirche und «genderkritische» Feminist:innen seit Jahrzehnten einen Feldzug führen.

Von all diesen Versionen handelt Butlers neues Buch. Es ist eben auch die Summa einer Karriere, die – gerade in Fragen von Gender – zu einem Grossteil aus dem Korrigieren oft böswilliger Missverständnisse bestand. Aber vor allem geht es dem Buch um die Substanz und ideologischen Quellen dieser Missverständnisse.

Um das ein wenig auseinanderzudividieren: «Gender» als Begriff kam im feministischen Aktivismus und in der feministischen Forschung im Laufe der 1970er Jahre auf, doch die Ursprünge des Begriffs gehen noch viel weiter zurück. So hat die Historikerin Susan Stryker im Englischen eine Verwendung von «Gender» als gesellschaftlicher Rollenzuschreibung aufgrund des Geschlechts bereits im 19. Jahrhundert nachgewiesen. Und auch der berühmte Satz von Simone de Beauvoir, man werde nicht als Frau geboren, sondern zu einer solchen gemacht, greift dieser theoretischen Intervention schon voraus.

Sosehr man, gerade im deutschsprachigen Raum, Butler mit dem Begriff assoziiert: Nur ein Bruchteil dessen, was «Gender» heisst, kommt in der Tat von Judith Butler. «Genderstudien» sind erst einmal nichts weiter als die Anerkennung der Tatsache, dass man nicht unhinterfragt mit den Kategorien «Mann» und «Frau» operieren sollte – oder dass man die Welt besser analysiert, wenn man es nicht tut. Auch hier hakt Butler in ihrem Buch nach: Wie kam es zu dieser Verknappung, dieser Zuspitzung des Begriffs? Wieso bezeichnen angeblich intellektuell ambitionierte Medien auch in Deutschland den Forschungsbereich Gender Studies als «unwissenschaftlich», «quasireligiös» oder «sektenhaft», als «Neognostik»?

Die zweite Folge des «What's left?»-Podcast über die US-Wirtschaft mit Adam Tooze anhören
Butlers Beitrag zu diesem Bereich, vor allem in ihrem epochalen Buch «Gender Trouble» (1990, deutsch: «Das Unbehagen der Geschlechter»), bestand nicht etwa darin, dass sie den Genderbegriff etabliert hätte, sondern dass sie dessen englischen Gegenbegriff dekonstruierte: «Sex» als biologisches Geschlecht. Anstatt von einem natürlichen Geschlecht auszugehen, das dann in die soziale Konstruktion von Gender mündet, schlug Butler damals vor, das angeblich natürliche Geschlecht als Rückprojektion von Gender zu verstehen. Die behauptete Natürlichkeit des biologischen Geschlechts sei ein Versuch, die Instabilität gesellschaftlich konstruierter Genderkategorien künstlich zu stabilisieren.

#FreeSpeechBus – bizarre Kampagne
In diesem Kontext fällt dann auch das Stichwort «Performativität», das seit 1990 reihenweise Missverständnisse hervorgerufen hat. Dabei meint der Begriff zunächst einmal nicht viel mehr, als dass Gender eben kein Ausdruck einer bereits feststehenden Identität ist, sondern in einem gesellschaftlichen Prozess immer wieder produziert wird. Die Idee ­einer Geschlechtsidentität hat keine Substanz; vielmehr wird durch Wiederholung der Anschein einer Substanz erzeugt. Wie Butler in «Who’s Afraid of Gender?» schreibt, sei auch die Geschlechtszuordnung bei der Geburt «nicht einfach eine Bekanntgabe des Geschlechts» oder eine «Feststellung anatomischer Tatsachen». Denn mit der Geschlechtszuordnung äussere sich auch «eine Reihe von Wünschen und Erwartungen vonseiten der Erwachsenen».

Es ist klar, warum das vielen Verfechter:innen von traditionellen, vermeintlich «natürlichen» Geschlechterrollen ein Dorn im Auge ist. Deren Kritik bezog sich allerdings von Anfang an auf Dinge, die Butler nie behauptet hatte. Erinnert sei hier an den #FreeSpeechBus, der 2017 durch Frankreich kurvte, um Angst vor der «Gendertheorie» zu schüren, die angeblich in französischen Klassenzimmern den Kindern aufgezwungen wurde. Auf dem Bus prangte das Bild eines bizarren Frankenstein-Kindes, das halbseitig stereotyp als Junge dargestellt war, zur anderen Hälfte als Mädchen, und dem ein Aufziehmechanismus aus dem Kopf wuchs. «Meine Identität ist kein Spiel», stand über dem Kind, nach dem sich zu allem Überfluss auch noch eine gruselige Erwachsenenhand ausstreckte. «Die Schule sagt unseren Kindern: Junge oder Mädchen, das kann man auswählen. Finden Sie das normal?»

