barbara spengler-axiopoulos Griechenland – ein Besuch im Krisengebiet - Pater Wassilis hat Zahnschmerzen. Er sollte längst beim Arzt sein,
aber an diesem Morgen hat er fünfzehn neue Anträge vorliegen. Von
Menschen, die in der Kirchengemeinde von Agia Triada in Thessaloniki an
der mittäglichen Armenspeisung teilnehmen möchten. Ewa Liakou küsst ihm
respektvoll die rechte Hand, dann huscht sie in die Küche. Jeden Morgen
ab halb acht wird hier gekocht mit Spendengeldern, aber auch die sind
weniger geworden. Heute gibt es gefüllte Paprika mit Reis, vier Frauen
bereiten täglich die Mahlzeiten. Eben hat Ewa ein paar Handvoll
kleingeschnittener Zwiebeln in das dampfende Olivenöl geworfen. 160
Essen werden jeden Mittag ausgegeben, und die Nachfrage steigt. In allen
Kirchengemeinden Griechenlands gibt es mittlerweile kostenlose
Mahlzeiten für Bedürftige, in Athen sollen es täglich 13 000 Menschen
sein, die kommen. In Thessaloniki, der zweitgrössten Stadt
Griechenlands, dürften es ein paar tausend weniger sein.
«Wir sprechen heute von Neuarmen», sagt Sofia Ferentzi, eine der
Frauen, die helfen. Täglich brechen Existenzen weg. Das Arbeitslosengeld
von 461 Euro wird höchstens für ein Jahr ausgezahlt. Laut Statistik
lebt heute jeder fünfte Grieche unterhalb der Armutsgrenze. Früher, sagt
Pater Wassilis, seien nur Migranten und Flüchtlinge zu ihnen gekommen.
Heute seien es die Griechen selbst, die hungerten. Seit der neuen
Immobiliensteuer, die zusammen mit der Stromrechnung erhoben wird,
schliesst ein Laden nach dem anderen, sitzen Menschen ohne Elektrizität
und Wärme in ihren Wohnungen. Wer keine Steuern zahlt, dem wird der
Strom abgedreht.
Auch die, die nichts haben, müssen zahlen. Ewa und Sofia haben klare
Vorgaben. Sie lassen sich einen Steuerbescheid vorlegen, den Lohnzettel
und den Personalausweis. Dann erst wird entschieden, wer mitessen darf.
Jeden Nachmittag machen sie Hausbesuche, verteilen Medikamente, die
viele nicht mehr bezahlen können. Sie besuchten neulich eine junge Frau,
der man den Stromzähler abmontiert hatte. Armut provoziert Scham. Viele
holten sich ihr Essen heimlich ab, sagen die Frauen. Die neu Verarmten
seien viel zu stolz, als dass sie wahrgenommen werden wollten. Die
drakonischen Sparmassnahmen haben den kleinen Leuten das letzte bisschen
Würde genommen.
«Ich habe hier schon viele Krisen miterlebt. Die Krise der Baumwolle,
die Krise der Textilbranche, die Wirtschaftskrise und jetzt die
schwerste, die Krise Griechenlands.» Das sagt die 28-jährige Cécile
Varvaressos, Wirtschaftsingenieurin und zuständig für Import und Export
der familieneigenen Baumwollspinnerei in Naoussa, Nordgriechenland. Vor
zwanzig Jahren war dies noch eine aufstrebende Region, und die Bewohner
des Städtchens nannten ihr Naoussa «das kleine Manchester des Balkans».
Heute ist Varvaressos das letzte Unternehmen, das Kreuzspulen
produziert, und es hat seinen Betrieb um die Hälfte, auf 196
Mitarbeiter, verkleinern müssen. Denn die Kreuzspule von Naoussa, zwei
bis zweieinhalb Kilo schwer und aus feinster griechischer Baumwolle, ist
bedroht.
