Felix Trautmann
Das Projekt «Volksherrschaft» Die leere und imaginäre Mitte
NZZ Dossier: Volksherrschaft Mittwoch, 29. Mai 2013
Das Volk, das über sich herrscht, muss zuallererst zum Volk werden. Wie dies geschehe und mit welchen Mitteln, darauf hat es in der Geschichte der Demokratie vielerlei Antworten gegeben. «Das Volk» blieb dabei stets eine imaginäre Einheit.
Die Herrschaft des Volkes ist mehr als die Summe ihrer institutionellen Verfahren und rechtsstaatlichen Prinzipien. Sie ist auch die Manifestation des Volkes als Volk. In der verfassunggebenden Formel «Wir, das Volk» bleibt jedoch zunächst unklar, wie sich dieses «Wir» formiert. Die Frage Rousseaus – «Wie wird ein Volk zum Volk?» – lässt zunächst die eigentümliche Verdopplung in der Selbstbezugnahme erkennen. Für die demokratische Konstituierung des Volkes ist bis heute die Vorstellung entscheidend, dass das Volk im Akt seiner «Instituierung», gemäss dem lateinischen «instituere», seinen eigenen Anfang setzt. Dazu muss es in gewisser Weise schon da sein, und doch wird es erst durch diesen Akt, was es fortan bleibt: das verfasste Volk. «Wir» sind bereits das Volk – und: werden es erst.
Ein Paradox und ein Volksfest
Die Volksherrschaft beginnt mit diesem Paradox. Versuche, es aufzulösen, gibt es zahlreiche: Während konservative Modelle von einer Substanz ausgehen, die in einem bestimmten Kollektiv bereits kulturell angelegt sei und sich schliesslich nur noch politisch zu artikulieren habe, nehmen liberale Modelle an, dass das Volk der vertragliche Verbund von Individuen sei, die einander zunächst egoistisch und ungeschützt gegenübergestanden seien. Indem beide Modelle so den Gründungsakt seines Paradoxes berauben, entschärfen sie jedoch, was «Volk» im demokratischen Sinne ist und sein kann.
Für Rousseau war klar, dass die Antwort auf seine Frage nach dem Werden des Volkes im Verweis auf die lebendige Stimme des Gemeinwillens gefunden werden könne. Sie allein vermöge das gesellschaftliche Band zu stiften, durch welches das Gemeinwohl zum Gegenstand der Politik werde. Damit die Stimme der «volonté générale» nicht verstummt und damit sich Regierende und Regierte als Freie und Gleiche begegnen können, muss ein «lien social» jedoch allererst gestiftet werden. Dieses soziale Band kann dabei durchaus als die Selbstdarstellung des Volkes beschrieben werden, in der und durch die sich alle anerkennen. Die Differenz von Zuschauer und Darsteller, die das Volk zu spalten droht, muss zu diesem Zweck aufgehoben werden. Rousseaus Beschreibung des Bürgerfests, in dem die Zuschauer selbst zu Darstellern werden und ihre eigene Darstellung finden, kommt dem am nächsten: «Pflanzt in der Mitte eines Platzes einen mit Blumen bekränzten Baum auf, versammelt dort das Volk, und ihr werdet ein Fest haben», schreibt er in seinem «Brief an Herrn d'Alembert».
Nun könnte dies leicht als Aufruf zur ekstatischen Verschmelzung des Volkes missverstanden werden. Das Bürgerfest ist jedoch gerade nicht der Prototyp einer totalitären Beschwörung des Volkswesens, sondern handelt vielmehr von der Schwierigkeit, das Volk und seinen Gemeinwillen dingfest zu machen. Der Gegenstand des Festes ist sogar genaugenommen, so Rousseaus lapidare Feststellung: «nichts» – «rien, si l'on veut».
