Paradoxer Fusionsantisemitismus
Eindeutig feststellen lässt sich nur: Es gibt
eine eminente Unübersichtlichkeit. Da gibt es die umfassende
Verwirrtheit in Bezug auf den Islam. Ist er eine gute oder eine böse
Religion? Ist der Islamismus dessen genuine Folge oder Pervertierung?
Eine politische Debatte, die im Kostüm einer theologischen Debatte
auftritt. Nun hat die Verwirrtheit auch das Judentum erfasst. Also eher
den Bezug zum Judentum. Also den Antisemitismus.
Spätestens
seit den blutigen Pariser Ereignissen und punktgenau zum Gedenken an
die Befreiung von Auschwitz kann man sagen: Antisemitismus ist wieder
ein Thema in Europa. (Man wusste es schon vorher, aber nicht so
geballt.) Vor allem in Frankreich. Und wir sehen staunenden Auges:
Dieser Antisemitismus umfasst nicht nur verschiedene, sondern auch
widersprüchliche Formen.
Da ist zum einen der
alte, der "klassische" Antisemitismus. Dieser war einstmals - nach dem
alten Antijudaismus des Christentums - der neue Antisemitismus. Seine
Träger waren Nationalisten aller Couleur, die im "Juden" den
vaterlandslosen Gesellen sahen. Den Juden wurde damit unterstellt,
"nicht ganz" zu sein: nicht ganz Deutsche, nicht ganz Franzosen. Sie
wurden also ausgegrenzt, weil sie keine eindeutige, keine volle
Identität zu haben schienen. Dieser Antisemitismus ist mittlerweile alt
geworden. Aber vergangen ist er keineswegs.
Eine
andere Form ist der islamische Antisemitismus, der im Gepäck
muslimischer Migranten nach Europa kam. Es ist dies ein Antiisraelismus,
der ganz andere Ursachen hat. Man könnte ihm ein Fundament zusprechen,
eine Rationalität - gründet er doch in der Ablehnung der konkreten
israelischen Politik. In einer mörderischen Erweiterung wurde aus dieser
politischen Haltung aber ein Ressentiment, ein neuer Antisemitismus.
Irrational wie jedes Ressentiment. Dieses richtet sich gegen ein ganz
anderes Judenbild: Er richtet sich gegen die Juden, denen eine allzu
eindeutige, volle Identität unterstellt wird.
In
diesem Kontext kann man sich noch einmal der beliebten Frage zuwenden:
Sind die Muslime die neuen Juden, die Juden unserer Zeit? Man muss
zurückfragen: Was unterstellt die Islamophobie den Muslimen? Sie
unterstellt ihnen eine volle Identität. Islamophobie ist geradezu das
Phantasma, Muslime würden - in Rivalität zur eigenen - eine eindeutige,
volle Identität verkörpern. Und genau deshalb sind sie nicht die neuen
Juden. Die Muslime sind nicht die Juden unserer Zeit. Alter
Antisemitismus und Islamophobie sind zwar beide Ressentiments, aber aus
unterschiedlichen, ja gegensätzlichen Gründen. Demzufolge ist die
fantasierte Bedrohung, die von ihnen ausgehen soll, auch eine andere:
Den Juden, den nicht vollen Subjekten, wurde vorgeworfen, die
Gesellschaft zu zersetzen, die "einheitlichen" Muslime hingegen drohen,
den Westen zu "erobern".
Die Muslime sind nicht
die Juden unserer Zeit. Man könnte sogar sagen: Die Muslime sind die
Israelis unserer Zeit - zumindest ressentimentlogisch. Das könnte man
sagen, wenn es nicht so paradox wäre.
Nach den
Pariser Attentaten hätte man eine Solidarisierung all jener erwarten
können, die sich vom Islamismus bedroht fühlen. Aber die perverse Logik
des Ressentiments folgt keiner rationalen Logik. So hat der
islamistische Terror zu einem Anstieg des Antisemitismus geführt. Wobei
die "Eingeborenen" - ob islamophob oder nicht - die Logik des
muslimischen Antisemitismus mit der des alten, nationalistischen
kombinieren.
"Fusionsantisemitismus" nennt Michel
Gurfinkiel diese Verwirrung. Dies reproduziert ein altes Paradox in
neuer Form: Waren die Juden schon früher Verkörperung von Kapitalismus
und Kommunismus gleichzeitig, so sind sie jetzt volle und nicht volle
Identität, nationalreligiöse Eindeutigkeit und nicht volle, offene
Uneindeutigkeit gleichzeitig. Ein auswegloses Doublebind: Alles kann
gegen sie verwendet werden. Oder anders gesagt: Für jeden ist etwas
dabei.
taz, 27.1.2015
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