Donnerstag, 19. September 2024

Gender, Sex und anderes was Unruhe verursacht

 Adrian Daub: Judith Butler:Hat hier jemand «Gender» gesagt?

in: WOZ Nr. 25; 20. Juni 2024
https://www.woz.ch/2425/judith-butler/hat-hier-jemand-gender-gesagt/!V05FMXWVZT4A

In ihrem neuen Buch zeichnet die Philosophin Judith Butler nach, wie die Gendertheorie zum Hassobjekt nicht nur von Rechten werden konnte – und was das mit dem neuen Autoritarismus zu tun hat.

Judith Butler darf von sich behaupten, das heutige Verständnis von Geschlecht und Identität stark beeinflusst zu haben. Inwiefern aber ihr Werk schlicht von Kritiker:innen benutzt wird, um ebendieses Verständnis zum Problem zu erklären, ist eine offene Frage. Und diese Frage steht hinter Butlers neuem, bislang erst auf Englisch erschienenen Buch, «Who’s Afraid of Gender?». Es ist das erste von ihr, das in einem grossen Publikumsverlag erschienen ist und sich explizit an eine breitere Öffentlichkeit wendet.

Der Schlüssel zu «Who’s Afraid of Gender?» kommt sehr spät, auf Seite 289. In den Danksagungen erzählt Butler, wie sie und ihre Partnerin 2017 im Flughafen in São Paulo von einem rechten Mob angegriffen wurden. «Mein erster Dank», so beginnt sie, «geht an den jungen Mann mit dem Rucksack, der sich zwischen uns und einen Angreifer warf und der die Prügel abbekam, die mir galten. Ich wünschte, ich würde seinen Namen kennen.»

So erschreckend der Zwischenfall für Butler gewesen sein muss, man versteht, wieso er sie auch zum Nachdenken inspiriert hat: Wie kommt es, dass eine Theoretikerin, die 1990 ein Buch bei einem Wissenschaftsverlag veröffentlicht, 27 Jahre später von einem Mob durch einen Flughafen gejagt wird? In «Who’s Afraid of Gender?» sucht Butler nach den Bedingungen, die diese Entwicklung ermöglicht haben. «Indem ich versuchte zu reflektieren, wer diese erzürnten Menschen waren, die uns eines chaotischen und reisserischen Bündels an Sexualverbrechen bezichtigten, beschloss ich, über die Bewegung der Anti-Gender-Ideologie zu schreiben.»

Jahrzehntelanger Feldzug
«Who’s Afraid of Gender?» zeichnet die Geschichte dieser Ideologie nach – was gar nicht so einfach ist, gerade für jemanden wie Butler. Denn es gibt beide jeweils mehrfach: den Genderbegriff und Judith Butler. Einmal gibt es die Philosophin und ihr Werk, sechzehn Bücher allein mit ihr als einziger Autorin. Und dann gibt es die propagandistische Schreckgestalt, die die Angreifer in São Paolo zu stellen versuchten – und als Puppe verbrannten. Es gibt «Gender» als Begriff, «Gender» als Forschungsgegenstand, und dann gibt es die Karikatur von «Gendergaga», «Genderideologie» und so weiter, gegen die rechte Politiker:innen, die katholische Kirche und «genderkritische» Feminist:innen seit Jahrzehnten einen Feldzug führen.

Von all diesen Versionen handelt Butlers neues Buch. Es ist eben auch die Summa einer Karriere, die – gerade in Fragen von Gender – zu einem Grossteil aus dem Korrigieren oft böswilliger Missverständnisse bestand. Aber vor allem geht es dem Buch um die Substanz und ideologischen Quellen dieser Missverständnisse.

Um das ein wenig auseinanderzudividieren: «Gender» als Begriff kam im feministischen Aktivismus und in der feministischen Forschung im Laufe der 1970er Jahre auf, doch die Ursprünge des Begriffs gehen noch viel weiter zurück. So hat die Historikerin Susan Stryker im Englischen eine Verwendung von «Gender» als gesellschaftlicher Rollenzuschreibung aufgrund des Geschlechts bereits im 19. Jahrhundert nachgewiesen. Und auch der berühmte Satz von Simone de Beauvoir, man werde nicht als Frau geboren, sondern zu einer solchen gemacht, greift dieser theoretischen Intervention schon voraus.

