Joseph Vogel
Unter der Überschrift "Natürlich gibt es Auswege aus dem Gefängnis der Märkte" spricht im Deutschlandfunk der Kulturwissenschafter Joseph Vogl mit Hermann Theissen
Hermann Theißen: Joseph Vogl, in Ihrem jüngsten Buch führen Sie wunderbar vor, wie man jene Tage im September 2008, als die Investmentbank Lehman Brothers pleite ging und die Weltwirtschaft aus den Fugen geriet, als Novelle Kleistschen Zuschnitts interpretieren kann. Was macht diese Ereignisse im September 2008 zum Stoff einer solchen Novelle?
Joseph Vogl: Das sind verschiedene Dinge. Zunächst, dass diese Krise nach allen Orakeln, die in den Wochen davor noch laut wurden, eigentlich undenkbar erschien, noch eine Woche vor dem Lehman-Crash hat etwa Ackermann Lehman eine sehr gesunde Bilanz attestiert, nach den Berechnungen der Finanzökonomie sollten solche Krisen, deren Anlass dann schließlich der Lehman-Fall war, nur einmal in zig Milliarden Jahren passieren et cetera. Dann - und das ist ein weiterer interessanter Punkt, wenn man gewissermaßen chronikalisch vorgeht und diese drei bis vier Tage, also zwischen 13. und 15. September 2008 beobachtet - hat man es mit einem, wenn man so will, verteilten Handlungssystem zu tun, das in hohem Maße anfällig war für Kontingenzen, das heißt Zufälligkeiten aller Art, Leute, die abspringen, neue Akteure, die auftauchen, informelle Gespräche, hektische Telefonate, und all das am Wochenende. Denn Sie müssen wissen, also, Banken werden meist am Wochenende gerettet - oder eben dann nicht!
Theißen: In der Substanz sind da Leute unterwegs, die verantwortlich sind auf der einen Seite, auf der anderen Seite aber im Prinzip nicht wissen, was sie tun.
Vogl: Sie wissen schon, was sie tun, nur, wenn man so will, ergibt das unkontrollierbare Synergieeffekte. Also, die Akteure, die daran beteiligt waren an diesem Lehman Weekend, wie man es wohl nennen könnte, waren natürlich Zentralbanken, die Federal Reserve genauso wie die Bank of England, das waren Ministerien, Finanzministerien in London und in den Vereinigten Staaten, das waren große Investoren und Großbanken, von der Deutschen Bank bis hin zur Bank of America beispielsweise, das waren mögliche private Finanzinvestoren, die sich zur Verfügung gestellt haben, um eventuell Geld zu schießen, das waren Bankaufsichtsbehörden et cetera. Also ein Konsortium, ein sehr breites Konsortium aus interessierten, aus öffentlichen und privaten Akteuren, die versuchten, nun gemeinsam in irgendeiner Form eine Strategie zu entwickeln, wie, ob Lehman Brothers gerettet werden könnte oder nicht, mit den entsprechenden Konsequenzen, die natürlich durchaus auch durchgerechnet wurden.
Theißen: Und am Ende hat man sich entschieden, nicht zu retten. Und dann die unerhörte Begebenheit, also die Novelle ergab sich dann, dass sozusagen Lehman Brothers pleite ging und das Weltwirtschaftssystem ganz schnell aus den Fugen zu geraten schien.
Vogl: Genau, es ist bis heute gewissermaßen umstritten, ob Lehman Brothers der Grund, der Anlass oder bloß der Auslöser für diese weltweite Finanzkrise war. Denn man darf ja nicht vergessen, dass bereits seit 2006 der amerikanische Immobilienmarkt deutlich eingebrochen ist und entsprechende Warnsignale bereits herrschten. Man hat übrigens an diesem Wochenende auch durchaus darüber nachgedacht, dass wahrscheinlich die Finanzmärkte aufgrund verschiedener Signale, Symptome durchaus auf einen Fall dieser Art vorbereitet werden könnten, das heißt also, gewissermaßen Krisenprävention betrieben wurde. Offenbar war das tatsächlich nicht der Fall und Lehman Brothers' Pleite hat dann tatsächlich eine Art Kettenreaktion hervorgerufen.
