Sonntag, 6. Juli 2025

Drohnen, Sheherezade und der eitle Dämon Krieg

 Alexander Kluge


"Ich muss mich ganz in die Perspektive des Gegners hineinversetzen". Über die Kunst, Frieden zu schließen. Interview: Dr.Peter Neumann

Aus der ZEIT Nr. 28/2025 2. Juli 2025 


DIE ZEIT: Herr Kluge, überall wird aufgerüstet, sprechen die Waffen. Haben wir verlernt, den Frieden zu denken?

Alexander Kluge: Ich hätte mir nie träumen lassen, dass wir nach den Erfahrungen von 1918 und 1945 noch einmal so grundsätzlich neu denken müssen. Aber genau das steht uns jetzt bevor.

ZEIT: Inwiefern?

Kluge: Wenn man heute glaubt, man könne mit Drohnen, Raketen, Fernwaffen einen Krieg gewinnen, ist das eine Illusion. Der Krieg ist ein Dämon. Er folgt einer Eigenlogik, die weder von denen, die ihn beginnen, noch von denen, die ihn bekämpfen, vollständig beherrscht werden kann. Niemand kann sich zum Richter über Gut und Böse aufschwingen, weil der Krieg sich jedem Urteil entzieht. Er ist unberechenbar, wandelt nur seine Gestalt, aber nie sein Wesen. Auf diese Erfahrung müssen wir eine Antwort finden.

ZEIT: Momentan erleben wir eher das Gegenteil. Nach den jüngsten Luftangriffen auf den Iran durch Israel und die USA ist die ohnehin fragile Konfliktzone Naher Osten noch weiter ins Wanken geraten.

Kluge: Das hat mich als Kriegskind unmittelbar an den Zweiten Weltkrieg erinnert. Ich war 13 Jahre alt, der Kronprinz meiner Eltern, als ich erlebte, wie meine Heimatstadt Halberstadt am 8. April 1945 im Feuersturm der alliierten Bomber unterging. Das hat mich tief erschüttert. Und doch: Selbst bis zum 8. Mai, bis in die letzten Tage des Krieges, haben die Bombenangriffe kaum etwas bewirkt.

ZEIT: Der Alltag ging einfach weiter?

Kluge: Ja. Man kann den Willen eines Volkes nicht durch Bomben brechen, selbst dann nicht, wenn es selbst keinen guten Grund mehr für den Krieg sieht. Man verlängert ihn dadurch nur. Unsere Putzfrau in Halberstadt, Frau Anna Will, hat einmal einen Satz gesagt, der mich sehr beeindruckt hat: "An einem bestimmten Punkt des Unglücks ist es gleich, wer es begangen hat. Es soll nur aufhören."

ZEIT: Sie meinen, militärische Gewalt allein reicht nicht?

Kluge: Nein, das kann sie gar nicht.

ZEIT: Warum nicht?

Kluge: Weil die Idee, den Feind restlos zu vernichten, ein Irrtum ist. Denken Sie nur an die Zerschlagung des antiken Karthago durch die Römer. Zerstörte Städte, zertrümmerte Steine bilden kein Fundament für einen echten Frieden.

ZEIT: Sie sprechen vom Dritten Punischen Krieg im 2. Jahrhundert vor Christus. Von Cato dem Älteren, einem römischen Staatsmann, ist das berühmte Wort überliefert: "Im Übrigen bin ich der Meinung, dass Karthago zerstört werden muss."

Kluge: Ja. Und nicht einmal die Zerstörung schien Cato zu genügen. Er schlug vor, Pflüge aus Tunis nach Karthago zu bringen, um die Trümmer, die zerschlagenen Steinblöcke der Paläste und Mauern, noch einmal umzupflügen.

ZEIT: Ein symbolischer Akt der Verwüstung.

Kluge: Genau, das ist das Prinzip: Nach dem Sieg soll es keine Versöhnung geben, sondern radikale Auslöschung. Das ist das schlechteste Rezept überhaupt. Es verlängert den Krieg ins Unendliche. Und vergiftet jeden künftigen Frieden.

Alexander Kluge: "Ich muss mich ganz in die Perspektive des Gegners hineinversetzen"

ZEIT: Kann man denn Kriege überhaupt gewinnen?

