Speisung von Obdachlosen. Athen |
Montag, 30. Januar 2012
Griechenland, Anfang 2012
barbara spengler-axiopoulos Griechenland – ein Besuch im Krisengebiet - Pater Wassilis hat Zahnschmerzen. Er sollte längst beim Arzt sein,
aber an diesem Morgen hat er fünfzehn neue Anträge vorliegen. Von
Menschen, die in der Kirchengemeinde von Agia Triada in Thessaloniki an
der mittäglichen Armenspeisung teilnehmen möchten. Ewa Liakou küsst ihm
respektvoll die rechte Hand, dann huscht sie in die Küche. Jeden Morgen
ab halb acht wird hier gekocht mit Spendengeldern, aber auch die sind
weniger geworden. Heute gibt es gefüllte Paprika mit Reis, vier Frauen
bereiten täglich die Mahlzeiten. Eben hat Ewa ein paar Handvoll
kleingeschnittener Zwiebeln in das dampfende Olivenöl geworfen. 160
Essen werden jeden Mittag ausgegeben, und die Nachfrage steigt. In allen
Kirchengemeinden Griechenlands gibt es mittlerweile kostenlose
Mahlzeiten für Bedürftige, in Athen sollen es täglich 13 000 Menschen
sein, die kommen. In Thessaloniki, der zweitgrössten Stadt
Griechenlands, dürften es ein paar tausend weniger sein.
«Wir sprechen heute von Neuarmen», sagt Sofia Ferentzi, eine der Frauen, die helfen. Täglich brechen Existenzen weg. Das Arbeitslosengeld von 461 Euro wird höchstens für ein Jahr ausgezahlt. Laut Statistik lebt heute jeder fünfte Grieche unterhalb der Armutsgrenze. Früher, sagt Pater Wassilis, seien nur Migranten und Flüchtlinge zu ihnen gekommen. Heute seien es die Griechen selbst, die hungerten. Seit der neuen Immobiliensteuer, die zusammen mit der Stromrechnung erhoben wird, schliesst ein Laden nach dem anderen, sitzen Menschen ohne Elektrizität und Wärme in ihren Wohnungen. Wer keine Steuern zahlt, dem wird der Strom abgedreht.
Auch die, die nichts haben, müssen zahlen. Ewa und Sofia haben klare Vorgaben. Sie lassen sich einen Steuerbescheid vorlegen, den Lohnzettel und den Personalausweis. Dann erst wird entschieden, wer mitessen darf. Jeden Nachmittag machen sie Hausbesuche, verteilen Medikamente, die viele nicht mehr bezahlen können. Sie besuchten neulich eine junge Frau, der man den Stromzähler abmontiert hatte. Armut provoziert Scham. Viele holten sich ihr Essen heimlich ab, sagen die Frauen. Die neu Verarmten seien viel zu stolz, als dass sie wahrgenommen werden wollten. Die drakonischen Sparmassnahmen haben den kleinen Leuten das letzte bisschen Würde genommen.
«Ich habe hier schon viele Krisen miterlebt. Die Krise der Baumwolle, die Krise der Textilbranche, die Wirtschaftskrise und jetzt die schwerste, die Krise Griechenlands.» Das sagt die 28-jährige Cécile Varvaressos, Wirtschaftsingenieurin und zuständig für Import und Export der familieneigenen Baumwollspinnerei in Naoussa, Nordgriechenland. Vor zwanzig Jahren war dies noch eine aufstrebende Region, und die Bewohner des Städtchens nannten ihr Naoussa «das kleine Manchester des Balkans». Heute ist Varvaressos das letzte Unternehmen, das Kreuzspulen produziert, und es hat seinen Betrieb um die Hälfte, auf 196 Mitarbeiter, verkleinern müssen. Denn die Kreuzspule von Naoussa, zwei bis zweieinhalb Kilo schwer und aus feinster griechischer Baumwolle, ist bedroht.
Daran sind nicht allein die Globalisierung und die Konkurrenz aus asiatischen Ländern schuld. Dem griechischen Markt fehle es an Liquidität, sagt der technische Leiter, Stergios Pantermas. Ausländische Lieferanten arbeiteten nur noch ungern mit griechischen Unternehmen zusammen, und wenn, dann nur gegen Vorauszahlung. Das Unternehmen konnte bis heute überleben, weil es rechtzeitig auf andere ökologische Faserstoffe wie Modal umstellte, das aus dem nachwachsenden Rohstoff Buchenholz gewonnen wird. Die Produktionskosten und die Lohnnebenkosten sind hoch: Cécile wedelt mit einer Pressenotiz, in der die Unternehmer Nordgriechenlands an Finanzminister Venizelos appellieren, die Energiekosten zu senken: Schlechte Aussichten für die Branche, wenn man bedenkt, dass die Troika, wie hier die Expertenkommission aus EU, EZB und IMF genannt wird, die Privatisierung der grossen staatlichen Unternehmen zur Vorbedingung für die Auszahlung der nächsten Kredittranche machte. Dazu gehören neben der Fernmeldegesellschaft OTE auch die Elektrizitätswerke DEI, deren hoch privilegierte Gewerkschaftsbosse sich seit Monaten in Kampfrhetorik üben. Es ist jedoch zweifelhaft, ob bei einer Privatisierung der DEI die Stromkosten überhaupt gesenkt würden.
Die tapfere Cécile Varvaressos sagt, die meisten ihrer gleichaltrigen Freunde seien arbeitslos. Einige seien schon im Ausland, andere auf dem Absprung dorthin: «In zwanzig Jahren will ich sagen können, es hat sich gelohnt, dass ich hier in Naoussa im Familienunternehmen geblieben bin.»