Erschafft sich also das Volk, gleichsam vorbildlos, aus nichts? Oder dreht sich der Akt der Selbstsetzung um mehr als um dieses «nichts»? Wenn das Volk weniger ist als die Selbstvergewisserung einer «organisch» gegebenen Volksgemeinschaft, aber mehr als die blosse Versammlung von Einzelpersonen, kann auch Rousseaus Baum eine Rolle spielen. Selbst minimal geschmückt, scheint er wesentlich dafür zu sein, dass sich das Volk eine Mitte und mehr noch: eine Darstellung gibt. Doch wie erscheint darin nun der Gemeinwille? Wie erscheinen sich die Bürger als Teil dieses Volkes? Die Dimension des Erscheinens ist dabei durchaus ernst zu nehmen; an ihr hängt die Wirklichkeit des Volkes. Wenn das Volk nicht schon da ist, sondern immer erst erscheinen muss, stellt sich in seiner Mitte die offene Frage: «Wer ist Wir?»
In dieser Frage und den Versuchen ihrer Beantwortung wird die Gestalt des Volkes selbst zum Gegenstand des politischen Streits, jedoch ohne in einer einfachen Abstimmung endgültig entschieden werden zu können. Wer gehört dazu, wer nicht? Was sind die Bedingungen der Teilhabe, was die symbolischen, historischen oder kulturellen Referenzen des Volkes? Die Volksherrschaft umfasst folglich nicht nur die Auszählung der Stimmen, sondern auch den Prozess der symbolischen Selbstdarstellung des Volkes. Der für die Demokratie zentrale Begriff der Repräsentation umfasst, genau besehen, beides: sowohl die Stellvertretung im politischen Mandat als auch die Figuration des Volkes in seiner Erscheinung. Was der politische Willensbildungsprozess erzeugt, ist immer auch eine Vorstellung des politischen Kollektivs. In dieser Vorstellung, die stets konflikthaft, heterogen und bestreitbar bleibt, zeigt sich, dass das darin angerufene Volk ein imaginärer Bezugspunkt der Volksherrschaft ist. Imaginär, weil in der Repräsentation des Volkes etwas zur bildlichen Darstellung gebracht und damit fasslich wird, was im Volk zunächst abwesend ist. Zugleich wird in der Repräsentation etwas verdoppelt oder intensiviert, indem es im strengen Wortsinne repräsentiert, das heisst erneut gegenwärtig wird.
Unauffindbar
Es ist dieser Repräsentationszusammenhang – die Präsentierung eines Abwesenden sowie die Intensivierung oder Verdopplung eines bereits Anwesenden –, der in der Volksherrschaft selbst nicht aufgelöst werden kann. Dies dennoch tun zu können, bleibt der Irrglaube der basisdemokratischen Idee einer Aufhebung jeder Stellvertretung im Volk. Doch die Volksherrschaft kommt nicht ohne diesen doppelten Sinn der Repräsentation aus. Viel eher kann sie auf das Volk selbst, in seiner substanziellen Gestalt, verzichten. Die Demokratie ist daher in gewisser Weise, wie Catherine Colliot-Thélène betont hat, «ohne Volk» denkbar – sie ist, anders (und mit Pierre Rosanvallon) gesagt, die Herrschaft des Volks, das «unauffindbar» bleibt: «le peuple introuvable».
Aber – gibt es historisch gesehen nicht eine Vielzahl «auffindbarer» Völker? Handelt die Volksherrschaft neben der Deklaration des Rechts und seiner Prinzipien nicht auch von der Macht der Versammlung eines konkreten Volkes, das einen Namen trägt – und später auch eine Flagge, einen Festtag, ein kulturelles Gedächtnis, Persönlichkeiten und vieles mehr in seiner Mitte vorzuweisen hat? Wenn die Repräsentationen des Volkes etwas figuriert, was immer auch abwesend oder sogar undarstellbar bleibt, dann ist der Prozess der politischen Kollektivierung selbst nicht «nichts». Es scheint geradezu eine Notwendigkeit für den Baum und seine Umkränzung zu geben. Die Requisiten des Bürgerfests spielen somit eine unscheinbare und doch wichtige Rolle dabei, die Heterogenität des politischen Willens in eine symbolische Repräsentation des Volkes zu überführen. Die Erscheinung des Volks als Volk hängt so gesehen an der Formulierung, Zirkulation und Teilung seiner kollektiven und kollektivbildenden Symbole, die ebenso vielseitig wie immer wieder neu bestimmbar sind.