Sosehr man, gerade im deutschsprachigen Raum, Butler mit dem Begriff assoziiert: Nur ein Bruchteil dessen, was «Gender» heisst, kommt in der Tat von Judith Butler. «Genderstudien» sind erst einmal nichts weiter als die Anerkennung der Tatsache, dass man nicht unhinterfragt mit den Kategorien «Mann» und «Frau» operieren sollte – oder dass man die Welt besser analysiert, wenn man es nicht tut. Auch hier hakt Butler in ihrem Buch nach: Wie kam es zu dieser Verknappung, dieser Zuspitzung des Begriffs? Wieso bezeichnen angeblich intellektuell ambitionierte Medien auch in Deutschland den Forschungsbereich Gender Studies als «unwissenschaftlich», «quasireligiös» oder «sektenhaft», als «Neognostik»?

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Butlers Beitrag zu diesem Bereich, vor allem in ihrem epochalen Buch «Gender Trouble» (1990, deutsch: «Das Unbehagen der Geschlechter»), bestand nicht etwa darin, dass sie den Genderbegriff etabliert hätte, sondern dass sie dessen englischen Gegenbegriff dekonstruierte: «Sex» als biologisches Geschlecht. Anstatt von einem natürlichen Geschlecht auszugehen, das dann in die soziale Konstruktion von Gender mündet, schlug Butler damals vor, das angeblich natürliche Geschlecht als Rückprojektion von Gender zu verstehen. Die behauptete Natürlichkeit des biologischen Geschlechts sei ein Versuch, die Instabilität gesellschaftlich konstruierter Genderkategorien künstlich zu stabilisieren.

#FreeSpeechBus – bizarre Kampagne
In diesem Kontext fällt dann auch das Stichwort «Performativität», das seit 1990 reihenweise Missverständnisse hervorgerufen hat. Dabei meint der Begriff zunächst einmal nicht viel mehr, als dass Gender eben kein Ausdruck einer bereits feststehenden Identität ist, sondern in einem gesellschaftlichen Prozess immer wieder produziert wird. Die Idee ­einer Geschlechtsidentität hat keine Substanz; vielmehr wird durch Wiederholung der Anschein einer Substanz erzeugt. Wie Butler in «Who’s Afraid of Gender?» schreibt, sei auch die Geschlechtszuordnung bei der Geburt «nicht einfach eine Bekanntgabe des Geschlechts» oder eine «Feststellung anatomischer Tatsachen». Denn mit der Geschlechtszuordnung äussere sich auch «eine Reihe von Wünschen und Erwartungen vonseiten der Erwachsenen».

Es ist klar, warum das vielen Verfechter:innen von traditionellen, vermeintlich «natürlichen» Geschlechterrollen ein Dorn im Auge ist. Deren Kritik bezog sich allerdings von Anfang an auf Dinge, die Butler nie behauptet hatte. Erinnert sei hier an den #FreeSpeechBus, der 2017 durch Frankreich kurvte, um Angst vor der «Gendertheorie» zu schüren, die angeblich in französischen Klassenzimmern den Kindern aufgezwungen wurde. Auf dem Bus prangte das Bild eines bizarren Frankenstein-Kindes, das halbseitig stereotyp als Junge dargestellt war, zur anderen Hälfte als Mädchen, und dem ein Aufziehmechanismus aus dem Kopf wuchs. «Meine Identität ist kein Spiel», stand über dem Kind, nach dem sich zu allem Überfluss auch noch eine gruselige Erwachsenenhand ausstreckte. «Die Schule sagt unseren Kindern: Junge oder Mädchen, das kann man auswählen. Finden Sie das normal?»

An einem bizarren Artefakt wie dem #FreeSpeechBus erkennt man gut, dass Butlers Theorien mitdenken muss, wer Anti-Gender-Bewegungen erklären will. Denn wenn die Dekorateur:innen des Busses von Gender als einem «Spiel», einem «Auswählen» fabulieren, beziehen sie sich eindeutig auf eine gängige Fehlinterpretation von Butlers Konzept von Performativität. Der Slogan, der auf dem Bus prangte, erklärte einigermassen kryptisch: «Die Geschlechtertheorie existiert nicht, und doch kehrt sie zurück.» Die gespenstische Wiederkehr von etwas, was gar nicht existiert? Der #FreeSpeechBus bestätigt hier unfreiwillig Butlers These von Gender als Phantasma, als Angstbild.