Kluge: Nein. Man kann einen Krieg nicht wirklich gewinnen. Das ist das eigentliche Paradox: Von Troja bis heute bleibt es eine Illusion, dass der Sieger tatsächlich siegt. Agamemnon, der König der Griechen, kehrt als Triumphator heim und wird im Badehaus blutig geschlachtet. Die Deutschen besiegen 1870 bei Sedan die Franzosen und besiegeln damit ihr eigenes Elend im Jahr 1918. Die Franzosen wiederum nutzen den Sieg von 1918 und stehen 1940 vor dem Scherbenhaufen. Wer auch immer siegt, stürzt ab.

ZEIT: Dennoch: War es nicht notwendig, dass Hitler-Deutschland durch die Alliierten vollständig besiegt wurde?

Kluge: Der militärische Sieg war zweifellos zentral. Doch ebenso wichtig war das, was darauf folgte: der Marshallplan, der wirtschaftliche Wiederaufbau des Landes. Dieses Programm hatte in Europa enorme moralische Autorität und trug maßgeblich zum Sieg des Westens im Kalten Krieg bei.

ZEIT: Sie haben in diesen Tagen in Chemnitz eine Ausstellung über den Krieg eröffnet und darüber, wie man ihm vielleicht entkommen kann. Was wäre ein gutes Rezept, um Frieden zu schließen?

Kluge: Der erste Schritt ist: Man muss die Generosität finden, für einen Moment mit dem Kopf des anderen zu denken. Ich muss mich ganz in die Perspektive des Gegners hineinversetzen: Was könnte ihm so wichtig sein, dass er bereit ist, seine Verbrechen zu beenden, seine Irrtümer einzusehen? Es geht darum, den Punkt zu finden, an dem selbst ein Tyrann oder ein Böser bereit wäre, einem Deal zuzustimmen.

"Der Krieg ist ein eitler Dämon, er hört sich gern selbst zu"

ZEIT: Trump hat versucht, einen Deal mit Putin in der Ukraine zu erreichen. Bisher allerdings ohne Erfolg.

Kluge: Trump hat versucht, diesen Punkt zu finden. Dafür braucht es aber Vorstellungsmögen, Fantasie. Das ist der zweite Schritt: Gäbe es ernsthafte Forschung, fänden sich viele verhandlungsfähige Themen, etwa eine Anpassung der Sanktionen rund um Kaliningrad, immerhin der Geburts- und Sterbeort Immanuel Kants, der für Russland wertvoller sein könnte als Mariupol mit einer widerwilligen Bevölkerung. Oder gemeinsame Zukunftsprojekte, etwa in der Raumfahrt. Möglich wäre das allemal. Jetzt müsste man solche Optionen sammeln und sorgfältig abwägen, ohne in Verhandlungen sofort Zugeständnisse zu machen.

ZEIT: Übertreiben Sie nicht?

Kluge: Es gibt einen Satz, der Herakles, dem größten Helden der Antike, zugeschrieben wird: "Der Pfeil, den ich ins Herz meines Gegners schieße, trifft mein eigenes Herz." Das ist die Dialektik des Krieges, die man nicht unterschätzen darf: Der Pfeil der physikalischen Zeit lässt sich nicht umkehren, aber in der chaotischen Zeit des Krieges sind die logischen Gesetze, die Ordnung von Nacheinander und Nebeneinander, aufgehoben. Alles versinkt im "Nebel des Krieges", wie es der preußische Kriegstheoretiker Carl von Clausewitz einmal genannt hat. Und deshalb kehrt der Pfeil, den man auf den Gegner abschießt, am Ende wieder zurück. Das ist das Prinzip des Krieges, er schiebt die Dauer der Zeit bis zum Frieden in die Länge.

ZEIT: Heute wird aber nicht mehr mit Pfeil und Bogen gekämpft. Man lässt Drohnen aufsteigen.

Kluge: Drohnen sind im Grunde atavistische Geräte.

ZEIT: Wie meinen Sie das?

Kluge: Sie sind unbemannte Kampfflugzeuge, operieren ohne Piloten. Das heißt: Man kann größere Risiken eingehen. Sie fliegen bodennah, sind kaum ortbar, entziehen sich dem Radar. Ihre Kleinheit, ihre schlichte Bauweise, all das macht sie nahezu unaufhaltbar. Mich erinnern sie an die Drachen, mit denen wir als Kinder gespielt haben. Diese Schlichtheit ist ihre Gefahr: eine Waffe, die sich nicht wirklich besiegen lässt.