An einem bizarren Artefakt wie dem #FreeSpeechBus erkennt man gut, dass Butlers Theorien mitdenken muss, wer Anti-Gender-Bewegungen erklären will. Denn wenn die Dekorateur:innen des Busses von Gender als einem «Spiel», einem «Auswählen» fabulieren, beziehen sie sich eindeutig auf eine gängige Fehlinterpretation von Butlers Konzept von Performativität. Der Slogan, der auf dem Bus prangte, erklärte einigermassen kryptisch: «Die Geschlechtertheorie existiert nicht, und doch kehrt sie zurück.» Die gespenstische Wiederkehr von etwas, was gar nicht existiert? Der #FreeSpeechBus bestätigt hier unfreiwillig Butlers These von Gender als Phantasma, als Angstbild.

Nach dem «Unbehagen der Geschlechter», ihrem zweiten Buch, bestand Butlers Karriere vor allem darin, diese Position zu verteidigen und zu erklären – von «Bodies That Matter» (1993, «Körper von Gewicht») bis hin zu «Undoing Gender» (2004, «Die Macht der Geschlechternormen und die Grenzen des Menschlichen»). Ab den nuller Jahren kam ein anderer Themenkomplex hinzu: der Krieg gegen den Terror, etwa in den Büchern «Precarious Life» (2004) und «Frames of War» (2009), und eine Kritik des Zionismus im Buch «Parting Ways. Jewishness and the Critique of Zionism» (2012). Es ist dieser Themenkomplex, der Butler in den letzten zehn Jahren im deutschen Sprachraum einen besonders negativen Leumund eingebracht hat.

Breiter Angriff auf den Feminismus
Sosehr die Frage von Butlers Vermächtnis auch über ihrem neusten Buch schwebt: Was «Who’s Afraid of Gender?» eigentlich leistet, ist eine Rekonstruktion jener reaktionären Bewegung, die sich seit ungefähr der Jahrtausendwende um die Gegnerschaft zum Wort «Gender» schart – wozu der #FreeSpeechBus genauso gehört wie die kruden Thesen einer J. K. Rowling oder die antisemitischen Verschwörungstheorien eines Viktor Orbán. Butlers auf den ersten Blick frappierendes Fazit: Die Anti-Gender-Bewegung ist eigentlich kein blosser Backlash gegen Queer Theory oder gegen die stärkere Sichtbarkeit von trans Personen. Eigentlich ziele die Bewegung auf den Feminismus ab, und zwar nicht auf den queeren, postmodernen, intersektionalen, sondern auf die alte, angeblich so fest etablierte zweite Welle. «In vielen Ländern», so Butler, «ist der Angriff auf Gender genauso ein Angriff auf den Feminismus, insbesondere auf die reproduktive Freiheit, wie auf die Rechte von trans Personen, die Homoehe und die Sexualerziehung.»

Die Anfänge der Anti-Gender-Bewegung macht Butler in Lateinamerika fest, insbesondere unter erzkonservativen Katholiken. Angesichts der Homoehe begann das Angstwort «Gender» dann, Bewegungen zu bündeln, die eigentlich gerade ein Debakel nach dem anderen erlebten: etwa die katholische Rechte in Europa, die gegen die Homoehe in Frankreich Sturm lief, oder auch evangelikale US-Kirchen, die sich nach dem verlorenen Kampf gegen die Ehe für alle darauf verlegten, LGBTIQ+-Rechte in Afrika und Südamerika zu bekämpfen. Die Stichwortgeber der Anti-Gender-Bewegung ortet Butler im polnischen Ordo-Iuris-Institut oder im Umfeld des Mathias-Corvinus-Collegiums in Budapest, weswegen für ein europäisches Publikum vergleichsweise viele alte Bekannte im Buch vorkommen: Papst Benedikt XVI., Marine Le Pen, die Fidesz-Partei von Viktor Orbán in Ungarn, die neofaschistischen Fratelli d’Italia, aber auch Wladimir Putin und die AfD.

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Gerade in der westlichen Welt hat der durchschlagende Erfolg von «Gender» als Phantasma auch damit zu tun, dass sich längst nicht mehr nur stramm Rechte und/oder Religiöse davon aktivieren lassen. Denn je widersprüchlicher diese Bewegung sei, so Butler, als desto effektiver habe sie sich erwiesen. Als der Supreme Court in den USA im Juni 2022 das seit 1973 geltende bundesweite Recht auf Abtreibung abschaffte, hatte eine ihrem Selbstverständnis nach feministische Kolumnistin der «New York Times» danach nichts Besseres zu tun, als sich darüber zu beschweren, dass eine gemeinnützige Organisation für Abtreibungsrechte in einer Pressemitteilung das Wort «Frauen» nicht verwendet und eine andere schon mal von «gebärenden Personen» statt von «Frauen» gesprochen habe. Die Artikel derselben Kolumnistin zu trans Personen schmücken heute die gerichtlichen Anträge der Alliance Defending Freedom, einer christlich-konservativen Organisation, die weltweit gegen LGBTIQ+- und Frauenrechte kämpft.

