franz schuh Das Mass existiert in der Logik des kapitalistischen Systems gar nicht - Ein Gespräch mit dem österreichischen Schriftsteller Franz Schuh über Schuld, Moral und Glück Noch ist die seit 2008 anhaltende Finanz- und Schuldenkrise nicht ausgestanden. Händeringend wird nach Lösungen gesucht, doch stellt sich auch die Frage nach der Verantwortung. Wie konnte das System aus dem Ruder laufen? Mit dem Schriftsteller und Zeitdiagnostiker Franz Schuh sprach in Wien Georg Renöckl.
Die jüngsten österreichischen Skandale
und die weltweiten Krisen haben dieselben Ursachen, Schuldenwirtschaft
und masslose Gier etwa. Es scheint hierzulande nur manches pointierter
abzulaufen. Ist Österreich wieder einmal eine «Versuchsstation des
Weltuntergangs»?
«Versuchsstation des Weltuntergangs» war
ein Befund von Karl Kraus, der den Ersten Weltkrieg im wahrsten Sinne
des Wortes vor sich hatte. Eine spezifische Welt ist damals wirklich
verschwunden. Heute scheint sich eine spezifische Welt allmählich
durchzusetzen, mit Übergangserscheinungen, die zugleich
Verfallserscheinungen der alten Welt sind. Unklar ist, was das für eine
Welt sein wird, auf jeden Fall werden die Machtverhältnisse wechseln,
und in der Relation zwischen China und Amerika wird sich Entscheidendes
tun. Was immer es auch sein wird – diese letzten Untaten, die gerade
passierten, sind eher Fussnoten der Weltkomödie als das Stück selber.
Meinen Sie, dass die ausser Kontrolle
geratene kapitalistische Finanzwelt und die staatliche
Schuldenwirtschaft also die neue Weltordnung sind?
Nein, ich behaupte nur, dass das Reden von
der Gier nachträgliches Moralisieren ist. Dass die Geldverdiener Geld
verdienen, ist in der Logik des kapitalistischen Systems klar. Ihnen das
nachher vorzuwerfen, weil sie über ein Mass hinausgehen, halte ich
nicht für moralisch, sondern für moralisierend. Das Mass existiert in
diesem System gar nicht. Elias Canetti spricht von der «Wollust der
springenden Zahl». Über die Bildschirme rasen Zahlen in Massen vorüber.
Auch der «Rettungsschirm», wie dieses dumme Wort nun einmal heisst,
umspannt unfassbare Summen, in denen die Massenhaftigkeit unseres
Zahlensystems magisch enthalten ist. Die Logik des Geldanhäufens ist
eine Logik, die per se über das Mass hinausgeht, und bevor man die Leute
mit moralischen Vorstellungen konfrontiert, muss man die Härte dieser
Systemlogik sehen.
Das lauter werdende Pochen auf die Moral ist dann nicht mehr als ein Krisensymptom?
Gerade in den historischen Momenten, in
denen sich die grössten Gewaltphantasien allmählich Platz verschaffen,
haben Moralapostel, Politkommissare oder Propagandisten ihre Stunde. Die
Moral ist immer eine Methode, um die Inhumanität der jeweiligen Feinde
anzugreifen: «Die haben ja keine Moral!» Die Moral ist oft ein
Kampfmittel für das im Wesen Unmoralische, für eine Politik, die alles
beanspruchen darf, nur nicht Moral.
Wenn Moral die falsche Kategorie ist, wie sieht es dann mit der Rationalität aus? Die scheint ja auch verloren gegangen zu sein.