Theißen: Dann ging es aber auch auf der Gegenseite ganz schnell. Also, es wurden ganz schnell Rettungsschirme überall in der Welt gespannt. Und ich finde dabei drei Punkte interessant: Einmal, dass diese Rettungsschirme - das heißt, Steuerzahlergeld wurde eingesetzt - relativ konfliktlos eingesetzt wurden; der zweite Punkt ist, dass keine nachhaltigen Bedingungen, nur marginale Bedingungen daran geknüpft wurden; und das Dritte ist, dass man sehr, ich sage mal vorsichtig: improvisierend mit Verwaltungsroutine oder mit Gesetzeslagen umging bei der Bewilligung dieser Hilfen.
Vogl: Ja. Also, ich glaube, das war sowohl in den Vereinigten Staaten, in Europa erkennbar, dass man mit all diesen Maßnahmen zunächst einmal an roten Linien entlang oder selbst rote Linien überschreitend operierte. Das heißt also, in einem rechtlich wenig oder kaum definierten Raum. Man sollte auch nicht vergessen, dass die Notwendigkeit zu handeln durch den Rhythmus der Finanzmärkte diktiert wurde, und nicht zuletzt durch andere Großunternehmen wie beispielsweise dem amerikanischen Versicherungskonzern AIG, das heißt, ein Unternehmen, das große Teile der amerikanischen Pensionen etwa verwaltete. Und man wusste ganz genau: Gehen diese Unternehmen pleite, dann sind die Renten für einen Großteil der Bevölkerung beispielsweise von Kalifornien tatsächlich vernichtet. Also, insofern hatte man einen hohen Handlungsdruck und hatte von vorneherein auch ein hohes Bewusstsein dafür, dass man sich in einer Notstandssituation befand, das heißt also in einer außerordentlichen Situation, die außerordentliche Maßnahmen rechtfertigt. Einer der Vertreter, einer der damaligen Akteure sagte: Im finanzökonomischen Äquivalent zu Kriegszeiten müssen wir regelrecht kriegerische Maßnahmen einsetzen. Oder etwas einfacher und deutscher gesagt: Die Not kennt kein Gebot!
Theißen: Aber es gab auch Druck zu handeln. Also, auch die Seite der Banken war massiv und strategisch tätig?
Vogl: War massiv und strategisch tätig. Und man hat beispielsweise auch in den Vereinigten Staaten durch eine schnelle Änderung von Bankstatuten versucht, sich unter den amerikanischen Rettungsschirm zu flüchten, es sind zig Banken in den Vereinigten Staaten und weltweit natürlich pleite gegangen. Und es war tatsächlich eine eigentümliche Situation, in der die Überschrift lautete: Rette sich, wer kann!
Theißen: Ich mache jetzt mal einen Sprung, weil ich auch einen Vergleich herstellen will, und zwar zur Situation von Griechenland heute. Ich habe eben drei Punkte genannt, diese drei Punkte stellen sich in dem Fall - wir retten Griechenland vor dem Staatsbankrott oder nicht - diametral anders da. Also, es ist a) unheimlich kontrovers, die Diskussion um Griechenland-Hilfe; zweitens: Überaus harte Bedingungen werden gestellt; und drittens: Es wird sich auf Regelwerke berufen, die zum Teil extra geschaffen worden sind, aber von denen man sagt, sie müssen strikt eingehalten werden. Was sagt das über das Verhältnis von Demokratie und Kapitalismus einerseits und über Machtverhältnisse andererseits?