«Gender» macht als Hassobjekt auch diese Art Schulterschlüsse möglich, ohne die die Rückschritte für Frauen und sexuelle Minderheiten, die sich in den letzten Jahren gerade in der US-Politik häufen, kaum möglich oder mehrheitsfähig wären. Ohne die transfeindlichen Äusserungen von öffentlichen Intellektuellen wie J. K. Rowling oder der britischen Philosophin Kathleen Stock wäre dieser rechte Rollback sehr viel klarer als solcher sichtbar.

Im Grunde genommen sind es zwei miteinander wetteifernde Formen der Globalisierung, die Butler in ihrer Erzählung gegenüberstellt. Einerseits hatte das Genderparadigma in seinen verschiedenen Formen in der Tat grossen Einfluss. Aber den weitaus grösseren internationalen Erfolg konnte der stark globalisierte Anti-Gender-Diskurs verbuchen: von afrikanischen Staaten mit starkem evangelikalem Einfluss über illiberale Demokratien in Osteuropa bis zu Donald Trump und Russland unter Putin.

Global betrachtet, hat Butlers Beschreibung natürlich ihre Grenzen, denn es gibt Länder, in denen LGBTIQ+-Personen noch einmal stärker bedroht sind als in Orbáns Ungarn. Doch die Unterdrückung der Frauen etwa im Iran hat mit Sorgen über eine angebliche «Genderideologie» eher wenig zu tun. Der Anti-Gender-Diskurs ist ein Zurückdrängungsdiskurs, er geht, etwa in den USA, mit dem Verbot der Abtreibung einher oder will trans Personen aus dem öffentlichen Raum verdrängen. Er arbeitet sich an feministischen und queeren Fortschritten ab, will diese zurückdrehen.

Butlers Argument ist, dass Gender Studies und der Anti-Gender-Diskurs eigentlich nur relativ mittelbar miteinander verknüpft sind – Gemecker über Gender gab es schon vor «Das Unbehagen der Geschlechter» oder bevor man genderte. Denn es geht den Feind:innen von Gender um sehr viel mehr als um Doppelpunkte oder Pronomina. Es geht um den Feminismus, um Homophobie, um sämtliche Freiheitsansprüche jenseits des Patriarchats. Das bekam Butler in São Paulo zu spüren, aber das bekommen LGBTIQ+-Personen überall zu spüren.

Auch Butler kann Common Sense
Womit wir wieder auf Seite 289 wären, in São Paulo, wo 2017 eine Judith-Butler-Puppe unter «Hexe!»-Rufen verbrannt wird. Warum liefert ein Buch, zumal das Buch einer an Freud geschulten Denkerin wie Butler, seine Urszene erst auf Seite 289? Das hat System, denn Butler selber ist im eigenen Buch einigermassen dezentriert. Ihre Erfahrungen, Theorien, Freund- und Feindschaften fliessen klar in die Analyse ein. Aber eigentlich fällt hier eher ihre Zurückhaltung auf. Das Spielerische an Butlers Stil, die Lust an verschachtelten Konstruktionen und am Wortspiel, ist hier kaum zu finden. Das Buch liest sich gut, die notorisch verworrene Prosa ist hier weitgehend geglättet.

Der Grund dafür liegt auf der Hand: Butler ist sich nach mehr als dreissig Jahren nur zu bewusst, in welche Fallen sie tappen kann, wenn sie zu theoretisch auftritt, ja dass das Wort «Theorie» selber immer stärker unter Beschuss gerät. Und sie weiss auch, dass die Menschen, die sie in diesem Buch kritisiert, sich gewohnheitsmässig auf den Common Sense berufen und die unmittelbare Plausibilität der eigenen Positionen betonen. Anti-Gender-Positionen haben, so Butler, einen «Ton der Vernünftigkeit», selbst wenn sie in Wahrheit pure Ideologie sind. Und in dieser Pose des «gesunden Menschenverstands» treffen sich hart rechte Kräfte mit solchen, die sich eigentlich für liberal oder gar links halten. Ihre Allianz aufzuweichen, scheint das heimliche Ziel von Butlers Buch zu sein. Sie übt sich dabei selber in einem Ton der Vernünftigkeit, der Geduld.

Wer eine Ideologie kritisiert, die ihre eigene ideologische Prägung nicht anerkennt, muss einen betont unideologischen Stil bemühen, auch wenn er oder sie an einen unideologischen Stil nicht glaubt. Und das ist das Hauptprojekt dieses Buches: Es geht um einen reaktionären Diskurs, der mit dem Nimbus einer Wissenschaftlichkeit spricht; und um eine Panik, die nicht reflektiert, wie stark sie von Affekten geleitet ist. Es ist nicht schwer zu verstehen, warum Butler in der Anti-Gender-Bewegung einen Hauptkanal sieht, über den der neue Autoritarismus seinen Weg in die vermeintlich liberale Öffentlichkeit findet. Genderkritiker:innen reden ständig von Propaganda, Diktatur und Indoktrination – dem also, was sie selber nicht ganz so heimlich befürworten.

Judith Butler: «Who’s Afraid of Gender?». Farrar, Straus & Giroux. New York 2024. 320 Seiten. 40 Franken.



Dienstag, 30. Juli 2024

Weltenbrand?