Bestimmte Zusammenhänge funktionieren nur
dann, wenn das Moralische draussen bleibt. Man soll sich immer wünschen,
dass sich die Leute moralisch verhalten, aber diesen Wünschen lässt die
Systemlogik relativ wenig Platz. So bleibt die Möglichkeit, das System
im Ganzen als irrational und seine Logik als falsch anzuprangern. Mit
dem Anprangern wird auch die Schwäche der Polemik offenbar, denn ein
Pranger ist eine altmodische, überholte Sache. Die Frage, wie man dieses
System aus den Angeln hebt, wird man nur marxistisch beantworten
können, auch Nichtmarxisten machen das. Zum Beispiel so: Die Einzigen,
die das System aus den Angeln heben, sind die Leute, die selbst das
System verkörpern. Das System schafft Situationen, die so unerträglich
sind, dass man nie wieder auf die Idee kommen wird, so etwas zu
etablieren. Ich meine keine kalte Abwehr der Moral. Ich möchte darauf
aufmerksam machen, dass ein System, von dem alle lange geglaubt haben,
immer davon profitieren zu können, nicht durch Freundlichkeit gestoppt
werden kann, also nicht, indem wir nach einwandfreien moralischen Regeln
miteinander umgehen. Am allerwenigsten wird der Vorwurf der Gier die
Akteure von ihrer Gier abhalten.
Wäre es nicht auch eine rationale Entscheidung, möglichst viele profitieren zu lassen?
Ich halte das aufgrund der Art, in der die
Zusammenhänge konstituiert sind, für eine fromme Hoffnung. Man soll
sich nicht einbilden, dass sie analytisch durchdringt, was man mit ihr
beschreibt, und dass sie gegen die eingespielten Rituale eine andere
Chance hat, als den Beobachtern ein gutes Gewissen zu verschaffen.
Was sagen Sie zur derzeit immer häufiger auch von konservativen Denkern geäusserten Kritik am Kapitalismus?
Ich glaube, den Kapitalismus gibt es nicht
mehr. Der hat nur im Gegensatz zum Kommunismus existiert. Nach Ende
dieser wechselseitigen Bändigung ist der Kapitalismus am Ende. Das, was
wir jetzt haben, sind bestimmte ökonomische Verhältnisse, die den einen
nützen und den anderen schaden und die offenkundig so krisenanfällig
sind, dass sie den einmal erreichten Wohlstand, der aus der Bändigung
des Kapitalismus entstanden ist, ruinieren können. Dieser spezifische
Massenwohlstand, wie ihn die Welt noch nicht gesehen hat – das kann
jetzt zusammenbrechen. Wesentlich scheint mir, dass die Politik durch
die Ökonomie ausgetauscht worden ist. Daher ist das Politische in den
Kreislauf gezogen worden, von dem wir oben ja sprachen. Ohne Verlierer
funktioniert das System nicht. Wenn nun der Profit einiger
zu triumphierend in die Gesellschaft hineinglänzt, dann ist dieses
System extrem gefährdet. Die Menschen sind mündig genug, um es sich
nicht gefallen zu lassen. Womöglich stehen wir dann vor einem Neuanfang
der Zivilisation. Werden die Leute aber durch Sozialleistungen bei der
Stange gehalten, dann gilt der Satz: «Wir leben in einer Übergangszeit
und werden bis zum Ende aller Zeiten in einer Übergangszeit leben.»
Können Bewegungen wie «Occupy Wall
Street», die genau gegen diese Ungerechtigkeiten protestieren, etwas
ändern, oder ist die Wut letztlich hilflos?
Bei Wutausbrüchen weiss man am Anfang nie,
ob das Ventile sind, die dabei helfen, das Unerträgliche auszuhalten,
oder ob sie der anschwellende Bocksgesang sind, der das letzte Wort
haben wird, das dann «Nein» lautet. Wir machen die Erfahrung, dass auf
der Welt unerträgliche Dinge nicht beseitigt werden, sondern sich weiter
fortpflanzen. Man braucht auch nicht zu glauben, dass irgendein
Aufstand die Welt erlöst zurücklassen wird. Was gegen die Wall Street
geschieht, halte ich für eine unamerikanische Aktivität: Dass sich jetzt
Amerikaner ostentativ gegen die Tradition stellen, wonach man stolz
darauf ist, Geld machen zu können – das kann das System erschüttern.
Auch das «Glück» hat momentan eine gewisse publizistische Konjunktur.