ZEIT: Heute bekommt man sie sogar im Baumarkt. Im Ukrainekrieg werden Minen daran befestigt und über die Front geschickt. Ist das also – trotz aller Technologie – im Kern eine primitive Waffe?

Kluge: Ja, man könnte sagen: Die Drohne ist die Rückkehr der Höhlenmalerei im Krieg.

ZEIT: Aber es muss doch einen Ausweg geben.

Kluge: Ich würde nie behaupten, dass der Verblendungszusammenhang des Krieges – oder, wie Hegel es nannte, die "Schlachtbank" der Geschichte – unüberwindbar ist.

ZEIT: Nur wie?

Kluge: Vielleicht kann man ihn nicht beenden, aber einschläfern. Zum Verstummen bringen.

ZEIT: Woran denken Sie?

Kluge: Ich denke an die alten persischen Geschichten aus Tausendundeiner Nacht. Scheherazade, die Tochter eines Wesirs, eines hohen Beamten, weiß, dass sie sterben wird. Der König hat beschlossen, jede Nacht eine neue Frau zu heiraten, um seine Begierde zu stillen, und sie am nächsten Morgen töten zu lassen, aus Angst vor Verrat. Doch Scheherazade will diesen Kreislauf der Gewalt mit einer List durchbrechen.

ZEIT: Sie beginnt, zu erzählen ...

Kluge: Ja. Sie erzählt ihm jede Nacht eine Geschichte. Immer bleibt ein Faden offen, der den König neugierig macht. Also verschont er sie, Nacht für Nacht, um zu hören, wie es weitergeht. So spinnt sie ihre Erzählungen über tausendundeine Nacht, bis der König seinen Schwur bricht, das Töten beendet und ihr Gnade gewährt.

ZEIT: Sie meinen, auch der Krieg vergisst, dass er da ist?

Kluge: Ja. Der Krieg ist ein eitler Dämon, er hört sich gern selbst zu. Und wenn er je zur Ruhe kommt, dann am ehesten durch Geschichten über ihn. Solche Geschichten sind verstreut, versprengt, aber wir müssen sie sammeln und neu zusammensetzen. Es sind kollektive Erfahrungen aus drei-, viertausend Jahren, und sie können uns helfen, nicht immer wieder dieselben Fehler zu begehen.




Dienstag, 1. Juli 2025

Israel, Iran

"Vorherrschend ist ein Szenario, das man die Villa im Dschungel nennt"

Welches Kriegsziel hat Israel? Premier Netanjahu träume vom absoluten Sieg, sagt der Historiker Moshe Zimmermann. Und beobachtet eine Verrohung von Israels Gesellschaft. Interview: Lenz Jacobsen

DIE ZEIT 16. Juni 2025

"Es gibt einen weitverbreiteten Satz in Israel: Wenn die Gewalt nicht reicht, braucht es eben mehr Gewalt."

Der Historiker Moshe Zimmermann, Jahrgang 1943, forscht und schreibt über den Nahostkonflikt, die Geschichte der Juden in Deutschland und Antisemitismus. Er lebt in Israel, ist aber aktuell in Berlin, wohin er "immer wieder vor dem Wahnsinn zu Hause flieht", wie er sagt. 

ZEIT ONLINE: Herr Zimmermann, wie wirken sich die Militärschläge gegen den Iran kurzfristig auf die politische Situation in Israel aus?

Moshe Zimmermann: Die erste Phase ist Erleichterung und Genugtuung: Wir haben die Iraner überlistet, unser Militär ist trotz allem genial, und das, was am 7. Oktober passierte, war ein Zufall, der sich nicht wiederholt. Die zweite Phase ist dann die konkrete Unsicherheit, die von den Gegenangriffen der Iraner mit Raketen und Drohnen ausgeht. Man kann sich nicht hermetisch wehren gegen diese Angriffe, es gibt schon Tote, Verletzte und Zerstörung. So ändert sich mittelfristig der Alltag.

ZEIT ONLINE: Wie meinen Sie das? Wie wird sich der israelische Alltag ändern?

Zimmermann: Es wird um Fragen gehen wie: Wie oft muss man in die Bunker? Was passiert mit den Auslandsreisen? Traut man sich noch, entspannt im Restaurant zu sitzen? Was gibt es im Supermarkt nicht zu kaufen? Und so weiter und so fort. Das muss man in Kauf nehmen, wenn man sich in einen Krieg gegen den Iran verwickelt.  

ZEIT ONLINE: Und langfristig?