Jürgen Habermas 

Krieg und Empörung. Schriller Ton, moralische Erpressung: Zum Meinungskampf zwischen ehemaligen Pazifisten, einer schockierten Öffentlichkeit und einem abwägenden Bundeskanzler nach dem Überfall auf die Ukraine.

Süddeutsche Zeitung (SZ) vom 28. April 2022

77 Jahre nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs und 33 Jahre nach Beendigung eines nur im Gleichgewicht des Schreckens bewahrten, wenn auch bedrohten Friedens sind die aufwühlenden Bilder eines Krieges zurückgekehrt – vor unserer Tür und von Russland willkürlich entfesselt. Wie nie zuvor beherrscht die mediale Präsenz dieses Kriegsgeschehens unseren Alltag. Ein ukrainischer Präsident, der sich mit der Macht der Bilder auskennt, sorgt für eindrucksvolle Botschaften. Die täglich neuen Szenen von roher Zerstörung und aufrüttelndem Leiden finden in den sozialen Medien des Westens ein selbstverstärkendes Echo. Das Neue an der Veröffentlichung und kalkulierten Öffentlichkeitswirksamkeit eines unberechenbaren Kriegsgeschehens mag uns Ältere dabei mehr beeindrucken als die mediengewohnten Jüngeren.

Aber gekonnte Inszenierung hin oder her – es sind Tatsachen, die an unseren Nerven zerren und zu deren schockierender Wirkung das Bewusstsein von der territorialen Nähe dieses Krieges beiträgt. So wächst unter den Zuschauern im Westen die Beunruhigung mit jedem Toten, die Erschütterung mit jedem Ermordeten, die Empörung mit jedem Kriegsverbrechen – und der Wunsch, auch etwas dagegen zu tun. Der rationale Hintergrund, vor dem diese Emotionen landesweit aufwallen, ist die selbstverständliche Parteinahme gegen Putin und eine russische Regierung, die einen massiven völkerrechtswidrigen Angriffskrieg vom Zaune gebrochen haben und die mit ihrer systematisch menschenverachtenden Kriegführung gegen das humanitäre Völkerrecht verstoßen. Selbstgewissheit und Aggression der Ankläger gegen Olaf Scholz sind irritierend. Trotz dieser einhelligen Parteinahme bahnt sich unter den Regierungen des westlichen Staatenbündnisses ein differenziertes Vorgehen an; und in Deutschland ist ein schriller, von Pressestimmen geschürter Meinungskampf über Art und Ausmaß der militärischen Hilfe für die bedrängte Ukraine ausgebrochen. Die Forderungen der unschuldig bedrängten Ukraine, die die politischen Fehleinschätzungen und falschen Weichenstellungen früherer Bundesregierungen umstandslos in moralische Erpressungen ummünzt, sind so verständlich, wie die Emotionen, das Mitgefühl und das Bedürfnis zu helfen, die sie bei uns allen auslösen, selbstverständlich sind.

Und doch irritiert mich die Selbstgewissheit, mit der in Deutschland die moralisch entrüsteten Ankläger gegen eine reflektiert und zurückhaltend verfahrende Bundesregierung auftreten. Seine Politik bringt der Bundeskanzler im Interview mit dem Spiegel mit dem Satz auf den Punkt: „Wir treten dem Leid, das Russland in der Ukraine anrichtet, mit allen Mitteln entgegen, ohne dass eine unkontrollierbare Eskalation entsteht, die unermessliches Leid auf dem ganzen Kontinent, vielleicht sogar in der ganzen Welt auslöst.“ Nachdem sich der Westen entschlossen hat, in diesen Konflikt nicht als Kriegspartei einzugreifen, gibt es eine Risikoschwelle, die ein ungebremstes Engagement für die Aufrüstung der Ukraine ausschließt. Diese ist durch den jüngsten Schulterschluss unserer Regierung mit den Alliierten in Ramstein ebenso wie durch Lawrows erneute Drohung mit dem Einsatz von Atomwaffen soeben wieder in ein grelles Licht gerückt worden. Wer ungeachtet dieser Schwelle den Bundeskanzler in aggressiv-selbstgewissem Tenor in diese Richtung immer weiter vorantreiben will, übersieht oder missversteht das Dilemma, in das der Westen durch diesen Krieg gestürzt wird; denn dieser hat sich mit dem auch moralisch gut begründeten Entschluss, nicht Kriegspartei zu werden, selbst die Hände gebunden.