Daran sind nicht allein die Globalisierung und die Konkurrenz aus
asiatischen Ländern schuld. Dem griechischen Markt fehle es an
Liquidität, sagt der technische Leiter, Stergios Pantermas. Ausländische
Lieferanten arbeiteten nur noch ungern mit griechischen Unternehmen
zusammen, und wenn, dann nur gegen Vorauszahlung. Das Unternehmen konnte
bis heute überleben, weil es rechtzeitig auf andere ökologische
Faserstoffe wie Modal umstellte, das aus dem nachwachsenden Rohstoff
Buchenholz gewonnen wird. Die Produktionskosten und die Lohnnebenkosten
sind hoch: Cécile wedelt mit einer Pressenotiz, in der die Unternehmer
Nordgriechenlands an Finanzminister Venizelos appellieren, die
Energiekosten zu senken: Schlechte Aussichten für die Branche, wenn man
bedenkt, dass die Troika, wie hier die Expertenkommission aus EU, EZB
und IMF genannt wird, die Privatisierung der grossen staatlichen
Unternehmen zur Vorbedingung für die Auszahlung der nächsten
Kredittranche machte. Dazu gehören neben der Fernmeldegesellschaft OTE
auch die Elektrizitätswerke DEI, deren hoch privilegierte
Gewerkschaftsbosse sich seit Monaten in Kampfrhetorik üben. Es ist
jedoch zweifelhaft, ob bei einer Privatisierung der DEI die Stromkosten
überhaupt gesenkt würden.
Die tapfere Cécile Varvaressos sagt, die meisten ihrer gleichaltrigen
Freunde seien arbeitslos. Einige seien schon im Ausland, andere auf dem
Absprung dorthin: «In zwanzig Jahren will ich sagen können, es hat sich
gelohnt, dass ich hier in Naoussa im Familienunternehmen geblieben
bin.»
In Thessaloniki, einer lebensfrohen und dynamischen Stadt, umwerben
die Geschäftsleute ihre Kunden. Das Kino Kolossaion, das den neuesten
Film mit Tilda Swinton zeigt, bietet seinen Besuchern von Montag bis
Donnerstag eine Eintrittskarte für zwei Personen. Im Café Elektra
Palace, wo ein Cappuccino früher 4 Euro 50 kostete, ist er heute für 1
Euro 50 zu haben. Ein Friseur versucht es mit Galgenhumor: Eine
Karikatur im Schaufenster zeigt Merkel und Sarkozy mit einer Schere,
darunter steht: «Kommt zum Haircut zu Moritz, der kann es am besten!»
Ein Witz zur Krise lautet: Ein junger Arbeitsloser mit
Universitätsdiplom sagt zu einem Studienfreund, der Arbeit gefunden hat:
«Ein Gyros mit Fladenbrot, bitte!»
In den Cafés sitzen die Rentner an milden Wintertagen draussen und
diskutieren über die Krise, worüber denn sonst? In den sonnenhellen
Mittag fallen Sätze wie: «Ich möchte fünfzig Politiker im Gefängnis
sehen!» oder «Wer ist schuld, dass unser Land am Abgrund steht? Drei
Politikerfamilien haben unser Land ruiniert . . .»
Der 65-jährige Aris Siafaras, Physiker und Fernmeldetechniker, ist an
der Hafenpromenade unterwegs, um sich mit seinen Freunden zu treffen.
Er hat dreissig Prozent seiner Rente eingebüsst, das 13. und das 14.
Monatsgehalt wurden ihm gestrichen, und auch die sogenannte Hilfsrente
soll um zwanzig Prozent gekürzt werden. Mit alledem könne er leben, sagt
Siafaras, ein zierlicher Mann mit weissem Schnurrbart. Bitter sei, dass
sein Lebensplan der falsche gewesen sei. Ein Leben lang hätten seine
Frau und er in die Ausbildung der beiden Töchter investiert, sie
jahrelang zum Arbeiten und Lernen angehalten. «Aber dies ist ein
korruptes System, die Professoren waren bestechlich, und die Examen von
Lydia und Ioanna sind heute nichts wert!» Noch schlimmer sei, fügt er
hinzu, dass alle dieses Spiel mitgespielt hätten. Einige tausend Euro
pro Tochter habe er im Jahr für Frontistiria, Nachhilfeschulen, die auf
die Universitätsprüfung vorbereiten, ausgegeben. Beide Töchter sind
hochqualifiziert und arbeitslos, die 28-jährige Lydia macht ein
Aufbaustudium als Elektroingenieurin in Wien, die 26-jährige Ioanna,
Agronomin, nimmt an einem Erasmus-Programm zur Förderung lokaler
Produkte in Angers in Frankreich teil. Kürzlich schrieb die OTE 700
Stellen für Telefonisten aus. Es bewarben sich über 32 000 junge Leute,
die meisten von ihnen hatten einen Universitätsabschluss. Was Soziologen
«Braindrain» nennen, das Abwandern der jungen Intelligenz, ist für
viele Griechen der düsterste Aspekt dieser allumfassenden Krise.