Nach dem «Unbehagen der Geschlechter», ihrem zweiten Buch, bestand Butlers Karriere vor allem darin, diese Position zu verteidigen und zu erklären – von «Bodies That Matter» (1993, «Körper von Gewicht») bis hin zu «Undoing Gender» (2004, «Die Macht der Geschlechternormen und die Grenzen des Menschlichen»). Ab den nuller Jahren kam ein anderer Themenkomplex hinzu: der Krieg gegen den Terror, etwa in den Büchern «Precarious Life» (2004) und «Frames of War» (2009), und eine Kritik des Zionismus im Buch «Parting Ways. Jewishness and the Critique of Zionism» (2012). Es ist dieser Themenkomplex, der Butler in den letzten zehn Jahren im deutschen Sprachraum einen besonders negativen Leumund eingebracht hat.

Breiter Angriff auf den Feminismus
Sosehr die Frage von Butlers Vermächtnis auch über ihrem neusten Buch schwebt: Was «Who’s Afraid of Gender?» eigentlich leistet, ist eine Rekonstruktion jener reaktionären Bewegung, die sich seit ungefähr der Jahrtausendwende um die Gegnerschaft zum Wort «Gender» schart – wozu der #FreeSpeechBus genauso gehört wie die kruden Thesen einer J. K. Rowling oder die antisemitischen Verschwörungstheorien eines Viktor Orbán. Butlers auf den ersten Blick frappierendes Fazit: Die Anti-Gender-Bewegung ist eigentlich kein blosser Backlash gegen Queer Theory oder gegen die stärkere Sichtbarkeit von trans Personen. Eigentlich ziele die Bewegung auf den Feminismus ab, und zwar nicht auf den queeren, postmodernen, intersektionalen, sondern auf die alte, angeblich so fest etablierte zweite Welle. «In vielen Ländern», so Butler, «ist der Angriff auf Gender genauso ein Angriff auf den Feminismus, insbesondere auf die reproduktive Freiheit, wie auf die Rechte von trans Personen, die Homoehe und die Sexualerziehung.»

Die Anfänge der Anti-Gender-Bewegung macht Butler in Lateinamerika fest, insbesondere unter erzkonservativen Katholiken. Angesichts der Homoehe begann das Angstwort «Gender» dann, Bewegungen zu bündeln, die eigentlich gerade ein Debakel nach dem anderen erlebten: etwa die katholische Rechte in Europa, die gegen die Homoehe in Frankreich Sturm lief, oder auch evangelikale US-Kirchen, die sich nach dem verlorenen Kampf gegen die Ehe für alle darauf verlegten, LGBTIQ+-Rechte in Afrika und Südamerika zu bekämpfen. Die Stichwortgeber der Anti-Gender-Bewegung ortet Butler im polnischen Ordo-Iuris-Institut oder im Umfeld des Mathias-Corvinus-Collegiums in Budapest, weswegen für ein europäisches Publikum vergleichsweise viele alte Bekannte im Buch vorkommen: Papst Benedikt XVI., Marine Le Pen, die Fidesz-Partei von Viktor Orbán in Ungarn, die neofaschistischen Fratelli d’Italia, aber auch Wladimir Putin und die AfD.

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Gerade in der westlichen Welt hat der durchschlagende Erfolg von «Gender» als Phantasma auch damit zu tun, dass sich längst nicht mehr nur stramm Rechte und/oder Religiöse davon aktivieren lassen. Denn je widersprüchlicher diese Bewegung sei, so Butler, als desto effektiver habe sie sich erwiesen. Als der Supreme Court in den USA im Juni 2022 das seit 1973 geltende bundesweite Recht auf Abtreibung abschaffte, hatte eine ihrem Selbstverständnis nach feministische Kolumnistin der «New York Times» danach nichts Besseres zu tun, als sich darüber zu beschweren, dass eine gemeinnützige Organisation für Abtreibungsrechte in einer Pressemitteilung das Wort «Frauen» nicht verwendet und eine andere schon mal von «gebärenden Personen» statt von «Frauen» gesprochen habe. Die Artikel derselben Kolumnistin zu trans Personen schmücken heute die gerichtlichen Anträge der Alliance Defending Freedom, einer christlich-konservativen Organisation, die weltweit gegen LGBTIQ+- und Frauenrechte kämpft.

«Gender» macht als Hassobjekt auch diese Art Schulterschlüsse möglich, ohne die die Rückschritte für Frauen und sexuelle Minderheiten, die sich in den letzten Jahren gerade in der US-Politik häufen, kaum möglich oder mehrheitsfähig wären. Ohne die transfeindlichen Äusserungen von öffentlichen Intellektuellen wie J. K. Rowling oder der britischen Philosophin Kathleen Stock wäre dieser rechte Rollback sehr viel klarer als solcher sichtbar.