Der Bundeskanzler besteht zu Recht auf einer politisch zu verantwortenden Abwägung. Das Dilemma, das den Westen zur risikoreichen Abwägung von Alternativen im Raum zwischen zwei Übeln – einer Niederlage der Ukraine oder der Eskalation eines begrenzten Konflikts zum dritten Weltkrieg – nötigt, liegt auf der Hand. Einerseits haben wir aus dem Kalten Krieg die Lehre gezogen, dass ein Krieg gegen eine Atommacht nicht mehr in irgendeinem vernünftigen Sinne „gewonnen“ werden kann, jedenfalls nicht mit Mitteln militärischer Gewalt innerhalb der überschaubaren Frist eines heißen Konflikts. Das atomare Drohpotenzial hat zur Folge, dass die bedrohte Seite, ob sie nun selber über Atomwaffen verfügt oder nicht, die in jedem Fall unerträglichen Zerstörungen militärischer Gewaltanwendung nicht durch einen Sieg, sondern bestenfalls mit einem für beide Seiten gesichtswahrenden Kompromiss beenden kann. Dann wird keiner Seite eine Niederlage zugemutet, die sie als „Verlierer“ vom Feld gehen lässt. Die derzeit mit den Kämpfen noch parallel laufenden Waffenstillstandsverhandlungen sind ein Ausdruck dieser Einsicht; sie halten einstweilen den reziproken Blick auf den Gegner als möglichen Verhandlungspartner offen. Zwar hängt das russische Drohpotenzial davon ab, dass der Westen Putin den Einsatz von ABC-Waffen zutraut. Aber tatsächlich hat die CIA während der letzten Wochen schon vor der aktuellen Gefahr sogenannter „kleiner“ Atomwaffen gewarnt (die offenbar nur deshalb entwickelt worden sind, um Kriege unter Atommächten wieder möglich zu machen). Das verleiht der russischen Seite einen asymmetrischen Vorteil gegenüber der Nato, die wegen des apokalyptischen Ausmaßes eines Weltkrieges – mit der Beteiligung von vier Atommächten – nicht zur Kriegspartei werden will.

Nun entscheidet Putin darüber, wann der Westen die völkerrechtlich definierte Schwelle überschreitet, jenseits derer er die militärische Unterstützung der Ukraine auch formal als Kriegseintritt des Westens betrachtet. Angesichts des unbedingt zu vermeidenden Risikos eines Weltenbrandes lässt die Unbestimmtheit dieser Entscheidung keinen Spielraum für riskantes Pokern. Selbst wenn der Westen zynisch genug wäre, die „Warnung“ mit einer dieser „kleinen“ Atomwaffen als Risiko einzukalkulieren, also schlimmstenfalls in Kauf zu nehmen, wer könnte garantieren, dass die Eskalation dann noch aufzuhalten wäre? Was bleibt, ist ein Spielraum für Argumente, die im Licht der fachlich notwendigen Kenntnisse und aller erforderlichen, nicht immer öffentlich zugänglichen Informationen sorgfältig abgewogen werden müssen, um begründete Entscheidungen treffen zu können. Der Westen, der ja schon mit der Verhängung drastischer Sanktionen von Anbeginn keinen Zweifel an seiner faktischen Kriegsbeteiligung gelassen hat, muss deshalb bei jedem weiteren Schritt der militärischen Unterstützung sorgfältig abwägen, ob er damit nicht auch die unbestimmte, weil von Putins Definitionsmacht abhängige Grenze des formalen Kriegseintritts überschreitet.

Andererseits kann sich der Westen aufgrund dieser Asymmetrie, wie auch die russische Seite weiß, nicht beliebig erpressen lassen. Würde dieser die Ukraine einfach ihrem Schicksal überlassen, wäre das nicht nur unter politisch-moralischen Gesichtspunkten ein Skandal, es läge auch nicht im eigenen Interesse. Denn dann müsste er erwarten, das gleiche russische Roulette demnächst wiederum im Falle von Georgien oder der Republik Moldau spielen zu müssen – und wer wäre der Nächste? Gewiss, die Asymmetrie, die den Westen längerfristig in eine Sackgasse treiben könnte, besteht ja nur so lange, wie sich dieser aus guten Gründen scheut, einen nuklearen Weltkrieg zu riskieren. Mithin wird dem Argument, Putin nicht in die Ecke zu drängen, weil er dann zu allem fähig sei, entgegnet, dass erst diese „Politik der Furcht“ dem Gegner freie Hand lässt, die Eskalation des Konflikts Schritt für Schritt voranzutreiben (Ralf Fücks in der SZ). Freilich bestätigt auch dieses Argument nur den Charakter einer schwer berechenbaren Lage. Denn solange wir aus guten Gründen entschlossen sind, für den Schutz der Ukraine nicht als eine weitere Partei in den Krieg einzutreten, müssen Art und Umfang der militärischen Unterstützung auch unter diesem Gesichtspunkt qualifiziert werden. Wer sich auf rational vertretbare Weise gegen eine „Politik der Furcht“ wendet, bewegt sich schon innerhalb des Argumentationsspielraums jener politisch zu verantwortenden und sachlich umfassend informierten Abwägung, auf der Bundeskanzler Olaf Scholz zu Recht besteht.

Deutsche Leitmedien breiten Spekulationen zu Putin aus wie zu besten Sowjetzeiten. Dabei geht es um die Beachtung einer aus unserer Sicht für Putin zustimmungsfähigen Interpretation einer rechtlich definierten Grenze, die wir uns selbst auferlegt haben. Die echauffierten Gegner der Regierungslinie sind, wenn sie die Implikationen einer Grundsatzentscheidung, die sie nicht in Frage stellen, leugnen, inkonsequent.