Nikos K. ist Herr über unzählige vermietete und unvermietete
Immobilien. Bis vor zwei Jahren war er ein erfolgreicher Bauingenieur
und Bauunternehmer mit einem mindestens sechsstelligen Jahreseinkommen.
Zwischen 2002 und 2008 erhielt er die meisten Bauaufträge von der
öffentlichen Hand, er baute Altersheime und Schulen. Aber auch jene
rechteckigen Kästen, die wie Polypen in die Stadtlandschaft
hineinwuchern und sie in ein gesichtsloses Häusermeer verwandelten.
Denen historische Denkmäler wichen und in deren Nachbarschaft sich
traurige byzantinische Kirchlein ducken müssen. Vielleicht ist er für
diese Entwicklung nicht verantwortlich, aber wie andere Unternehmer
profitierte er jahrzehntelang von dem Bauboom, den alle griechischen
Regierungen hätschelten und förderten.
Die Bauindustrie, früher einer der wichtigsten Wirtschaftszweige
Griechenlands, ist kollabiert. Darunter leiden auch Handwerker wie
Zimmerleute, Fliesenleger, Installateure und Elektriker. Nikos K.
schätzt, dass um die fünfzig Berufsgruppen davon betroffen sind. Viele
Rechnungen für öffentliche Aufträge sind bis heute unbezahlt. Die vielen
verschiedenen Immobiliensteuern sind für die meisten Besitzer
inzwischen nicht mehr bezahlbar. Sie haben den gesamten Markt
paralysiert und treffen den Besitzer einer Zwei-Zimmer-Wohnung mit einer
Rente von 650 Euro ebenso wie den Besitzer einer grossen Immobilie, die
unvermietet ist. Zahlen muss jeder. Der Staat, ein gefrässiger und
lethargischer Koloss, richtet seine Bürger mit einer sinnlosen und
ungerechten Steuerpolitik zugrunde. Für Nikos K. ist es eine systemische
Krise, die das Land heimgesucht hat, der Spekulations- und
Immobilienwahn der Griechen richte sich jetzt gegen sie selbst:
«Überspitzt formuliert kann man sagen, dass die Leute Wohnungen für
Kinder kauften, die sie später bekommen würden! Diese Mentalität ist
heute unser Fluch.»
Die Piramatikí Skiní tis Téchnis, eines der interessantesten und
experimentierfreudigsten Theater Griechenlands, ist verwaist. Das
Gebäude in der Odos Amalia in Thessaloniki ist geschlossen, denn seit
zwei Jahren kann es seine Miete nicht mehr bezahlen, und seit zwei
Jahren wurden auch die Schauspieler nicht bezahlt. Eleni Dimopoulou ist
seit fast dreissig Jahren Mitglied des renommierten Ensembles und eine
leidenschaftliche Schauspielerin. Zwei Jahre haben sie und ihre Kollegen
umsonst gearbeitet, vierzehn Inszenierungen haben sie in dieser Zeit
aufgeführt. Und immer wieder haben sie Hoffnung geschöpft, wenn ein
Brief aus Athen kam, in dem ihnen staatliche Hilfe versprochen wurde.
Das Theater steht heute mit 250 000 Euro Schulden da. Wovon die bezahlt
werden sollen, weiss sie nicht. Aber sie sieht, dass heute alle auf dem
gleichen Niveau sind, denn auch die früher Wohlhabenden sind schwer von
der Krise betroffen. Und sie freut sich, dass es plötzlich in der Stadt
unzählige freie Theatergruppen gibt, in allen möglichen Kellerlöchern
wird gespielt, denn jetzt habe man ja nichts mehr zu verlieren. Ihre
Hoffnung ist der neue Bürgermeister Thessalonikis, Jannis Boutaris, ein
parteiloser Politiker, der sich dafür einsetzt, dass das Theater eine
Spielstätte im Hafengelände bekommt.
Eleni Dimopoulous Lieblingsrolle ist die der blinden Molly Sweeney,
einer Figur des irischen Dramatikers Brian Friel. Wie eine Besessene hat
sie sich in deren Lebenswelt eingearbeitet, erspürt und ertastet, wie
sich ein Leben in völliger Dunkelheit anfühlen könnte. Als Molly nach
einer Operation wieder sehen kann, ist sie von dem, was sie wahrnimmt,
enttäuscht. Eleni Dimopoulou sagt heute, dass die Krise für die Griechen
ein böses Erwachen gewesen sei. «Vielleicht wollten wir die Realität
gar nicht sehen.»
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