Slavoj Zizek
(...) Das Paradoxe ist, dass der Liberalismus nicht stark genug ist, sie vor
dem fundamentalistischen Ansturm zu retten. Fundamentalismus ist eine
Reaktion - eine falsche, mystifizierende Reaktion natürlich - auf eine
wirkliche Schwäche des Liberalismus. Deswegen wird sie vom Liberalismus
immer wieder neu geschaffen. Sich selbst überlassen, wird sich der
Liberalismus langsam unterminieren. Das Einzige, was seine Grundwerte
retten kann, ist eine erneuerte Linke. Damit sein Vermächtnis überleben
kann, braucht der Liberalismus die brüderliche Hilfe der radikalen
Linken. Das ist der einzige Weg, denFundamentalismus zu besiegen, ihm
den Boden zu entziehen. Über eine Antwort auf die Pariser Morde
nachzudenken bedeutet, die Selbstgefälligkeit eines permissiven
Liberalen aufzugeben und zu akzeptieren, dass der Konflikt zwischen
liberaler Toleranz und Fundamentalismus letztlich ein falscher Konflikt
ist - ein Teufelskreis zwischen zwei Polen, die sich gegenseitig
schaffen und bedingen. Was Max Horkheimer schon in den 1930er-Jahren
über Faschismus und Kapitalismus gesagt hat - dass die, die nicht
kritisch über den Kapitalismus sprechen wollen, über den Faschismus
schweigen sollen -, das sollte auch auf den heutigen Fundamentalismus
angewendet werden: Wer nicht kritisch über die liberale Demokratie reden
will, der sollte über den religiösen Fundamentalismus schweigen. (...) ich habe großen Respekt vor
ehrlichen liberalen Konservativen wie Houellebecq, Finkielkraut oder
Sloterdijk in Deutschland. Man kann von ihnen mehr lernen als von
fortschrittlichen Liberalen wie Habermas: Ehrliche Konservative scheuen
sich nicht davor, die Blockade einzugestehen, in der wir uns befinden.
Houellebecqs "Elementarteilchen" ist für mich das verheerendste Porträt
der sexuellen Revolution der Sechzigerjahre. Er beschreibt, wie der
permissive Hedonismus in ein obszönes Über-Ich-Universum umschlägt, in
dem Lust zur Pflicht wird. Sogar sein Antiislamismus ist verfeinerter,
als es erscheinen mag: Es ist ihm klar, dass das wahre Problem nicht die
muslimische Bedrohung von außen ist, sondern unsere eigene Dekadenz.
Vor langer Zeit hat Nietzsche erkannt, dass die westliche Kultur sich
auf den "letzten Menschen" zubewegt, eine apathische Kreatur ohne große
Leidenschaft oder Verantwortung. Unfähig zu träumen, des Lebens müde,
geht er kein Risiko ein, sucht nur Bequemlichkeit und Sicherheit, einen
Ausdruck von gegenseitiger Toleranz: "Ein wenig Gift ab und zu: Das
macht angenehme Träume. Und viel Gift zuletzt, zu einem angenehmen
Sterben. Man hat sein Lüstchen für den Tag und sein Lüstchen für die
Nacht: Aber man ehrt die Gesundheit. ,Wir haben das Glück erfunden',
sagen die letzten Menschen und blinzeln."(...)
Auszug aus einem im Standard erschienenen Interview DER STANDARD, 24.1.2015
Keine Kommentare:
Kommentar veröffentlichen