Der Entschluss zur Nichtbeteiligung bedeutet nicht, dass der Westen die Ukraine up to the point of immediate involvement dem Schicksal ihres Kampfes mit einem überlegenen Gegner überlassen muss. Seine Waffenlieferungen können offensichtlich den Verlauf eines Kampfes, den die Ukraine selbst um den Preis großer Opfer weiterzuführen entschlossen ist, günstig beeinflussen. Aber ist es nicht ein frommer Selbstbetrug, auf einen Sieg der Ukraine gegen die mörderische russische Kriegführung zu setzen, ohne selbst Waffen in die Hand zu nehmen?

Die kriegstreiberische Rhetorik verträgt sich schlecht mit der Zuschauerloge, aus der sie wortstark tönt. Denn sie entkräftet ja nicht die Unberechenbarkeit eines Gegners, der alles auf eine Karte setzen könnte. Das Dilemma des Westens besteht darin, dass er einem gegebenenfalls auch zur atomaren Eskalation bereiten Putin nur durch eine sich selbst begrenzende militärische Unterstützung der Ukraine, die diesseits der roten Linie eines völkerrechtlich definierten Kriegseintritts bleibt, den Grundsatz signalisieren kann, dass er auf der Integrität staatlicher Grenzen in Europa besteht.

Die kühle Abwägung einer sich selbst begrenzenden Militärhilfe wird zusätzlich kompliziert durch die Einschätzung der Motive, die die russische Seite zu ihrem offensichtlich falsch kalkulierten Entschluss bewogen haben. Die Konzentration auf die Person Putins führt zu wilden Spekulationen, die unsere Leitmedien heute wie zu den besten Zeiten der spekulativen Sowjetologie ausbreiten. Das heute vorherrschende Bild vom entschlossen revisionistischen Putin bedarf wenigstens des Abgleichs mit einer rationalen Einschätzung seiner Interessen. Auch wenn Putin die Auflösung der Sowjetunion für einen großen Fehler hält, kann das Bild des verstiegenen Visionärs, der mit dem Segen der russisch-orthodoxen Kirche und unter dem Einfluss des autoritären Ideologen Alexander Dugin die schrittweise Wiederherstellung des großrussischen Reiches als seine politische Lebensaufgabe betrachtet, kaum die ganze Wahrheit über seinen Charakter widerspiegeln. Aber auf solche Projektionen stützt sich die weitgehende Annahme, dass sich die aggressiven Absichten Putins über die Ukraine hinaus auf Georgien und die Republik Moldau, sodann auf die Nato-Mitglieder des Baltikums und schließlich bis weit in den Balkan hinein erstrecken. Kann dieser Krieg gegen eine Atommacht also „gewonnen“ werden?

Diesem Persönlichkeitsbild eines wahnhaft getriebenen Geschichtsnostalgikers steht ein Lebenslauf des sozialen Aufstiegs und der Karriere eines im KGB geschulten rational kalkulierenden Machtmenschen gegenüber, den die Westwendung der Ukraine und die politische Widerstandsbewegung in Belarus in seiner Beunruhigung über den politischen Protest in den fortschreitend liberaler denkenden Kreisen der eigenen Gesellschaft bestärkt haben.

Aus dieser Sicht wäre die wiederholte Aggression eher als die frustrierte Antwort auf die Weigerung des Westens zu verstehen, über Putins geopolitische Agenda zu verhandeln – vor allem über die internationale Anerkennung seiner völkerrechtswidrigen Eroberungen und die Neutralisierung eines „Vorfeldes“, das die Ukraine einschließen sollte. Das Spektrum dieser und ähnlicher Spekulationen vertieft nur die Ungewissheit eines Dilemmas, das „äußerste Vorsicht und Zurückhaltung gebietet“ (so das Fazit einer lehrreichen Analyse von Peter Graf Kielmansegg in der FAZ vom 19. April 2022).

Wie erklärt sich dann aber die innenpolitisch aufgeheizte Debatte über die von Bundeskanzler Scholz immer wieder bekräftigte Politik einer in Übereinstimmung mit den EU- und den Nato-Partnern überlegten Solidarität mit der Ukraine? Um die Themen zu entflechten, lasse ich den Streit über die Fortsetzung der bis zum Ende der Sowjetunion und auch noch darüber hinaus erfolgreichen Entspannungspolitik gegenüber einem unberechenbar gewordenen Putin, die sich nun als folgenreicher Fehler herausgestellt hat, beiseite; ebenso den Fehler deutscher

Regierungen, sich auch unter dem Druck der Wirtschaft von billigen russischen Ölimporten abhängig zu machen. Über das kurze Gedächtnis der heutigen Kontroversen wird eines Tages das Urteil der Historiker entscheiden.