In Thessaloniki, einer lebensfrohen und dynamischen Stadt, umwerben die Geschäftsleute ihre Kunden. Das Kino Kolossaion, das den neuesten Film mit Tilda Swinton zeigt, bietet seinen Besuchern von Montag bis Donnerstag eine Eintrittskarte für zwei Personen. Im Café Elektra Palace, wo ein Cappuccino früher 4 Euro 50 kostete, ist er heute für 1 Euro 50 zu haben. Ein Friseur versucht es mit Galgenhumor: Eine Karikatur im Schaufenster zeigt Merkel und Sarkozy mit einer Schere, darunter steht: «Kommt zum Haircut zu Moritz, der kann es am besten!» Ein Witz zur Krise lautet: Ein junger Arbeitsloser mit Universitätsdiplom sagt zu einem Studienfreund, der Arbeit gefunden hat: «Ein Gyros mit Fladenbrot, bitte!»
In den Cafés sitzen die Rentner an milden Wintertagen draussen und diskutieren über die Krise, worüber denn sonst? In den sonnenhellen Mittag fallen Sätze wie: «Ich möchte fünfzig Politiker im Gefängnis sehen!» oder «Wer ist schuld, dass unser Land am Abgrund steht? Drei Politikerfamilien haben unser Land ruiniert . . .»
Der 65-jährige Aris Siafaras, Physiker und Fernmeldetechniker, ist an der Hafenpromenade unterwegs, um sich mit seinen Freunden zu treffen. Er hat dreissig Prozent seiner Rente eingebüsst, das 13. und das 14. Monatsgehalt wurden ihm gestrichen, und auch die sogenannte Hilfsrente soll um zwanzig Prozent gekürzt werden. Mit alledem könne er leben, sagt Siafaras, ein zierlicher Mann mit weissem Schnurrbart. Bitter sei, dass sein Lebensplan der falsche gewesen sei. Ein Leben lang hätten seine Frau und er in die Ausbildung der beiden Töchter investiert, sie jahrelang zum Arbeiten und Lernen angehalten. «Aber dies ist ein korruptes System, die Professoren waren bestechlich, und die Examen von Lydia und Ioanna sind heute nichts wert!» Noch schlimmer sei, fügt er hinzu, dass alle dieses Spiel mitgespielt hätten. Einige tausend Euro pro Tochter habe er im Jahr für Frontistiria, Nachhilfeschulen, die auf die Universitätsprüfung vorbereiten, ausgegeben. Beide Töchter sind hochqualifiziert und arbeitslos, die 28-jährige Lydia macht ein Aufbaustudium als Elektroingenieurin in Wien, die 26-jährige Ioanna, Agronomin, nimmt an einem Erasmus-Programm zur Förderung lokaler Produkte in Angers in Frankreich teil. Kürzlich schrieb die OTE 700 Stellen für Telefonisten aus. Es bewarben sich über 32 000 junge Leute, die meisten von ihnen hatten einen Universitätsabschluss. Was Soziologen «Braindrain» nennen, das Abwandern der jungen Intelligenz, ist für viele Griechen der düsterste Aspekt dieser allumfassenden Krise.
Nikos K. ist Herr über unzählige vermietete und unvermietete Immobilien. Bis vor zwei Jahren war er ein erfolgreicher Bauingenieur und Bauunternehmer mit einem mindestens sechsstelligen Jahreseinkommen. Zwischen 2002 und 2008 erhielt er die meisten Bauaufträge von der öffentlichen Hand, er baute Altersheime und Schulen. Aber auch jene rechteckigen Kästen, die wie Polypen in die Stadtlandschaft hineinwuchern und sie in ein gesichtsloses Häusermeer verwandelten. Denen historische Denkmäler wichen und in deren Nachbarschaft sich traurige byzantinische Kirchlein ducken müssen. Vielleicht ist er für diese Entwicklung nicht verantwortlich, aber wie andere Unternehmer profitierte er jahrzehntelang von dem Bauboom, den alle griechischen Regierungen hätschelten und förderten.
Die Bauindustrie, früher einer der wichtigsten Wirtschaftszweige Griechenlands, ist kollabiert. Darunter leiden auch Handwerker wie Zimmerleute, Fliesenleger, Installateure und Elektriker. Nikos K. schätzt, dass um die fünfzig Berufsgruppen davon betroffen sind. Viele Rechnungen für öffentliche Aufträge sind bis heute unbezahlt. Die vielen verschiedenen Immobiliensteuern sind für die meisten Besitzer inzwischen nicht mehr bezahlbar. Sie haben den gesamten Markt paralysiert und treffen den Besitzer einer Zwei-Zimmer-Wohnung mit einer Rente von 650 Euro ebenso wie den Besitzer einer grossen Immobilie, die unvermietet ist. Zahlen muss jeder. Der Staat, ein gefrässiger und lethargischer Koloss, richtet seine Bürger mit einer sinnlosen und ungerechten Steuerpolitik zugrunde. Für Nikos K. ist es eine systemische Krise, die das Land heimgesucht hat, der Spekulations- und Immobilienwahn der Griechen richte sich jetzt gegen sie selbst: «Überspitzt formuliert kann man sagen, dass die Leute Wohnungen für Kinder kauften, die sie später bekommen würden! Diese Mentalität ist heute unser Fluch.»
Die Piramatikí Skiní tis Téchnis, eines der interessantesten und experimentierfreudigsten Theater Griechenlands, ist verwaist. Das Gebäude in der Odos Amalia in Thessaloniki ist geschlossen, denn seit zwei Jahren kann es seine Miete nicht mehr bezahlen, und seit zwei Jahren wurden auch die Schauspieler nicht bezahlt. Eleni Dimopoulou ist seit fast dreissig Jahren Mitglied des renommierten Ensembles und eine leidenschaftliche Schauspielerin. Zwei Jahre haben sie und ihre Kollegen umsonst gearbeitet, vierzehn Inszenierungen haben sie in dieser Zeit aufgeführt. Und immer wieder haben sie Hoffnung geschöpft, wenn ein Brief aus Athen kam, in dem ihnen staatliche Hilfe versprochen wurde. Das Theater steht heute mit 250 000 Euro Schulden da. Wovon die bezahlt werden sollen, weiss sie nicht. Aber sie sieht, dass heute alle auf dem gleichen Niveau sind, denn auch die früher Wohlhabenden sind schwer von der Krise betroffen. Und sie freut sich, dass es plötzlich in der Stadt unzählige freie Theatergruppen gibt, in allen möglichen Kellerlöchern wird gespielt, denn jetzt habe man ja nichts mehr zu verlieren. Ihre Hoffnung ist der neue Bürgermeister Thessalonikis, Jannis Boutaris, ein parteiloser Politiker, der sich dafür einsetzt, dass das Theater eine Spielstätte im Hafengelände bekommt.