In der Antike ist die Vorstellung von
Glück an Mass und an Tugend gebunden. Diese Vorstellung, dass die Tugend
mit dem Kosmos korreliert, dass das individuelle Glück auch gut für die
Allgemeinheit und für die kosmische Synthese ist, das ist eine schöne
Vorstellung. Wir teilen sie aber nicht mehr. In einem Revue-Text von
Ödön von Horvath, «Magazin des Glücks», wird folgender Gedanke, der auch
Ihrer Frage zugrunde liegt, entwickelt: Wenn schlechte Zeiten sind,
gibt es eine Glücksindustrie. Da baut man ein Haus, und da ist im ersten
Stock der Psychoanalytiker, im zweiten eine Badestube, im dritten
Italien – für sein Geld kann man Glück haben. Das Glück
ist eine Funktion des real existierenden Unglücks. Je unglücklicher die
Leute, desto mehr gehen sie der Glücksindustrie auf den Leim. Aber in
Glücksfragen lernt man nie aus. Nietzsche sagte: «Der Mensch strebt
nicht nach Glück, nur der Engländer tut das.» Mich hat der Satz immer
verwundert. Heute glaube ich, Nietzsche hielt die Engländer für
Zivilisationsspiesser. Der kleine Mensch, der allzu menschliche, der
spiessig seinem Alltag nachgeht, der kokettiert ständig mit dem Glück.
Kleines Glück – statt heroischer Bewährung. Das ist zum Glück das
Lebensprogramm der meisten geworden. Es gibt aber noch
einen Punkt in der Glücksfrage: eine merkwürdige Perversion der
Aufklärung. Aufklärung ist geglückt, wenn jeder für sich selbst Rat
weiss. Wir leben aber in einer Beratungs-Gesellschaft, das hängt auch
damit zusammen, dass wir übermoralisiert sind. Jeder hat in unserer
Gesellschaft die Moral für die Praxis des anderen, und jeder berät den
anderen. Psychologen könnten oft nicht kaputter sein, und trotzdem sind
sie spitze im Beraten anderer, die ähnliche Probleme haben. Und im
Bereich der Wirtschaft: Was da an Kapital durch falsche Beratung
zerstört wurde, ohne das Wissen, das professionell vorgetäuscht wurde,
das ist monströs.
Womit wir bei der Frage anlangen, wer an dem ganzen Schlamassel, mit dem wir gegenwärtig, konfrontiert sind, nun schuld ist.
Die Frage nach dem, der schuld ist, ist
von dem Augenblick an nicht mehr müssig, ab dem sich Gegengewalten gegen
den ökonomischen Totalitarismus bilden. Sonst ist die Frage nach der
Schuld sekundär. Es ist ein Schuldzusammenhang, der den jeweils
Angegriffenen in die Lage versetzt, die Schuld, und sei es auf den
Angreifer, abzuwälzen. Es scheint so, als hätten die Staaten versucht,
das Volk in der Mehrheit zufriedenzustellen, um das Ritual des
Gewähltwerdens in Gang zu halten. Keiner hat Reden von Blut und Eisen
gehalten, sondern man hat ständig aus Selbsterhaltungsgründen über
Schulden weitere Schulden finanziert. Lehrreich ist aber, dass das
Einkaufen der Bevölkerung nur ein retardierendes Moment war, weil die
Leute dennoch nicht mehr bereit sind, die traditionellen Parteien zu
wählen.
Derzeit dreht sich die Frage im Kreis,
jeder scheint reihum einmal schuld zu sein: die Spekulanten, die Banken,
die Griechen, der Sozialstaat.
Man kann die besten Sündenböcke finden,
von denen aber nicht ausgemacht ist, ob sie tatsächlich schuld sind. Die
Schuldfrage wird durch die systemischen Zusammenhänge relativiert. Es
hängt dann davon ab, wer die grössere Power hat, den Leuten einzureden,
wer schuld ist. Die Schuldfrage wird so gelöst werden, wie man in der
amerikanischen Krimi-Serie «CSI» die Leichen seziert: Wenn wir alle tot
sind, wird es eine Möglichkeit geben, die Sache zu rekonstruieren und
vielleicht sogar prozentmässig Schuldanteile auszurechnen. Solang wir
aber alle in dem Zusammenhang stehen und die Zusammenhänge
weiterbestehen, wird man mit der Schuldfrage nicht weit kommen.
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