Ziele von Israel: "Vorherrschend ist ein Szenario, das man die Villa im Dschungel nennt"

Zimmermann: Schon nach einigen Tagen oder Wochen wird man sich fragen: Was bezweckt dieser Angriff? Gibt es ein konkretes, langfristiges Ziel, oder sind die Angriffe nur Teil dieses israelischen Automatismus, immer erst zuzuschlagen, ohne zu wissen, was am Ende des Prozesses steht? Geht es nicht allein um Netanjahus Machterhalt? Das ist das gleiche Muster wie im Gazakrieg. Aber sie wird sich stellen, die immer gleiche Frage nach "hayom sheacharei", wie es auf Hebräisch heißt: dem Tag danach.

ZEIT ONLINE: Wie lautet die Antwort der Regierung Netanjahu?

Zimmermann: Die Antwort ist seit dem 7. Oktober 2023 immer die gleiche: Wir kämpfen bis zum absoluten Sieg. Das ist Netanjahus Formulierung: der absolute Sieg.

ZEIT ONLINE: Wie sieht dieser absolute Sieg konkret aus?

Zimmermann: Ich bezweifle, dass er davon selbst eine konkrete Vorstellung hat. Netanjahu verspricht seinen Anhängern seit dem 7. Oktober 2023 die Zerstörung der Hamas, nicht nur als Kampforganisation, sondern auch als zivile Einrichtung. Sie soll nie wieder die Möglichkeit haben, Gaza zu beherrschen. Das Gebiet soll stattdessen vollständig unter israelische Kontrolle. Diese Ziele aber sind nicht präzise genug formuliert und unerreichbar, das weiß nach anderthalb Jahren in Israel eigentlich jeder.

ZEIT ONLINE: Und was hieße Netanjahus "absoluter Sieg" mit Bezug auf den Iran?

Zimmermann: Es hieße erstens, dass der Iran keine Nuklearmacht ist und werden kann. Zweitens, dass Iran die Handlanger Hisbollah, Hamas und Huthi in ihren Attacken auf Israel nicht mehr unterstützen kann. Und drittens – das ist vermutlich die heimliche Hoffnung der Regierung Netanjahus – dass es im Iran zu einem Umsturz kommt. Aber Menschen, die sich mit dem Iran besser auskennen als ich, sagen auch diesmal, dass israelische Angriffe einen solchen Umsturz nicht gerade wahrscheinlicher machen. Und: Auch nach einem Umsturz würde das iranische Volk nicht plötzlich zu Israelfreunden, wenn Israel seine Palästinapolitik nicht ändert. Netanjahus Idee vom absoluten Sieg ist unerreichbar.

"Seit 1979 hat sich der Iran zum Ziel gesetzt, Israel zu zerstören"

ZEIT ONLINE: Israel hat sich die Feindschaft des Iran ja nicht gewünscht, es hat sich generell den ständigen Konflikt mit Milizen und Nachbarländern nicht ausgesucht. Die Militärschläge sind auch eine Antwort darauf, und offenbar eine effektive. Wie hängen hier israelische Innenpolitik und außenpolitische Lage zusammen?

Zimmermann: Seit 1979, seitdem die Ajatollahs dort herrschen, hat es sich der Iran zum Ziel gesetzt, den zionistischen Staat Israel zu zerstören. Das allein ist aus israelischer Sicht, egal welche politische Einstellung man hat, schon Grund genug, sich auch militärisch zur Wehr zu setzen. Erst recht, wenn die Iraner auch noch nach der Atomwaffe greifen. Das ist eine Existenzfrage für den Staat Israel. Die Angriffe vom 7. Oktober durch die vom Iran unterstützte Hamas lassen das jetzige Vorgehen nur noch notwendiger erscheinen. Doch es gibt darüber hinaus beim Thema Iran für Netanjahu noch andere politische Erwägungen. Mit der Innenpolitik hängt das insofern zusammen, als dass Netanjahu die Iranfrage von Beginn an als Ablenkung von der Palästinafrage benutzte, und in den letzten Wochen vor der Wahl zwischen Skylla und Charybdis stand: entweder die Ultraorthodoxen die Regierung sprengen lassen, oder sie durch einen aggressiven, demonstrativen Akt wie eben diese Angriffe zum Zusammenhalt zu bringen. Netanjahu hat mit den Angriffen auf den Iran auch seine Regierung stabilisiert, zumindest vorübergehend.