Eleni Dimopoulous Lieblingsrolle ist die der blinden Molly Sweeney, einer Figur des irischen Dramatikers Brian Friel. Wie eine Besessene hat sie sich in deren Lebenswelt eingearbeitet, erspürt und ertastet, wie sich ein Leben in völliger Dunkelheit anfühlen könnte. Als Molly nach einer Operation wieder sehen kann, ist sie von dem, was sie wahrnimmt, enttäuscht. Eleni Dimopoulou sagt heute, dass die Krise für die Griechen ein böses Erwachen gewesen sei. «Vielleicht wollten wir die Realität gar nicht sehen.»
«Wir sprechen heute von Neuarmen», sagt Sofia Ferentzi, eine der Frauen, die helfen. Täglich brechen Existenzen weg. Das Arbeitslosengeld von 461 Euro wird höchstens für ein Jahr ausgezahlt. Laut Statistik lebt heute jeder fünfte Grieche unterhalb der Armutsgrenze. Früher, sagt Pater Wassilis, seien nur Migranten und Flüchtlinge zu ihnen gekommen. Heute seien es die Griechen selbst, die hungerten. Seit der neuen Immobiliensteuer, die zusammen mit der Stromrechnung erhoben wird, schliesst ein Laden nach dem anderen, sitzen Menschen ohne Elektrizität und Wärme in ihren Wohnungen. Wer keine Steuern zahlt, dem wird der Strom abgedreht.
Auch die, die nichts haben, müssen zahlen. Ewa und Sofia haben klare Vorgaben. Sie lassen sich einen Steuerbescheid vorlegen, den Lohnzettel und den Personalausweis. Dann erst wird entschieden, wer mitessen darf. Jeden Nachmittag machen sie Hausbesuche, verteilen Medikamente, die viele nicht mehr bezahlen können. Sie besuchten neulich eine junge Frau, der man den Stromzähler abmontiert hatte. Armut provoziert Scham. Viele holten sich ihr Essen heimlich ab, sagen die Frauen. Die neu Verarmten seien viel zu stolz, als dass sie wahrgenommen werden wollten. Die drakonischen Sparmassnahmen haben den kleinen Leuten das letzte bisschen Würde genommen.
«Ich habe hier schon viele Krisen miterlebt. Die Krise der Baumwolle, die Krise der Textilbranche, die Wirtschaftskrise und jetzt die schwerste, die Krise Griechenlands.» Das sagt die 28-jährige Cécile Varvaressos, Wirtschaftsingenieurin und zuständig für Import und Export der familieneigenen Baumwollspinnerei in Naoussa, Nordgriechenland. Vor zwanzig Jahren war dies noch eine aufstrebende Region, und die Bewohner des Städtchens nannten ihr Naoussa «das kleine Manchester des Balkans». Heute ist Varvaressos das letzte Unternehmen, das Kreuzspulen produziert, und es hat seinen Betrieb um die Hälfte, auf 196 Mitarbeiter, verkleinern müssen. Denn die Kreuzspule von Naoussa, zwei bis zweieinhalb Kilo schwer und aus feinster griechischer Baumwolle, ist bedroht.
Daran sind nicht allein die Globalisierung und die Konkurrenz aus asiatischen Ländern schuld. Dem griechischen Markt fehle es an Liquidität, sagt der technische Leiter, Stergios Pantermas. Ausländische Lieferanten arbeiteten nur noch ungern mit griechischen Unternehmen zusammen, und wenn, dann nur gegen Vorauszahlung. Das Unternehmen konnte bis heute überleben, weil es rechtzeitig auf andere ökologische Faserstoffe wie Modal umstellte, das aus dem nachwachsenden Rohstoff Buchenholz gewonnen wird. Die Produktionskosten und die Lohnnebenkosten sind hoch: Cécile wedelt mit einer Pressenotiz, in der die Unternehmer Nordgriechenlands an Finanzminister Venizelos appellieren, die Energiekosten zu senken: Schlechte Aussichten für die Branche, wenn man bedenkt, dass die Troika, wie hier die Expertenkommission aus EU, EZB und IMF genannt wird, die Privatisierung der grossen staatlichen Unternehmen zur Vorbedingung für die Auszahlung der nächsten Kredittranche machte. Dazu gehören neben der Fernmeldegesellschaft OTE auch die Elektrizitätswerke DEI, deren hoch privilegierte Gewerkschaftsbosse sich seit Monaten in Kampfrhetorik üben. Es ist jedoch zweifelhaft, ob bei einer Privatisierung der DEI die Stromkosten überhaupt gesenkt würden.
Die tapfere Cécile Varvaressos sagt, die meisten ihrer gleichaltrigen Freunde seien arbeitslos. Einige seien schon im Ausland, andere auf dem Absprung dorthin: «In zwanzig Jahren will ich sagen können, es hat sich gelohnt, dass ich hier in Naoussa im Familienunternehmen geblieben bin.»