Vogl: Gut, das sind, glaube ich, zwei völlig unterschiedliche Lagen und Situationen, und zwar sowohl auf der systemischen Ebene wie auf der Ebene des Personals. Man darf nicht vergessen, 2008 haben Leute miteinander verhandelt, die alle aus demselben Milieu kamen. Das sind Banker, das sind Hedgefonds-Manager, das Personal zirkuliert ja gewissermaßen zwischen Finanzministerium, Zentralbank und Großbanken. Und auf dieser Ebene gibt es eine, wenn Sie so wollen, gute kollegiale Verständigung mit den ganz zentralen Vorgaben, nämlich das Finanzsystem zu retten. Das war, glaube ich, einer der wesentlichen Imperative. Was dann natürlich im Gefolge dazu führte, dass für diese Rettungsaktionen, wenn man so will, auch für diese Rettung von privaten Banken mit überaus riesigen Summen an Steuergeldern, an öffentlichen Geldern, dass es dafür sehr wenig Auflagen gab. Die Reformen, die im Gefälle oder im Abhang dieser ganzen Geschichte durchgesetzt wurden wie Basel III etwa, kann man im Grunde als Peanuts definieren. Eine völlig andere Situation betrifft nun Griechenland, weil man es hier mit zwei völlig unterschiedlichen Konsortien oder Gruppen oder, wenn man so will, auch Vertretern von Bevölkerungen zu tun hat, nämlich auf der einen Seite ein interessiertes Finanzpublikum, die internationalen Finanzmärkte, deren Vertreter, deren Investoren und natürlich die Gläubigerinstitutionen, und auf der anderen Seite plötzlich so etwas wie Bevölkerungen, die sich in demokratischen Regierungen repräsentiert glauben. Und an dieser Stelle gab es tatsächlich, wenn man so will, einen elementaren politischen Konflikt, der auch, wie spätestens nach den letzten Wahlen in Griechenland, nun auch heftig ausgebrochen ist.
Theißen: Also, man könnte auch, wenn man etwas abstrahiert, sagen: Der alte Souverän tritt da gegen den neuen Souverän an?
Vogl: In einer gewissen Weise ging es um Souveränitätsfragen, also, tatsächlich wurde etwa mit der Aussetzung des Budgetrechts in Griechenland die griechische Verfassung gebrochen. Natürlich hat die sogenannte Troika mit dem Eingriff in die Steuerpolitik Souveränitätsrechte übernommen. Und die Konfliktlinie, die, glaube ich, für all diese Krisen gerade innerhalb der Eurozone sichtbar geworden ist, betrifft die zentrale Frage: Welche Rolle spielen auf der einen Seite Volkssouveränitäten und welche Rolle spielen auf der anderen Seite Minoritäten, die durch die Vertreter der Finanzökonomie oder der Finanzindustrie repräsentiert werden?
Theißen: Das ist ja nicht nur ein theoretisches Problem, sondern es ist auch ein Problem, was sich im Alltagsbewusstsein repräsentiert. Also, im März konnte man - es gab viele andere Artikel - in der Süddeutschen Zeitung einen Kommentar lesen, wo Bashing der neuen griechischen Regierung betrieben wurde: Nicht nur die Forderungen der griechischen Regierung sind überzogen, sondern sie machen alles falsch, weil die oberste Regel in der Finanzkommunikation ist: Klappe halten! Es mag sein, dass dieser Kasernenhofton wirklich da stattfindet, aber ich glaube, diese Annahme ist auch Teil des Alltagsbewusstseins!
Vogl: In einer gewissen Weise schon. Ein schwedischer Ökonom, der in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts sehr renommiert war, hat es einmal in einer fast zynischen Formulierung definiert und er sagte: Es geht eigentlich darum, die Finanzökonomie gegen die Tyrannei der zufälligen Mehrheit von Volksvertretungen zu schützen. Ich glaube, diese Überschrift steht über sehr vielen dieser Verhandlungen. Es ist doch einigermaßen überraschend gewesen, dass spätestens von dem Zeitpunkt an, an dem Griechenland Hilfen bei der EU beantragt hat, also ab 2010, die Frage der Volkssouveränität als fast illegitime Frage, als Bagatelle bestenfalls, als politische Bagatelle begriffen wurde. Also, beispielsweise wurde es als regelrechte, wenn man so will, Unverschämtheit betrachtet, dass die damalige Regierung, die Pasok Regierung, eine Volksbefragung, ein Volksbegehren durchführen wollte, was eben beispielsweise die ganzen Reformpakete betrifft.
Theißen: Das widerspricht dem Prinzip der marktgerechten Demokratie?
Vogl: Ich denke, es entspricht exakt der marktkonformen Demokratie, dass eben gerade unter demokratischen Prinzipien, unter demokratischen Regierungsformen, das heißt also unter dem Vorzeichen dessen, was wir repräsentative Demokratie nennen, bestimmte Institutionen - und das betrifft eben insbesondere Institutionen der Finanz - aus diesen demokratischen Kontrollprozeduren ausgenommen werden.