ZEIT ONLINE: Was macht es mit der israelischen Gesellschaft, ständig im Kampfmodus zu sein? Das hat ja nicht erst jetzt oder mit dem 7. Oktober 2023 begonnen.

Zimmermann: Wir haben es mit einem Crescendo zu tun, einer ständigen Steigerung, über Jahre. Die Gesellschaft gewöhnt sich an die Gewalt, nach außen, aber auch nach innen. Die israelische Gesellschaft verroht. Zum Beispiel kommt es insbesondere im arabischen Teil der Bevölkerung, das sind circa 20 Prozent, fast täglich zu Mord und Totschlag. Konflikte werden zunehmend mit Gewalt gelöst. Die Zahlen steigen da rasant, die Statistiken sind eindeutig. Das hat mit dieser Atmosphäre der Verrohung zu tun. Es gibt einen weitverbreiteten Satz in Israel: Wenn die Gewalt nicht reicht, braucht es eben mehr Gewalt.

ZEIT ONLINE: Unter anderem der Soziologe Natan Sznaider hat kürzlich erneut dargelegt, dass Israel als erster und einziger jüdischer Staat sich von der sonstigen jüdischen Geschichte und Gegenwart vor allem durch seine Handlungsfähigkeit abhebt, durch seine Souveränität. Anders als vor der Staatsgründung und anders als in der Diaspora haben Juden in Israel die staatliche Macht selbst in der Hand. Sie können sich wehren und eben auch Gewalt anwenden. Sie sind Historiker, kann diese besondere Konstellation einen Teil der israelischen Beziehung zur Gewalt erklären?

Zimmermann: Der Zionismus bietet eine Lösung der Judenfrage an, die betont, dass in Israel die Juden ein normales Volk geworden sind. Normal bedeutet, dass man einen Staat hat. Einen Staat haben bedeutet, dass Juden – anders als in der Diaspora – ein Militär haben und Gewalt anwenden können. Es hat sich aber aufgrund der geschichtlichen Erfahrungen der Juden, die Sie ansprechen, tatsächlich der Mythos entwickelt, dass die jüdische Staatlichkeit, als Reaktion auf die Machtlosigkeit der Diasporajuden, eng mit Gewalt verknüpft sein muss. Feinden muss mit Gewalt begegnet werden. Der Weg der Verständigung oder des Kompromisses – das ist dann etwas für die armen Juden in der Diaspora. Der souveräne jüdische Staat aber hat ja die Instrumente der Gewalt.

ZEIT ONLINE: Aber Sie sagen, das sei ein Mythos?

Zimmermann: Ja. Erstens gab es den sogenannten "Muskeljuden" bereits in der Diaspora. Und zweitens ist es ein völlig falsches Verständnis, den Staat auf sein Potenzial zur Gewaltanwendung zu reduzieren. Staaten sind auch für vieles andere zuständig, unter anderem dafür, Freiheiten zu garantieren, soziale Sicherheit und Kooperation durch internationale und nationale Vereinbarungen herzustellen. Aber das wird übersehen, wenn man die Gewaltbereitschaft in den Vordergrund rückt. Wenn man in ihrem Sinne erzogen wird in Israel, ist ein Ausstieg aus dem Strudel der Gewalt unmöglich.

"Der Zionismus hat utopisches Potenzial verloren"

ZEIT ONLINE: War das denn in der Geschichte Israels mal anders, gab es mal eine andere Perspektive?

Zimmermann: Schaut man sich die israelische Politik in den ersten Jahren nach Gründung des Staates an, mit David Ben Gurion als Regierungschef, sieht man zwar einerseits, dass es für ihn sehr wichtig war, dass Israel sich jetzt mit Waffengewalt wehren kann. Aber daneben gab es noch etwas Zweites: Israel sollte das Licht sein, das aus dem Osten kommt, Ex Oriente Lux. Eine Mustergesellschaft, die sozial und politisch etwas anbietet, was das Leben besser macht, das beispielhaft sein wird für die ganze Welt. Ein sozialer Staat, vielleicht sogar ein sozialistischer Staat. Aber das ist mit der Zeit immer mehr an den Rand gedrückt worden. Der Zionismus hat sich verändert. Übrig geblieben sind der Fokus auf Militär und die Gewaltanwendung gegen Feinde, neben einem jüdischen Fundamentalismus.