In Thessaloniki, einer lebensfrohen und dynamischen Stadt, umwerben die Geschäftsleute ihre Kunden. Das Kino Kolossaion, das den neuesten Film mit Tilda Swinton zeigt, bietet seinen Besuchern von Montag bis Donnerstag eine Eintrittskarte für zwei Personen. Im Café Elektra Palace, wo ein Cappuccino früher 4 Euro 50 kostete, ist er heute für 1 Euro 50 zu haben. Ein Friseur versucht es mit Galgenhumor: Eine Karikatur im Schaufenster zeigt Merkel und Sarkozy mit einer Schere, darunter steht: «Kommt zum Haircut zu Moritz, der kann es am besten!» Ein Witz zur Krise lautet: Ein junger Arbeitsloser mit Universitätsdiplom sagt zu einem Studienfreund, der Arbeit gefunden hat: «Ein Gyros mit Fladenbrot, bitte!»
In den Cafés sitzen die Rentner an milden Wintertagen draussen und diskutieren über die Krise, worüber denn sonst? In den sonnenhellen Mittag fallen Sätze wie: «Ich möchte fünfzig Politiker im Gefängnis sehen!» oder «Wer ist schuld, dass unser Land am Abgrund steht? Drei Politikerfamilien haben unser Land ruiniert . . .»
Der 65-jährige Aris Siafaras, Physiker und Fernmeldetechniker, ist an der Hafenpromenade unterwegs, um sich mit seinen Freunden zu treffen. Er hat dreissig Prozent seiner Rente eingebüsst, das 13. und das 14. Monatsgehalt wurden ihm gestrichen, und auch die sogenannte Hilfsrente soll um zwanzig Prozent gekürzt werden. Mit alledem könne er leben, sagt Siafaras, ein zierlicher Mann mit weissem Schnurrbart. Bitter sei, dass sein Lebensplan der falsche gewesen sei. Ein Leben lang hätten seine Frau und er in die Ausbildung der beiden Töchter investiert, sie jahrelang zum Arbeiten und Lernen angehalten. «Aber dies ist ein korruptes System, die Professoren waren bestechlich, und die Examen von Lydia und Ioanna sind heute nichts wert!» Noch schlimmer sei, fügt er hinzu, dass alle dieses Spiel mitgespielt hätten. Einige tausend Euro pro Tochter habe er im Jahr für Frontistiria, Nachhilfeschulen, die auf die Universitätsprüfung vorbereiten, ausgegeben. Beide Töchter sind hochqualifiziert und arbeitslos, die 28-jährige Lydia macht ein Aufbaustudium als Elektroingenieurin in Wien, die 26-jährige Ioanna, Agronomin, nimmt an einem Erasmus-Programm zur Förderung lokaler Produkte in Angers in Frankreich teil. Kürzlich schrieb die OTE 700 Stellen für Telefonisten aus. Es bewarben sich über 32 000 junge Leute, die meisten von ihnen hatten einen Universitätsabschluss. Was Soziologen «Braindrain» nennen, das Abwandern der jungen Intelligenz, ist für viele Griechen der düsterste Aspekt dieser allumfassenden Krise.
Nikos K. ist Herr über unzählige vermietete und unvermietete Immobilien. Bis vor zwei Jahren war er ein erfolgreicher Bauingenieur und Bauunternehmer mit einem mindestens sechsstelligen Jahreseinkommen. Zwischen 2002 und 2008 erhielt er die meisten Bauaufträge von der öffentlichen Hand, er baute Altersheime und Schulen. Aber auch jene rechteckigen Kästen, die wie Polypen in die Stadtlandschaft hineinwuchern und sie in ein gesichtsloses Häusermeer verwandelten. Denen historische Denkmäler wichen und in deren Nachbarschaft sich traurige byzantinische Kirchlein ducken müssen. Vielleicht ist er für diese Entwicklung nicht verantwortlich, aber wie andere Unternehmer profitierte er jahrzehntelang von dem Bauboom, den alle griechischen Regierungen hätschelten und förderten.
Die Bauindustrie, früher einer der wichtigsten Wirtschaftszweige Griechenlands, ist kollabiert. Darunter leiden auch Handwerker wie Zimmerleute, Fliesenleger, Installateure und Elektriker. Nikos K. schätzt, dass um die fünfzig Berufsgruppen davon betroffen sind. Viele Rechnungen für öffentliche Aufträge sind bis heute unbezahlt. Die vielen verschiedenen Immobiliensteuern sind für die meisten Besitzer inzwischen nicht mehr bezahlbar. Sie haben den gesamten Markt paralysiert und treffen den Besitzer einer Zwei-Zimmer-Wohnung mit einer Rente von 650 Euro ebenso wie den Besitzer einer grossen Immobilie, die unvermietet ist. Zahlen muss jeder. Der Staat, ein gefrässiger und lethargischer Koloss, richtet seine Bürger mit einer sinnlosen und ungerechten Steuerpolitik zugrunde. Für Nikos K. ist es eine systemische Krise, die das Land heimgesucht hat, der Spekulations- und Immobilienwahn der Griechen richte sich jetzt gegen sie selbst: «Überspitzt formuliert kann man sagen, dass die Leute Wohnungen für Kinder kauften, die sie später bekommen würden! Diese Mentalität ist heute unser Fluch.»
Die Piramatikí Skiní tis Téchnis, eines der interessantesten und experimentierfreudigsten Theater Griechenlands, ist verwaist. Das Gebäude in der Odos Amalia in Thessaloniki ist geschlossen, denn seit zwei Jahren kann es seine Miete nicht mehr bezahlen, und seit zwei Jahren wurden auch die Schauspieler nicht bezahlt. Eleni Dimopoulou ist seit fast dreissig Jahren Mitglied des renommierten Ensembles und eine leidenschaftliche Schauspielerin. Zwei Jahre haben sie und ihre Kollegen umsonst gearbeitet, vierzehn Inszenierungen haben sie in dieser Zeit aufgeführt. Und immer wieder haben sie Hoffnung geschöpft, wenn ein Brief aus Athen kam, in dem ihnen staatliche Hilfe versprochen wurde. Das Theater steht heute mit 250 000 Euro Schulden da. Wovon die bezahlt werden sollen, weiss sie nicht. Aber sie sieht, dass heute alle auf dem gleichen Niveau sind, denn auch die früher Wohlhabenden sind schwer von der Krise betroffen. Und sie freut sich, dass es plötzlich in der Stadt unzählige freie Theatergruppen gibt, in allen möglichen Kellerlöchern wird gespielt, denn jetzt habe man ja nichts mehr zu verlieren. Ihre Hoffnung ist der neue Bürgermeister Thessalonikis, Jannis Boutaris, ein parteiloser Politiker, der sich dafür einsetzt, dass das Theater eine Spielstätte im Hafengelände bekommt.