Anders verhält es sich mit der Debatte, die sich unter dem bedeutungsträchtigen Namen einer „neuen deutschen Identitätskrise“ schon jetzt mit den Konsequenzen der zunächst nüchtern auf die deutsche Ostpolitik und den Verteidigungshaushalt bezogenen „Zeitenwende“ befasst. Denn diese Debatte, die vor allem an Beispiele der erstaunlichen Konversion friedensbewegter Geister anknüpft, soll einen historischen Wandel der von rechts immer wieder denunzierten, tatsächlich schwer genug errungenen Nachkriegsmentalität der Deutschen ankündigen

– und damit überhaupt das Ende eines auf Dialog und Friedenswahrung angelegten Modus der deutschen Politik.

Schon ist die emotional ergriffene Außenministerin zur Ikone geworden. Diese Lesart fixiert sich auf das Beispiel jener Jüngeren, die zur Empfindlichkeit in normativen Fragen erzogen worden sind, ihre Emotionen nicht verstecken und am lautesten ein stärkeres Engagement einfordern. Sie erwecken den Eindruck, als habe sie die völlig neue Realität des Krieges aus ihren pazifistischen Illusionen herausgerissen. Das erinnert auch an die zur Ikone gewordene Außenministerin, die unmittelbar nach Kriegsbeginn mit glaubwürdigen Gesten und einer bekenntnishaften Rhetorik der Erschütterung einen authentischen Ausdruck verliehen hat. Nicht als stünde sie damit nicht auch für das Mitgefühl und den Impuls zu helfen, die in unserer Bevölkerung allgemein verbreitet sind; aber sie hat darüber hinaus der spontanen Identifizierung mit dem ungestüm moralisierenden Drängen der zum Sieg entschlossenen ukrainischen Führung eine überzeugende Gestalt gegeben. Damit berühren wir den Kern des Konflikts zwischen denen, die empathisch, aber unvermittelt die Perspektive einer um ihre Freiheit, ihr Recht und ihr Leben kämpfenden Nation einnehmen, und denen, die aus den Erfahrungen des Kalten Krieges eine andere Lehre gezogen und – wie doch die auf unseren Straßen Protestierenden auch – eine andere Mentalität ausgebildet haben. Die einen können sich einen Krieg nur unter der Alternative von Sieg oder Niederlage vorstellen, die anderen wissen, dass Kriege gegen eine Atommacht nicht mehr i herkömmlichen Sinne „gewonnen“ werden können.

Grob gesagt, bilden die eher national und die eher postnational geprägten Mentalitäten von Bevölkerungen den Hintergrund für verschiedene Einstellungen zu Krieg überhaupt. Diese Differenz wird deutlich, wenn man den bewunderten heroischen Widerstand und die selbstverständliche Opferbereitschaft der ukrainischen Bevölkerung mit dem vergleicht, was von „unseren“, sagen wir verallgemeinernd, westeuropäischen Bevölkerungen in ähnlicher Situation zu erwarten wäre. In unsere Bewunderung mischt sich ein gewisses Erstaunen über die Siegesgewissheit und den ungebrochenen Mut der Soldaten und der für den Kampf rekrutierten Jahrgänge, die finster entschlossen sind, ihre Heimat gegen einen militärisch weit überlegenen Feind zu verteidigen. Demgegenüber setzen wir im Westen auf Berufsheere, die wir bezahlen, um uns gegebenenfalls nicht selbst mit der Waffe in der Hand schützen zu müssen, sondern von Berufssoldaten schützen zu lassen.

Noch muss übrigens mit ebenjenem Wladimir Putin verhandelt werden. Diese postheroische Mentalität hat sich im Westen Europas – wenn ich das so überverallgemeinernd sagen darf – während der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts unter dem atomaren Schutzschirm der USA ausbilden können. 

Im Hinblick auf die möglich gewordenen Verwüstungen eines Atomkrieges hat sich in den politischen Eliten und dem jeweils weit überwiegenden Teil der Bevölkerungen die Einsicht verbreitet, dass internationale Konflikte grundsätzlich nur durch Diplomatie und Sanktionen gelöst werden können – und dass im Fall des Ausbruchs von militärischen Konflikten der Krieg, da er nach menschlichem Ermessen im Hinblick auf das schwer kalkulierbare Risiko eines drohenden Einsatzes von ABC-Waffen nicht mehr im klassischen Sinne mit Sieg oder

Niederlage zu Ende geführt werden kann, so schnell wie möglich beigelegt werden muss: „Vom Krieg kann man nur lernen, Frieden zu machen“, sagt Alexander Kluge. Diese Orientierung bedeutet nicht etwa einen grundsätzlichen Pazifismus, also Frieden um jeden Preis. Die Orientierung an der möglichst schnellen Beendigung von

Destruktion, menschlichen Opfern und Entzivilisierung ist nicht gleichbedeutend mit der Forderung, eine politisch freie Existenz für das bloße Überleben aufzuopfern. Die Skepsis gegen das Mittel kriegerischer Gewalt findet prima facie eine Grenze an dem Preis, den ein autoritär ersticktes Leben fordert – ein Dasein, aus dem auch noch das Bewusstsein vom Widerspruch zwischen erzwungener Normalität und selbstbestimmtem Leben verschwunden wäre.