ZEIT ONLINE: Waren die Kibbuzim nicht mal gedacht als Verwirklichung dieser idealen Gesellschaft? Als zionistische Utopie und Antwort auf die Frage nach dem "Tag danach"?

Zimmermann: Das ist ein sehr gutes Beispiel. Der Kibbuz war eine Idee aus dem ersten Jahrzehnt des 20. Jahrhunderts. Eine neue Art von Siedlung, basierend auf Gemeinschaft, auf gegenseitiger Hilfe. Jeder trägt etwas und erhält das, was er braucht. Der Kibbuz war das Vorzeigemodell der israelischen Mythologie! Der Beleg, dass der Zionismus versucht, eine gerechte Gesellschaft zu schaffen.

ZEIT ONLINE: Heute ist davon wenig übrig.

Zimmermann: Als im Jahr 1977 die Nationalisten an die Macht kamen, haben sie die Kibbuzim und deren Idee zum Buhmann, zum Feind erklärt: Sie seien falsch, sozialistisch, und ihre Bewohner bloß Ausbeuter der orientalischen Juden. Seit damals hat sich dieser Prozess nur radikalisiert, heute sind die Kibbuzim verpönt. Der Zionismus hat sein utopisches Potenzial verloren.

ZEIT ONLINE: Vielleicht ist es von Israel auch zu viel verlangt, nicht nur die eigene Existenz zu sichern gegen die tatsächlichen und potenziellen Feinde in der Region, sondern dabei auch noch eine ideale Gesellschaft anzustreben?

Zimmermann: Aber in diese endlose Konfrontation mit dem ewigen Feind hat Israel sich auch zum Teil selbst hineinmanövriert. Die jüdische Nationalbewegung war nicht etwa auf Erzfeindschaften ausgelegt, es musste nicht so kommen. Dass es so gekommen ist, daran sind selbstverständlich nicht nur die Israelis, die Zionisten, schuld. Die arabische Welt hatte auch nicht gewusst, wie sie mit der Situation konstruktiv umgehen sollte.

ZEIT ONLINE: Kann Israel sich zum Frieden siegen?

Zimmermann: Siege gibt es im Fußball. Dort muss man nur Tore zählen, um festzustellen, wer Sieger ist. Für die Auseinandersetzung zwischen Israel und seiner Umgebung passt der Begriff nicht. Die Schlachten, die wir gewonnen haben, 1948, 1956, 1967, und auch danach noch – sie haben ja nicht dazu geführt, dass die andere Seite bereit war, in Frieden mit uns zu leben. Zum Frieden oder zumindest zu Annäherungen ist es eher dann gekommen, wenn der Sieg auf dem Schlachtfeld weniger eindeutig war, wenn beide Seiten behaupten konnten, etwas erreicht zu haben. So war es nach dem Jom-Kippur-Krieg 1973 mit Ägypten, der zum Friedensabkommen mit Israel 1979 führte, so war es nach der Intifada 1987 bis 1993, die zu den Osloer Abkommen mit der PLO unter Jassir Arafat.

ZEIT ONLINE: Wenn wir zurück in die Gegenwart kommen und zur Frage, wie sich Israel die Zukunft vorstellt: Die Rechtsextremisten in der Regierung, zum Beispiel Bezalel Smotrich, haben ja durchaus genaue Vorstellungen davon, wie Israel aussehen und was dafür beispielsweise mit Gaza passieren soll. Smotrich strebt dort einen "historisch beispiellosen Trümmerhaufen" an und hält es für moralisch geboten, die Palästinenser zu vertreiben. Sind das die Ideen, die jetzt Netanjahus Ideenlosigkeit ersetzen?

"Die arabische Welt argumentiert mit mittelalterlicher Geschichte"

Zimmermann: Netanjahu ist mehr oder weniger derselben Meinung wie diese Extremisten, er sagt sie als Regierungschef nur nicht ganz so offen. Der absolute Sieg in Gaza, von dem er spricht, und die israelische Siedlungspolitik im Westjordanland sollen letztlich die Vision von Großisrael erfüllen. Erez Yisrael Ha'shlema heißt das auf Hebräisch, ganz Israel. Vom Meer bis zum Jordan, alles soll den Juden gehören. Und dann gibt es noch etwas, was hinzukommt.

ZEIT ONLINE: Was?