Eleni Dimopoulous Lieblingsrolle ist die der blinden Molly Sweeney, einer Figur des irischen Dramatikers Brian Friel. Wie eine Besessene hat sie sich in deren Lebenswelt eingearbeitet, erspürt und ertastet, wie sich ein Leben in völliger Dunkelheit anfühlen könnte. Als Molly nach einer Operation wieder sehen kann, ist sie von dem, was sie wahrnimmt, enttäuscht. Eleni Dimopoulou sagt heute, dass die Krise für die Griechen ein böses Erwachen gewesen sei. «Vielleicht wollten wir die Realität gar nicht sehen.»
Donnerstag, 19. Januar 2012
Ungarn
bernard-henri-lévy Europa droht Griechenland aus dem Kreise seiner Nationen zu verbannen wegen - zugegebenermaßen erheblicher - Verstöße gegen die Regeln des ordentlichen Haushaltens und Regierens. Vor zehn Jahren hat Europa zu Recht Österreich verdammt, als dessen konservative Regierende sich mit dem Rechtsextremisten Jörg Haider verbündet hatten.
Nun gibt es heute mitten in Europa ein Land, dessen Regierung die Medien knebelt, das Sozial- und Gesundheitssystem demontiert, Arme kriminalisiert und Rechte infrage stellt, die man für längst etabliert hielt, wie etwa das Recht auf Abtreibung. Es gibt ein Land, das den stumpfsten Chauvinismus, den abgetretensten Populismus und immer offener den Hass auf Sinti, Roma und Juden wieder aufleben lässt. Diese werden wie in den dunkelsten Stunden der Geschichte des Kontinents zu Sündenböcken für all das gemacht, was nicht mehr funktioniert.
Es gibt ein Land, in dem man im Begriff ist, im Namen eines Zugehörigkeitsprinzip, das man ethnisch oder rassisch nennen muss, ein Wahlrecht einzurichten, das man mit dem Nationalsozialismus für ausgestorben hielt und das allen "Nationsangehörigen" das Stimmrecht gewährt, die keine Staatsbürger sind, sondern irgendwo in Europa verteilt leben.
Bei diesem Land handelt es sich um Ungarn. Und dieses Mal sagt Europa nichts.
Die Leser des wunderbaren Buchs "Die Misere der osteuropäischen Kleinstaaterei" des ungarischen Autors István Bibó kennen jenen Cocktail aus nationaler Obsession, Opferpatriotismus und kollektivem Schmerzempfinden nur zu gut, der aus der ungarischen Nation - wie im Übrigen auch aus der polnischen oder der bulgarischen - eine Art Christus der Nationen macht, der sich berufen fühlt, wie unter dem guten König Stephan gegen die Osmanen zu kämpfen und die bedrohte Zivilisation zu schützen und zu erneuern.
Die Leser des Meisterwerkes "Donau. Biographie eines Flusses" von Claudio Magris wissen, wie diese Geschichte des Volkes - inakzeptabel die Methode, den "Auslandsungarn" dieselben Rechte zu gewähren wie jenen im Inneren, und vor allem die Masche, zu behaupten, dass es dort, an den Grenzen, um die Seele des Volkes und seine heiligste Wahrheit gehe - eine ganz alte Geschichte wieder ertönen lässt: die transsilvanische Frage, die in Ungarn wie in Rumänien nach wie vor die Gemüter erhitzt.
Allgemeiner betrachtet und über die Region hinaus wird jemand, der ein etwas feineres Gehör hat, nicht verkennen können, dass in dieser Art des Nationalismus, in der Definition der Nation als einer geweihten, ruhmreichen Einheit, die im Herzen verwundet und im Innersten verletzt wurde und die danach eine Art Gläubiger geworden ist, der von der Welt verlangt, dass die Erniedrigung wiedergutgemacht werde, kurz: in diesem Essenzialismus, der aus der nationalen Gemeinschaft ein göttliches Geschöpf macht, eine quasi mythische Entität, ein einheitliches Wesen, das von sich selbst getrennt ist und dessen verlorene Reinheit dringend wiedergefunden werden muss, nein, niemand kann darin die Steigerungsform eines Gedankens verkennen, der seit den Dreißigerjahren den Kern sämtlicher Formen des Faschismus ausgemacht hat.
Ich glaube nicht, dass wir uns schon dort befinden.
Ich glaube nicht, dass dieses Europa (das ich wie Milan Kundera lieber "Zentraleuropa" als "Osteuropa" nenne) sich schon von jener anderen Berufung abgewandt hat, die vor mehr als 20 Jahren auf der Kettenbrücke in Budapest ebenso wie auf dem Wenzelsplatz in Prag ausgedrückt wurde: "Wir wollen nach Europa zurückkehren."
Es ist eine Tatsache, dass in Ungarn noch eine ziemlich lebendige Opposition verbleibt, die vergangene Woche hinter dem Schriftsteller György Konrád und anderen eine schöne Demonstration zur Unterstützung der Demokratie organisieren konnte - und damit zugleich zur Unterstützung der europäischen Idee, denn das kommt auf dasselbe hinaus.
Dennoch ist unbestreitbar, dass es Grund gibt, über diese tyrannische, antieuropäische und faschistoide Verirrung beunruhigt zu sein.