Doch wohnt solcher Selbstdarstellung auch eine problematische Dimension inne. Sie zeigt sich besonders dann, wenn die Mittel der Figuration dem politischen Streit oder einem Teil der zur Figuration Gehörigen entzogen werden. Besonders die nationalistischen, rassistischen und völkischen Repräsentationen des Volkes haben nicht nur gezeigt, inwieweit das Bild einer politischen Gemeinschaft auf dem Ausschluss anderer beruht, sondern auch, inwieweit es durch bestimmte Symbole selbst «naturalisiert» werden und so erstarren kann.
Das Problem liegt jedoch nicht im Akt des Figurierens selbst. Anstatt die Undarstellbarkeit des Volkes als Wesenszug der Demokratie auszugeben, ist es entscheidend, so Jean-Luc Nancy und Philippe Lacoue-Labarthe, dass die Demokratie die Frage nach ihrer Selbstdarstellung permanent stellt. In Zeiten, in denen das «Wir» des Volkes definiert schien (durch die alteingesessenen oder gebürtigen Eidgenossen, die Männer, die Besitzenden usw.), waren es gerade die Ausgeschlossenen (die Zugezogenen, die Frauen, die Besitzlosen usw.), die nicht einfach nur in die bestehende Repräsentation einbezogen werden wollten, sondern der Formel «Wir, das Volk» einen gänzlich neuen Sinn gaben.
Projekt und Projektion
Für genau diese Möglichkeit der Neukonfiguration des Volkes steht der alte Name der Demokratie. Wenn sich politische Akteure im Namen aller über eine bestehende Repräsentation des Volkes hinwegsetzen, wie immer wieder zu beobachten war, entleeren sie nicht nur die Mitte des – alten, «falschen» – Volkes, sondern erinnern daran, dass diesem ein imaginärer Bezugspunkt eingetragen ist, der umstritten und veränderbar bleibt. Das Volk der Volksherrschaft spricht nicht nur «im Namen des Volkes», sondern gibt sich auch einen neuen Namen – und sei es, dass es sich als Verbund der «Namenlosen» begreift und sich Masken aufsetzt.
Doch die zugleich leere und imaginäre Mitte, um die sich das Volk versammelt, droht zu verschwinden, wenn sich die Repräsentation des Volkes nicht mehr um «nichts», das heisst: nicht mehr um seine eigene Konfiguration dreht. Denn das Volk ist weder eine je zu erlangende Identität noch die reine Undarstellbarkeit, sondern vielmehr die Praxis seiner Repräsentation, seiner Selbstdarstellung, selbst. Die Volksherrschaft ist daher auch kein «Projekt», in dem das Volk «substanziell» hergestellt würde, sie ist in ihren politischen Prozessen vielmehr die Erscheinungsweise und Projektion des Volkes. Dass dies auch in die phantasmatische Vorstellung einer exklusiven, homogenen Volksgemeinschaft münden kann, bleibt dabei eine stete Gefahr. Wenn «das Volk» jedoch seine figurierende Kraft als unabschliessbare Macht der Versammlung begreift, vermag es dagegen immer auch einen neuen Anfang zu setzen.
Felix Trautmann ist Stipendiat des NFS «Bildkritik/eikones» an der Universität Basel. 2010 ist sein Buch «Partage. Zur Figurierung politischer Zugehörigkeit in der Moderne» (bei Tectum) erschienen.
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