Die von den rechten Interpreten der Zeitenwende begrüßte Umkehr unserer ehemaligen Pazifisten erkläre ich mir  aus einer Konfusion jener beiden gleichzeitig aufeinanderstoßenden, aber historisch ungleichzeitigen Mentalitäten. Diese markante Gruppe teilt die Siegeszuversicht der Ukrainer und appelliert mit großer Selbstverständlichkeit an das verletzte internationale Recht. Nach Butscha verbreitete sich in Windeseile die Parole: „Putin nach Den Haag!“ Das signalisiert allgemein die Selbstverständlichkeit der normativen Maßstäbe, die wir heute an die internationalen Beziehungen anlegen, also das tatsächliche Ausmaß der Veränderung in den entsprechenden Erwartungen und humanitären Sensibilitäten der Bevölkerung.

In meinem Alter verhehle ich nicht eine gewisse Überraschung: Wie tief muss der Boden der kulturellen Selbstverständlichkeiten, auf dem unsere Kinder und Enkel heute leben, umgepflügt worden sein, wenn sogar die konservative Presse nach den Staatsanwälten eines Internationalen Strafgerichtshofes ruft, der weder von Russland und China noch von den USA anerkannt wird. Leider verrät sich in solchen Realitäten auch der doch noch hohl klingende Boden einer erregten Identifizierung mit den immer schriller gewordenen moralischen Anklagen der deutschen Zurückhaltung. Nicht als hätte es der Kriegsverbrecher Putin nicht verdient, vor einem solchen Gericht zu stehen; aber noch nimmt er im Sicherheitsrat der Vereinten Nationen den Sitz einer Vetomacht ein und kann seinen Gegnern mit Atomwaffen drohen. Noch muss mit ihm ein Ende des Krieges, wenigstens ein Waffenstillstand verhandelt werden. Ich sehe keine überzeugende Rechtfertigung für die Forderung nach einer Politik, die – im peinigenden, immer unerträglicher werdenden Anblick der täglich qualvolleren Opfer – den gleichwohl gut begründeten Entschluss der Nichtbeteiligung an diesem Krieg de facto aufs Spiel setzt.

Die Konversion der ehemaligen Pazifisten führt zu Fehlern und Missverständnissen. Politisch-mentale Differenzen, die sich aus ungleichzeitigen historischen Entwicklungen erklären, dürfen sich Verbündete nicht zum Vorwurf machen, sie sollten diese als Fakten zur Kenntnis nehmen und in ihrer Kooperation klug berücksichtigen. Aber solange diese Perspektiven bildenden Unterschiede im Hintergrund bleiben, verursachen sie wie im Falle der Reaktion der Abgeordneten auf die moralischen Ordnungsrufe des ukrainischen Präsidenten in seiner Videoansprache an den Bundestag nur eine Konfusion der Gefühle – ein Durcheinander zwischen ungaren Reaktionen der Zustimmung, des bloßen Verständnisses für die Perspektive des Anderen und der gebotenen Selbstachtung. Die Vernachlässigung der historisch begründeten Differenzen in der Wahrnehmung und Interpretation von Kriegen führt nicht nur, wie im Falle der brüsken Ausladung des deutschen Bundespräsidenten, zu folgenreichen Fehlern im Umgang miteinander. Sie führt, was schlimmer ist, zur einem reziproken Missverständnis dessen, was der andere tatsächlich denkt und will.

Diese Erkenntnis rückt auch die Konversion der einstigen Pazifisten in ein nüchterneres Licht. Denn sowohl die Empörung wie das Entsetzen und das Mitgefühl, die den motivationalen Hintergrund ihrer kurzschlüssigen Forderungen bilden, erklären sich ja nicht aus einer Absage an die normativen Orientierungen, über die sich die sogenannten Realisten immer schon mokiert haben. Sondern aus einer überprägnanten Lesart gerade dieser Grundsätze. Sie haben sich nicht zu Realisten bekehrt, sondern überschlagen sich geradezu in Realismus: Gewiss, ohne moralische Gefühle keine moralischen Urteile; aber das verallgemeinernde Urteil korrigiert auch seinerseits die beschränkte Reichweite der aus der Nähe stimulierten Gefühle.

Immerhin nicht zufällig sind die Autoren der „Zeitenwende“ jene Linken und Liberalen, die angesichts einer drastisch veränderten Konstellation der Großmächte – und im Schatten transatlantischer Ungewissheiten – mit einer überfälligen Einsicht Ernst machen wollen: Eine Europäische Union, die ihre gesellschaftliche und politische Lebensform weder von außen destabilisieren noch von innen aushöhlen lassen will, wird nur dann politisch handlungsfähig werden, wenn sie auch militärisch auf eigenen Beinen stehen kann. Macrons Wiederwahl markiert eine Galgenfrist. Aber zunächst müssen wir einen konstruktiven Ausgang aus unserem Dilemma finden.

Diese Hoffnung spiegelt sich in der vorsichtigen Formulierung des Zieles, dass die Ukraine den Krieg nicht verlieren darf.