Theißen: In Ihrem Buch schreiben Sie: Wo der Kompetenzbereich der EZB beginnt, endet demokratische Partizipation. Da werden, glaube ich, viele sagen: Stimmt, aber ist in Ordnung!
Vogl: Ja. Es gab einen, glaube ich, langen, historisch gewachsenen Konsens, dass die Herausnahme von bestimmten, insbesondere geldpolitischen Maßnahmen, Kompetenzen im weitesten Sinne, dass die Herausnahme dieser Kompetenzen aus demokratischen Abstimmungsprozeduren einen doppelten Vorteil bringe. Nämlich: Auf der einen Seit wird durch beispielsweise unabhängige Zentralbanken - die Bundesbank oder die EZB - gegenüber den internationalen Finanzmärkten signalisiert, dass wir uns an bestimmte Prinzipien, Kriterien, Stabilitätskriterien, Inflationsbekämpfung et cetera halten und damit, wenn man so will, eine Dauerberuhigung für die immer leicht nervösen Finanzmärkte signalisieren. Das ist der eine Punkt. Und auf der anderen Seite - und das betrifft die Seite der Politiker - bietet man diesen Politikern, den Regierungspolitikern gewissermaßen die Möglichkeit, unschuldige Hände zu besitzen, also die Hände in Unschuld zu waschen und zu sagen: Für bestimmte Dinge - also beispielsweise für die sekundäre Bedeutung von Beschäftigungspolitik oder Arbeitslosigkeit - sind uns die Hände gebunden, wir sind in dieser Hinsicht gewissermaßen durch einen seligen Sachzwang gebunden. Im Hintergrund oder am Horizont des Ganzen steht natürlich auch so ein Begriff wie der der Alternativlosigkeit.
Theißen: Also, um es noch mal klarzumachen: Bei den Nationalbanken steht ja im Mittelpunkt der Tätigkeit, die umlaufende Geldmenge zu kontrollieren, für Preisstabilität zu sorgen und Inflationsbekämpfung zu betreiben.
Vogl: Und natürlich damit, wenn ich das noch hinzufügen darf, ganz wichtig, natürlich die Stabilität des Finanzsystems zu sichern!
Theißen: Und warum dient das nicht dem Gemeinwohl? Das sollten Sie noch mal erklären!
Vogl: Es diente lange Zeit - die Bundesrepublik Deutschland ist dafür, glaube ich, ein ganz gutes Beispiel - dem Gemeinwohl, unter ganz spezifischen, wenn man so will, sozialstaatlichen Bedingungen. Das heißt also, unter der Bedingung dessen, was man wahrscheinlich in der Nachkriegszeit den Wohlfahrtsstaatskompromiss nennen könnte. Das heißt, ein starker Sozialstaat, bestimmte wohlfahrtsstaatliche Prinzipien und demgegenüber ein Finanzsystem, das im Zweifelsfall auch auf fiskal- und beschäftigungspolitische Fragestellungen reagieren kann. Dieser Wohlstandskompromiss, glaube ich, ist spätestens in den 80er-Jahren gekündigt worden, am deutlichsten Großbritannien und Thatcher, USA und Reagan, und hat mit der Deregulierung der internationalen Finanzmärkte, glaube ich, eine völlig neue Situation geschaffen, indem Schritt für Schritt alle wohlfahrtsstaatliche, sozialstaatliche, in der Bundesrepublik wohl erworbene Errungenschaften reduziert, abgegeben oder, wenn man so will, schlicht außer Kraft gesetzt wurden.
Theißen: Oder privatisiert wurden.
Vogl: Oder privatisiert wurden, genau. Und das ist eine neue Konstellation, die eben beispielsweise auch dadurch gekennzeichnet ist, dass mehr und mehr soziale Vorsorge auf die Finanzmärkte übertragen wird, Gesundheitsvorsorge, Altersvorsorge bis hin natürlich auch zu Fragen des Bildungssystems et cetera. Das heißt also, man wurde gewissermaßen aufgefordert, Solidarversicherungskonstellationen auf Bedingungen der Finanzmärkte und deren, wenn man so will, Risikodynamiken umzustellen.