Zimmermann: Diese israelische Gemeinschaft soll eine rein jüdische sein, nicht nur im nationalistischen Sinne, sondern auch im Sinne einer echten Religiosität. Obwohl Netanjahu selbst nicht religiös ist, braucht es diese religiöse Inbrunst, um für die Vision zu kämpfen. Dieses religiöse Großisrael ist das eigentliche Ziel. Dazu gehört auch eine Besiedlung des Gazastreifens durch Israelis, der Ausbau der illegalen Siedlungen im Westjordanland, die Anpassung oder "Auswanderung" der arabischen Bevölkerung und so weiter. Solche Sachen bekommt man jetzt seit anderthalb Jahren viel häufiger und offener zu hören als zuvor. Auch wenn sie latent bei den Nationalisten immer schon Programm waren, egal welcher Partei. 

ZEIT ONLINE: Das heißt, die Vision eines religiösen Großisraels, herbeigeführt durch immer mehr Gewalt, ist jetzt die Antwort auf die Frage nach dem "Tag danach"? Und nicht mehr der Kibbuzim?

Zimmermann: Andere, weniger gewaltvolle Zukunftsvorstellungen sind genauso verschwunden wie die Kibbuzim. Seit dem Wahlsieg der Rechten 1977 hat sich nicht nur die Politik, sondern auch das Erziehungssystem und die Sozialisation in Israel radikal verändert. So, dass es mittlerweile für die alternativen Stimmen kaum noch einen Platz gibt. Auch Menschen wie ich gelten heute den meisten als Verräter an der richtigen, zionistischen Sache.

ZEIT ONLINE: Kann sich die israelische Gesellschaft Frieden noch vorstellen?

Zimmermann: Das kommt darauf an, was man unter Frieden versteht. Auf einem Friedhof herrscht auch Frieden, oder? Vorherrschend ist in Israel ein Szenario, das man nach einem Satz des früheren Ministerpräsidenten Ehud Barak die Villa im Dschungel nennt: Ringsherum ist alles voller wilder Feinde, die nicht sind wie wir selbst, und mit denen wir nicht zusammenfinden können. Aber unter uns, in der Villa, schaffen wir eine Art Burgfrieden, der alle Unterschiede einebnet. Da ist dann auch kein Platz mehr für Streit zwischen links und rechts, zwischen religiös und säkular. Einen Frieden aber, wie man sich ihn außerhalb der Region für Israel vorstellt, ein friedliches Zusammen- oder Nebeneinanderleben von Israelis und Palästinensern, von Israelis und Arabern: daran denken die allermeisten hier gar nicht mehr. "Vom Schwert leben" zu müssen, wie es Netanjahu formulierte.

ZEIT ONLINE: Wenn wir noch mal zu den Militärschlägen gegen den Iran zurückkommen: Verstehe ich Sie richtig, dass Sie diese für einen Teil des Problems halten und nicht der Lösung?

Zimmermann: Man kann ein iranisches Atomprogramm auf diese Art hinauszögern, aber man kann die Bedrohung durch den Iran so nicht beenden. Dazu müssten die Iraner ihre Grundeinstellung gegenüber Israel verändern. Der israelische Irrweg ist, zu glauben, dass militärische Überlegenheit allein das Problem lösen kann. Und auf der anderen Seite argumentiert die arabische Welt seit jeher vor dem Hintergrund der mittelalterlichen Geschichte: Die Kreuzzügler kamen nach Palästina, schienen überlegen zu sein, aber es dauerte etwas mehr als hundert Jahre, zweihundert Jahre maximal, und dann waren sie alle weg. Wenn das die Lehre für den Umgang mit Israel heute ist, dann sind die Perspektiven tatsächlich düster. Es wird nur besser werden, wenn sich Israel auf Verständigung mit der Umwelt einstellt und gleichzeitig auch die arabische Welt sich mit der Idee versöhnt, dass auch eine jüdische Minderheit in der Region leben und einen Staat haben kann.

ZEIT ONLINE: Eine Vorstellung, die heute weiter weg scheint als vielleicht je zuvor.

Zimmermann: Ja, deshalb werden die israelische Linke und ich in der Regel für Spinner gehalten. Die Realität scheint uns zu widerlegen. Aber man muss verstehen, dass das, was die Nationalisten vorantreiben, erst recht realitätsfremd und katastrophal ist. Es wird schlicht nicht eintreten, dass Israel sich mit militärischer Gewalt einen Weg zum friedlichen Leben ebnen kann, zu einem geglückten "Tag danach". Nicht im nahöstlichen Dschungel.