Im Grunde genommen sind es zwei miteinander wetteifernde Formen der Globalisierung, die Butler in ihrer Erzählung gegenüberstellt. Einerseits hatte das Genderparadigma in seinen verschiedenen Formen in der Tat grossen Einfluss. Aber den weitaus grösseren internationalen Erfolg konnte der stark globalisierte Anti-Gender-Diskurs verbuchen: von afrikanischen Staaten mit starkem evangelikalem Einfluss über illiberale Demokratien in Osteuropa bis zu Donald Trump und Russland unter Putin.

Global betrachtet, hat Butlers Beschreibung natürlich ihre Grenzen, denn es gibt Länder, in denen LGBTIQ+-Personen noch einmal stärker bedroht sind als in Orbáns Ungarn. Doch die Unterdrückung der Frauen etwa im Iran hat mit Sorgen über eine angebliche «Genderideologie» eher wenig zu tun. Der Anti-Gender-Diskurs ist ein Zurückdrängungsdiskurs, er geht, etwa in den USA, mit dem Verbot der Abtreibung einher oder will trans Personen aus dem öffentlichen Raum verdrängen. Er arbeitet sich an feministischen und queeren Fortschritten ab, will diese zurückdrehen.

Butlers Argument ist, dass Gender Studies und der Anti-Gender-Diskurs eigentlich nur relativ mittelbar miteinander verknüpft sind – Gemecker über Gender gab es schon vor «Das Unbehagen der Geschlechter» oder bevor man genderte. Denn es geht den Feind:innen von Gender um sehr viel mehr als um Doppelpunkte oder Pronomina. Es geht um den Feminismus, um Homophobie, um sämtliche Freiheitsansprüche jenseits des Patriarchats. Das bekam Butler in São Paulo zu spüren, aber das bekommen LGBTIQ+-Personen überall zu spüren.

Auch Butler kann Common Sense
Womit wir wieder auf Seite 289 wären, in São Paulo, wo 2017 eine Judith-Butler-Puppe unter «Hexe!»-Rufen verbrannt wird. Warum liefert ein Buch, zumal das Buch einer an Freud geschulten Denkerin wie Butler, seine Urszene erst auf Seite 289? Das hat System, denn Butler selber ist im eigenen Buch einigermassen dezentriert. Ihre Erfahrungen, Theorien, Freund- und Feindschaften fliessen klar in die Analyse ein. Aber eigentlich fällt hier eher ihre Zurückhaltung auf. Das Spielerische an Butlers Stil, die Lust an verschachtelten Konstruktionen und am Wortspiel, ist hier kaum zu finden. Das Buch liest sich gut, die notorisch verworrene Prosa ist hier weitgehend geglättet.

Der Grund dafür liegt auf der Hand: Butler ist sich nach mehr als dreissig Jahren nur zu bewusst, in welche Fallen sie tappen kann, wenn sie zu theoretisch auftritt, ja dass das Wort «Theorie» selber immer stärker unter Beschuss gerät. Und sie weiss auch, dass die Menschen, die sie in diesem Buch kritisiert, sich gewohnheitsmässig auf den Common Sense berufen und die unmittelbare Plausibilität der eigenen Positionen betonen. Anti-Gender-Positionen haben, so Butler, einen «Ton der Vernünftigkeit», selbst wenn sie in Wahrheit pure Ideologie sind. Und in dieser Pose des «gesunden Menschenverstands» treffen sich hart rechte Kräfte mit solchen, die sich eigentlich für liberal oder gar links halten. Ihre Allianz aufzuweichen, scheint das heimliche Ziel von Butlers Buch zu sein. Sie übt sich dabei selber in einem Ton der Vernünftigkeit, der Geduld.

Wer eine Ideologie kritisiert, die ihre eigene ideologische Prägung nicht anerkennt, muss einen betont unideologischen Stil bemühen, auch wenn er oder sie an einen unideologischen Stil nicht glaubt. Und das ist das Hauptprojekt dieses Buches: Es geht um einen reaktionären Diskurs, der mit dem Nimbus einer Wissenschaftlichkeit spricht; und um eine Panik, die nicht reflektiert, wie stark sie von Affekten geleitet ist. Es ist nicht schwer zu verstehen, warum Butler in der Anti-Gender-Bewegung einen Hauptkanal sieht, über den der neue Autoritarismus seinen Weg in die vermeintlich liberale Öffentlichkeit findet. Genderkritiker:innen reden ständig von Propaganda, Diktatur und Indoktrination – dem also, was sie selber nicht ganz so heimlich befürworten.

Judith Butler: «Who’s Afraid of Gender?». Farrar, Straus & Giroux. New York 2024. 320 Seiten. 40 Franken.



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