Theißen: Weil sozusagen die Profitmärkte gesucht wurden?
Vogl: Weil es einerseits einem, man könnte sagen, liberalen, neoliberalen Prinzip entsprach, dass die Märkte all diese Dinge besser tun als öffentliche Institutionen, Staaten et cetera.
Theißen: Da sind wir im Bereich der Ideologie und nicht der strategischen Politik?
Vogl: Wenn Sie so wollen, lässt sich das Ideologie nennen. Man hat gewissermaßen ein sehr klares liberales Modell adoptiert, das davon ausgeht, dass Märkte für soziale Ordnung, Märkte für soziale Gerechtigkeit, Märkte für - wenn sie so wollen - so etwas wie irdische Providenz, Vorsehung sorgen. Das steht im Hintergrund und aus diesem Grund konnte man guten Gewissens verschiedene Sozialleistungen in die Utopie des Marktes überstellen. Auf der anderen Seite darf man nicht vergessen, wollte man auf diese Weise auch die hohen Verschuldungen, die in allen westlichen Industriestaaten in den 70er-Jahren feststellbar waren, diese hohen Verschuldungen, die Staatsschulden abbauen, sozusagen zwei unterschiedlich motivierte Schritte.
Theißen: Also, Sie sagen, das hat in den 70er-Jahren angefangen, aber es hat sich dann, glaube ich, in den 90er-Jahren und in diesem Jahrhundert, Jahrtausend beschleunigt. Und ich habe mal in der Zeit nachgeguckt, da gab es einen wunderbaren Artikel oder einen entlarvenden Artikel im Jahr 2000 von Rolf-E. Breuer, der Mann war damals Pressesprecher der Deutschen Bank und wurde später Aufsichtsratsvorsitzender: Er singt da das große Lied auf die Finanzmärkte und schreibt am Ende seines Artikels, ich zitiere: "Wenn man so will, haben die Finanzmärkte quasi als fünfte Gewalt neben den Medien eine wichtige Wächterrolle übernommen. Wenn die Politik im 21. Jahrhundert in diesem Sinn im Schlepptau der Finanzmärkte stünde, wäre dies vielleicht so schlecht nicht." Also, 2008 beweist in gewisser Weise, dass es doch so schlecht ist. Aber trotzdem meine Frage: Weil, Sie interessieren sich ja auch für die Arkanräume der Politik, also die geheimen Räume, wo Macht ausgeübt wird. Gab es sozusagen strategische Konzepte, die Finanzmärkte als eigene Gewalt, als eigenen Souveränitätsraum durchzusetzen?
Vogl: Ja, natürlich gab es das. Aber es ist, glaube ich, eine Entwicklung, die in unterschiedliche historische Tiefen geht. Zunächst einmal lässt sich beobachten, dass spätestens seit der frühen Neuzeit, also mit der Entstehung moderner neuzeitlicher Staatsapparate, das heißt also, Staatsapparate, die auch beispielsweise sich durch stehende Heere auszeichnen, die sich durch einen bestimmten Verwaltungsaufwand auszeichnen, dass spätestens seit dieser Zeit, also 16., 17. Jahrhundert, es eine unmittelbare Integration privater Gläubiger und Financiers in die Ausübung von Regierungspolitik gibt. Im Grunde war das eine Konstellation einer sehr, wenn man so will, hilfreichen Symbiose. Staatsfinanzierung konnte auf Dauer gestellt werden und umgekehrt wurde den privaten Gläubigern oder Financiers eine dauerhafte Verzinsung ihrer Kredite gewährt. Effekt beispielsweise dieser innigen Symbiose sind auf der einen Seite die Zentralbanken, die seit Ende des 17. Jahrhunderts gegründet wurden und dann eine hohe und schnelle Karriere machten, und auf der anderen Seite die entstehenden Finanzmärkte, die eben tatsächlich vor allem auch Märkte für den Verkauf und Kauf von Staatsanleihen gewesen sind.
"Die Beschränkung souveräner Macht und das Aufsteigen von Finanzinstituten gehen parallel"
Theißen: 1694, also Ende des 17. Jahrhunderts, die Gründung der Bank of England. Und da ist interessant, England ist da in der Situation, wo Gewalten geteilt sind, der König eingehegt ist, es konkurriert das Parlament, es konkurriert die Regierung. Nebenan in Frankreich hat man den Absolutismus, der König hat sozusagen den direkten Durchgriff, öffentliche Anleihen sind da gar nicht denkbar!