Und ich befürchte, dass der Alarm nicht nur für Ungarn gilt, sondern auch für den Rest des Kontinents in diesen Zeiten der Finanz- und Wirtschaftskrise, in einem Augenblick der Identitätsprobleme und der globalisierten Moral, in diesem sonderbaren Moment, da, wenn man den Demagogen Glauben schenkt, die europäische Idee am besten ausrangiert werden sollte.
Man weiß ja nie, woher das Schlechteste gerade kommt.
Im Dunkel der Geschichte, die sich gerade ereignet, kann man den Sinn, den Effekt und die Tragweite eines Ereignisses nie sofort ermessen.
In der Epoche des Internets, unter der neuen politischen Herrschaft, welche auf Gedeih und Verderb jene der souveränen "sozialen Netzwerke" ist, in diesem Moment, wo jeder mit jedem kommuniziert und wo ein dünner, aber enger Draht jemanden wie Marine Le Pen mit irgendeinem Extremistenführer in Thüringen, Flandern, Norditalien oder eben mit Viktor Orbán verbinden kann, da ist es nicht unvorstellbar, dass sich in Europa eine wachsende Zahl von Leuten findet, die in diesem ungarischen Laboratorium die Umsetzung ihres immer weniger geheimen Projektes erkennen: Europa loszuwerden, es aufzulösen und bei dieser Gelegenheit gleich einige demokratische Regeln abzuschütteln, die man wie in den Dreißigerjahren in Krisenzeiten für unangemessen hält.
Auch deshalb ist es dringend notwendig zu handeln.
Regierungen, Oppositionsführer, erklärte oder nicht erklärte Kandidaten für diese oder jene Wahl, europäische Verantwortliche auf der Linken wie auf der Rechten: Sie alle geht an, was in Budapest geschieht. Auch für sie und für ihre Völker läutet dort die Totenglocke der Freiheit. Und deshalb erwarten wir von ihnen sehr rasch unmissverständliche und starke Worte der Verurteilung.
Nun gibt es heute mitten in Europa ein Land, dessen Regierung die Medien knebelt, das Sozial- und Gesundheitssystem demontiert, Arme kriminalisiert und Rechte infrage stellt, die man für längst etabliert hielt, wie etwa das Recht auf Abtreibung. Es gibt ein Land, das den stumpfsten Chauvinismus, den abgetretensten Populismus und immer offener den Hass auf Sinti, Roma und Juden wieder aufleben lässt. Diese werden wie in den dunkelsten Stunden der Geschichte des Kontinents zu Sündenböcken für all das gemacht, was nicht mehr funktioniert.
Es gibt ein Land, in dem man im Begriff ist, im Namen eines Zugehörigkeitsprinzip, das man ethnisch oder rassisch nennen muss, ein Wahlrecht einzurichten, das man mit dem Nationalsozialismus für ausgestorben hielt und das allen "Nationsangehörigen" das Stimmrecht gewährt, die keine Staatsbürger sind, sondern irgendwo in Europa verteilt leben.
Bei diesem Land handelt es sich um Ungarn. Und dieses Mal sagt Europa nichts.
Die Leser des wunderbaren Buchs "Die Misere der osteuropäischen Kleinstaaterei" des ungarischen Autors István Bibó kennen jenen Cocktail aus nationaler Obsession, Opferpatriotismus und kollektivem Schmerzempfinden nur zu gut, der aus der ungarischen Nation - wie im Übrigen auch aus der polnischen oder der bulgarischen - eine Art Christus der Nationen macht, der sich berufen fühlt, wie unter dem guten König Stephan gegen die Osmanen zu kämpfen und die bedrohte Zivilisation zu schützen und zu erneuern.
Die Leser des Meisterwerkes "Donau. Biographie eines Flusses" von Claudio Magris wissen, wie diese Geschichte des Volkes - inakzeptabel die Methode, den "Auslandsungarn" dieselben Rechte zu gewähren wie jenen im Inneren, und vor allem die Masche, zu behaupten, dass es dort, an den Grenzen, um die Seele des Volkes und seine heiligste Wahrheit gehe - eine ganz alte Geschichte wieder ertönen lässt: die transsilvanische Frage, die in Ungarn wie in Rumänien nach wie vor die Gemüter erhitzt.
Allgemeiner betrachtet und über die Region hinaus wird jemand, der ein etwas feineres Gehör hat, nicht verkennen können, dass in dieser Art des Nationalismus, in der Definition der Nation als einer geweihten, ruhmreichen Einheit, die im Herzen verwundet und im Innersten verletzt wurde und die danach eine Art Gläubiger geworden ist, der von der Welt verlangt, dass die Erniedrigung wiedergutgemacht werde, kurz: in diesem Essenzialismus, der aus der nationalen Gemeinschaft ein göttliches Geschöpf macht, eine quasi mythische Entität, ein einheitliches Wesen, das von sich selbst getrennt ist und dessen verlorene Reinheit dringend wiedergefunden werden muss, nein, niemand kann darin die Steigerungsform eines Gedankens verkennen, der seit den Dreißigerjahren den Kern sämtlicher Formen des Faschismus ausgemacht hat.
Ich glaube nicht, dass wir uns schon dort befinden.
Ich glaube nicht, dass dieses Europa (das ich wie Milan Kundera lieber "Zentraleuropa" als "Osteuropa" nenne) sich schon von jener anderen Berufung abgewandt hat, die vor mehr als 20 Jahren auf der Kettenbrücke in Budapest ebenso wie auf dem Wenzelsplatz in Prag ausgedrückt wurde: "Wir wollen nach Europa zurückkehren."
Es ist eine Tatsache, dass in Ungarn noch eine ziemlich lebendige Opposition verbleibt, die vergangene Woche hinter dem Schriftsteller György Konrád und anderen eine schöne Demonstration zur Unterstützung der Demokratie organisieren konnte - und damit zugleich zur Unterstützung der europäischen Idee, denn das kommt auf dasselbe hinaus.
Dennoch ist unbestreitbar, dass es Grund gibt, über diese tyrannische, antieuropäische und faschistoide Verirrung beunruhigt zu sein.
