Freilich ist Crouch, im Unterschied zu vielen, die seine Theorie im Munde führen, vorsichtig genug einzuräumen, dass der Zustand der Postdemokratie keinesfalls erreicht ist, sondern nur, dass Tendenzen auf diesen Zustand hin bestehen. Aber sogar, wenn der noch gar nicht eingetretene Zustand "Postdemokratie" richtig beschrieben wäre, fragt sich noch immer, wann und unter welchen Umständen tatsächlich Demokratie herrschte.
1967 publizierten Johannes Agnoli und Peter Brückner ihr Buch "Transformation der Demokratie", später als "Bibel der APO" bezeichnet. In der Bundesrepublik herrschte eine große Koalition mit dem ehemaligen Nationalsozialisten Kiesinger als Kanzler und Willy Brandt als Außenminister. Zuvor war das Land von schwarz-gelben Koalitionen unter Konrad Adenauer und Ludwig Erhardt regiert worden. Was also hatte sich wann transformiert? Für Agnoli/ Brückner war schon der Parlamentarismus selbst - so Stephan Grigat - "eine spezielle Form der Repräsentation von Herrschaft, die mittels des Wahlaktes die Illusion der Selbstbestimmung der Beherrschten aufrechterhält". In der Sicht von Agnoli/Brückner stellte schon die parlamentarische Demokratie, die Crouch bewahren will, eine Form der "Postdemokratie" dar.
Kaum anders sah es der französische Philosoph Jacques Rancière, der den Begriff "Postdemokratie" lange vor Crouch geprägt hat. Rancière hält in seiner Schrift über das "Unvernehmen" (1995) sogar eine "funktionierende" Demokratie im Sinne Crouchs nur für eine Polizeiordnung. Er bestimmt "Postdemokratie" als "Regierungspraxis und begriffliche Legitimierung einer Demokratie nach dem Demos, einer Demokratie, die die Erscheinung, die Verrechnung und den Streit des Volkes liquidiert hat".
Agnoli/Brückner, Rancière, Crouch - im Westen nichts Neues! Die Klage, dass die repräsentative parlamentarische Demokratie nicht wirklich demokratisch sei, begleitet diese Herrschaftsform wie ein Schatten - schon Marx und Engels waren 1848 im "Kommunistischen Manifest" der Überzeugung, dass erst die proletarische Revolution die wahre Demokratie erkämpfen werde. Freilich fand diese Klage stets zwei miteinander nicht verträgliche Ausdrucksformen, eine Verfallsmetapher und eine messianische Metapher: Während die einen suggerieren, Demokratien habe es irgendwann einmal tatsächlich gegeben, behaupten die anderen, dass sie unter kapitalistischen Verhältnissen nicht möglich und unter kommunistischen nicht nötig sei.
Messianisch löst Jacques Derrida das Problem, wenn er 1993 in seinem Buch "Voyous" (Schurken) von der "démocratie à venir" schreibt; also von der je im Kommen begriffenen Demokratie, einer ewig bevorstehenden Zukunft, die aber nicht als "regulative Idee" verstanden werden darf. Das "Kommende" bezeichnet für Derrida "nicht nur das Versprechen, sondern auch, dass die Demokratie niemals existieren wird im Sinne gegenwärtiger Existenz: nicht nur weil sie aufgeschoben wird, sondern auch, weil sie in ihrer Struktur stets aporetisch bleiben wird".
Apokalyptiker helfen in krisenhaften Zeiten ebenso wenig weiter wie Messianiker, obwohl beiden gelegentlich interessante Impulse zu verdanken sind. Was das demokratische Herrschaftssystem und seine Krisen angeht, ist man daher bei dem 1831 die USA bereisenden französischen Aristokraten Alexis de Tocqueville nach wie vor besser aufgehoben. Tocqueville gab seiner Leserschaft in der Einleitung zu seinem Buch "Über die Demokratie in Amerika" Folgendes mit auf den Weg: "Die Demokratie belehren, wenn möglich ihren Glauben beleben, ihre Sitten läutern, ihre Bewegungen ordnen, nach und nach ihre Unerfahrenheit durch praktisches Wissen, die blinden Regungen durch Kenntnis ihrer wahren Vorteile ersetzen; ihre Regierungsweise den Umständen der Zeit und des Ortes anpassen; sie je nach Verhältnissen und Menschen ändern: das ist die erste Pflicht, die heute den Lenkern der Gesellschaft auferlegt ist." Konsequent demokratisch gedacht wäre zu ergänzen, dass in einer Demokratie die "Lenker der Gesellschaft" alle ihre BürgerInnen sind.
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