Und ich befürchte, dass der Alarm nicht nur für Ungarn gilt, sondern auch für den Rest des Kontinents in diesen Zeiten der Finanz- und Wirtschaftskrise, in einem Augenblick der Identitätsprobleme und der globalisierten Moral, in diesem sonderbaren Moment, da, wenn man den Demagogen Glauben schenkt, die europäische Idee am besten ausrangiert werden sollte.
Man weiß ja nie, woher das Schlechteste gerade kommt.
Im Dunkel der Geschichte, die sich gerade ereignet, kann man den Sinn, den Effekt und die Tragweite eines Ereignisses nie sofort ermessen.
In der Epoche des Internets, unter der neuen politischen Herrschaft, welche auf Gedeih und Verderb jene der souveränen "sozialen Netzwerke" ist, in diesem Moment, wo jeder mit jedem kommuniziert und wo ein dünner, aber enger Draht jemanden wie Marine Le Pen mit irgendeinem Extremistenführer in Thüringen, Flandern, Norditalien oder eben mit Viktor Orbán verbinden kann, da ist es nicht unvorstellbar, dass sich in Europa eine wachsende Zahl von Leuten findet, die in diesem ungarischen Laboratorium die Umsetzung ihres immer weniger geheimen Projektes erkennen: Europa loszuwerden, es aufzulösen und bei dieser Gelegenheit gleich einige demokratische Regeln abzuschütteln, die man wie in den Dreißigerjahren in Krisenzeiten für unangemessen hält.
Auch deshalb ist es dringend notwendig zu handeln.
Regierungen, Oppositionsführer, erklärte oder nicht erklärte Kandidaten für diese oder jene Wahl, europäische Verantwortliche auf der Linken wie auf der Rechten: Sie alle geht an, was in Budapest geschieht. Auch für sie und für ihre Völker läutet dort die Totenglocke der Freiheit. Und deshalb erwarten wir von ihnen sehr rasch unmissverständliche und starke Worte der Verurteilung.
Dienstag, 3. Januar 2012
Demokratie
micha brumlik Als präzise und differenziert gilt, wer den
Zustand westlicher Gesellschaften als "postdemokratisch" bezeichnet. Der
Begriff suggeriert eine begründete Beunruhigung. Einer der
bedeutenderen Theoretiker der "Postdemokratie", Colin Crouch, will ihren
Zustand so bestimmen: "In einer Postdemokratie, in der immer mehr Macht
an die Lobbyisten der Wirtschaft übergeht, stehen die Chancen schlecht
für egalitäre politische Projekte zur Umverteilung von Wohlstand und
Macht sowie die Eindämmung des Einflusses mächtiger Interessengruppen."
Freilich ist Crouch, im Unterschied zu vielen, die seine Theorie im Munde führen, vorsichtig genug einzuräumen, dass der Zustand der Postdemokratie keinesfalls erreicht ist, sondern nur, dass Tendenzen auf diesen Zustand hin bestehen. Aber sogar, wenn der noch gar nicht eingetretene Zustand "Postdemokratie" richtig beschrieben wäre, fragt sich noch immer, wann und unter welchen Umständen tatsächlich Demokratie herrschte.
1967 publizierten Johannes Agnoli und Peter Brückner ihr Buch "Transformation der Demokratie", später als "Bibel der APO" bezeichnet. In der Bundesrepublik herrschte eine große Koalition mit dem ehemaligen Nationalsozialisten Kiesinger als Kanzler und Willy Brandt als Außenminister. Zuvor war das Land von schwarz-gelben Koalitionen unter Konrad Adenauer und Ludwig Erhardt regiert worden. Was also hatte sich wann transformiert? Für Agnoli/ Brückner war schon der Parlamentarismus selbst - so Stephan Grigat - "eine spezielle Form der Repräsentation von Herrschaft, die mittels des Wahlaktes die Illusion der Selbstbestimmung der Beherrschten aufrechterhält". In der Sicht von Agnoli/Brückner stellte schon die parlamentarische Demokratie, die Crouch bewahren will, eine Form der "Postdemokratie" dar.
Kaum anders sah es der französische Philosoph Jacques Rancière, der den Begriff "Postdemokratie" lange vor Crouch geprägt hat. Rancière hält in seiner Schrift über das "Unvernehmen" (1995) sogar eine "funktionierende" Demokratie im Sinne Crouchs nur für eine Polizeiordnung. Er bestimmt "Postdemokratie" als "Regierungspraxis und begriffliche Legitimierung einer Demokratie nach dem Demos, einer Demokratie, die die Erscheinung, die Verrechnung und den Streit des Volkes liquidiert hat".
Agnoli/Brückner, Rancière, Crouch - im Westen nichts Neues! Die Klage, dass die repräsentative parlamentarische Demokratie nicht wirklich demokratisch sei, begleitet diese Herrschaftsform wie ein Schatten - schon Marx und Engels waren 1848 im "Kommunistischen Manifest" der Überzeugung, dass erst die proletarische Revolution die wahre Demokratie erkämpfen werde. Freilich fand diese Klage stets zwei miteinander nicht verträgliche Ausdrucksformen, eine Verfallsmetapher und eine messianische Metapher: Während die einen suggerieren, Demokratien habe es irgendwann einmal tatsächlich gegeben, behaupten die anderen, dass sie unter kapitalistischen Verhältnissen nicht möglich und unter kommunistischen nicht nötig sei.
Messianisch löst Jacques Derrida das Problem, wenn er 1993 in seinem Buch "Voyous" (Schurken) von der "démocratie à venir" schreibt; also von der je im Kommen begriffenen Demokratie, einer ewig bevorstehenden Zukunft, die aber nicht als "regulative Idee" verstanden werden darf. Das "Kommende" bezeichnet für Derrida "nicht nur das Versprechen, sondern auch, dass die Demokratie niemals existieren wird im Sinne gegenwärtiger Existenz: nicht nur weil sie aufgeschoben wird, sondern auch, weil sie in ihrer Struktur stets aporetisch bleiben wird".
Apokalyptiker helfen in krisenhaften Zeiten ebenso wenig weiter wie Messianiker, obwohl beiden gelegentlich interessante Impulse zu verdanken sind. Was das demokratische Herrschaftssystem und seine Krisen angeht, ist man daher bei dem 1831 die USA bereisenden französischen Aristokraten Alexis de Tocqueville nach wie vor besser aufgehoben. Tocqueville gab seiner Leserschaft in der Einleitung zu seinem Buch "Über die Demokratie in Amerika" Folgendes mit auf den Weg: "Die Demokratie belehren, wenn möglich ihren Glauben beleben, ihre Sitten läutern, ihre Bewegungen ordnen, nach und nach ihre Unerfahrenheit durch praktisches Wissen, die blinden Regungen durch Kenntnis ihrer wahren Vorteile ersetzen; ihre Regierungsweise den Umständen der Zeit und des Ortes anpassen; sie je nach Verhältnissen und Menschen ändern: das ist die erste Pflicht, die heute den Lenkern der Gesellschaft auferlegt ist." Konsequent demokratisch gedacht wäre zu ergänzen, dass in einer Demokratie die "Lenker der Gesellschaft" alle ihre BürgerInnen sind.
Freilich ist Crouch, im Unterschied zu vielen, die seine Theorie im Munde führen, vorsichtig genug einzuräumen, dass der Zustand der Postdemokratie keinesfalls erreicht ist, sondern nur, dass Tendenzen auf diesen Zustand hin bestehen. Aber sogar, wenn der noch gar nicht eingetretene Zustand "Postdemokratie" richtig beschrieben wäre, fragt sich noch immer, wann und unter welchen Umständen tatsächlich Demokratie herrschte.
1967 publizierten Johannes Agnoli und Peter Brückner ihr Buch "Transformation der Demokratie", später als "Bibel der APO" bezeichnet. In der Bundesrepublik herrschte eine große Koalition mit dem ehemaligen Nationalsozialisten Kiesinger als Kanzler und Willy Brandt als Außenminister. Zuvor war das Land von schwarz-gelben Koalitionen unter Konrad Adenauer und Ludwig Erhardt regiert worden. Was also hatte sich wann transformiert? Für Agnoli/ Brückner war schon der Parlamentarismus selbst - so Stephan Grigat - "eine spezielle Form der Repräsentation von Herrschaft, die mittels des Wahlaktes die Illusion der Selbstbestimmung der Beherrschten aufrechterhält". In der Sicht von Agnoli/Brückner stellte schon die parlamentarische Demokratie, die Crouch bewahren will, eine Form der "Postdemokratie" dar.
Kaum anders sah es der französische Philosoph Jacques Rancière, der den Begriff "Postdemokratie" lange vor Crouch geprägt hat. Rancière hält in seiner Schrift über das "Unvernehmen" (1995) sogar eine "funktionierende" Demokratie im Sinne Crouchs nur für eine Polizeiordnung. Er bestimmt "Postdemokratie" als "Regierungspraxis und begriffliche Legitimierung einer Demokratie nach dem Demos, einer Demokratie, die die Erscheinung, die Verrechnung und den Streit des Volkes liquidiert hat".
Agnoli/Brückner, Rancière, Crouch - im Westen nichts Neues! Die Klage, dass die repräsentative parlamentarische Demokratie nicht wirklich demokratisch sei, begleitet diese Herrschaftsform wie ein Schatten - schon Marx und Engels waren 1848 im "Kommunistischen Manifest" der Überzeugung, dass erst die proletarische Revolution die wahre Demokratie erkämpfen werde. Freilich fand diese Klage stets zwei miteinander nicht verträgliche Ausdrucksformen, eine Verfallsmetapher und eine messianische Metapher: Während die einen suggerieren, Demokratien habe es irgendwann einmal tatsächlich gegeben, behaupten die anderen, dass sie unter kapitalistischen Verhältnissen nicht möglich und unter kommunistischen nicht nötig sei.
Messianisch löst Jacques Derrida das Problem, wenn er 1993 in seinem Buch "Voyous" (Schurken) von der "démocratie à venir" schreibt; also von der je im Kommen begriffenen Demokratie, einer ewig bevorstehenden Zukunft, die aber nicht als "regulative Idee" verstanden werden darf. Das "Kommende" bezeichnet für Derrida "nicht nur das Versprechen, sondern auch, dass die Demokratie niemals existieren wird im Sinne gegenwärtiger Existenz: nicht nur weil sie aufgeschoben wird, sondern auch, weil sie in ihrer Struktur stets aporetisch bleiben wird".
Apokalyptiker helfen in krisenhaften Zeiten ebenso wenig weiter wie Messianiker, obwohl beiden gelegentlich interessante Impulse zu verdanken sind. Was das demokratische Herrschaftssystem und seine Krisen angeht, ist man daher bei dem 1831 die USA bereisenden französischen Aristokraten Alexis de Tocqueville nach wie vor besser aufgehoben. Tocqueville gab seiner Leserschaft in der Einleitung zu seinem Buch "Über die Demokratie in Amerika" Folgendes mit auf den Weg: "Die Demokratie belehren, wenn möglich ihren Glauben beleben, ihre Sitten läutern, ihre Bewegungen ordnen, nach und nach ihre Unerfahrenheit durch praktisches Wissen, die blinden Regungen durch Kenntnis ihrer wahren Vorteile ersetzen; ihre Regierungsweise den Umständen der Zeit und des Ortes anpassen; sie je nach Verhältnissen und Menschen ändern: das ist die erste Pflicht, die heute den Lenkern der Gesellschaft auferlegt ist." Konsequent demokratisch gedacht wäre zu ergänzen, dass in einer Demokratie die "Lenker der Gesellschaft" alle ihre BürgerInnen sind.
Montag, 2. Januar 2012
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