Vogl: Na gut, der französische Staat oder die französische Monarchie war spätestens seit Ludwig XIV. heillos verschuldet. Und natürlich gab es auch in Frankreich gerade nach dem Tod Ludwig XIV. alle möglichen Projekte, die versuchen sollten, die völlig desolaten Staatsfinanzen zu sanieren, unter anderem eben auch Bankprojekte, durchaus mit dem Vorbild der Bank von England, Papiergeldprojekte et cetera, die alle aber sowohl intelligent waren wie grandios gescheitert sind. In Großbritannien, in England hatte man von vornherein einen anderen Weg eingeschlagen und vor dem Hintergrund der glorreichen Revolution, das heißt also, eines wichtigen Schritts zur Demokratisierung der englischen Monarchie, mit der Gründung der Bank von England, zentrale, rechtliche Garantien für private Financiers zur Verfügung gestellt und damit eine Institution geschaffen, die zwei Dinge gleichzeitig leistete: Auf der einen Seite auftreten konnte unter der Bedingung, dass die Macht des Königs nicht mehr absolut war, einerseits; und auf der anderen Seite, dass gleichzeitig der Spielraum dieser Finanzökonomie eminent erweitert werden konnte. Also, man kann sagen: Die Beschränkung souveräner Macht und das Aufsteigen von Finanzinstituten dieser Art gehen parallel.
Theißen: In England gingen die Entwicklungen ja dann weiter, unter anderem mit der South Sea Company, eine Einrichtung, wo Staat und private Anleger zusammenfanden. Man könnte diese Institution als frühe Form einer Private Public Partnership bezeichnen. Wie funktionierte das?
Vogl: Ja gut, das ist eine ältere Tradition, das haben bereits andere Staaten, oberitalienische Stadtstaaten, aber insbesondere die Niederlande vor Großbritannien versucht. Man könnte im Grunde von der Entstehung des modernen kapitalistischen Unternehmens aus dem Geist der Public Private Partnerships sprechen. Das heißt, häufig waren diese Kompanien, Ostindien-Kompanien, Westindien-Kompanien so organisiert, dass sie als Aktiengesellschaften funktionierten, mit entsprechenden Anteilseignern und Verzinsung, dass sie zweitens allerdings Souveränitätsrechte zugesprochen bekamen, beispielsweise eigene Truppen oder Flotten hatten, zum Teil auch Gerichtsbarkeit, zum Teil eben auch Strafgerichtsbarkeit übernahmen, und dass sie drittens ganz wesentliche Protagonisten für die Kolonialisierung der westlichen und der östlichen Hemisphäre geworden sind und damit natürlich ganz zentrale Apparate für den Aufstieg Europas zu einer Weltmacht.
Theißen: Ich springe jetzt noch mal in die Historie und gehe noch mal ins 20. Jahrhundert, und zwar ins Jahr 1973 und da nach Chile: Putsch in Chile am 11. September 1973. Das war ein Experimentierfeld für das, was dann als Neoliberalismus, Finanzkapitalismus überall angewandt worden ist. Was ist da passiert?
Vogl: Zunächst mal, glaube ich, ist es wichtig, dieses andere 9/11 oder diesen 11. September 1973 in Erinnerung zu rufen, also den Sturz Allendes, Putsch durch Pinochet, die Errichtung einer Militärdiktatur. Und obwohl Pinochet bar jeder ökonomischen, wenn man so will, Einsicht war, hat insbesondere die Schule von Chicago - sehr stark dominiert von Milton Friedman und vor dem Hintergrund einer schon länger geleisteten Ausbildungspolitik durch internationale Universitäten - bereits am zweiten Tag nach diesem Putsch, ein 500-seitiges Wirtschaftsprogramm vorgelegt, das zum ersten Mal eine Serie von Maßnahmen vorschlug, die dann in einer gewissen Weise Schule gemacht haben für alle möglichen Formen.
Theißen: Also Privatisierung auch von Bildung und Renten.
Vogl: Dazu gehörte die Privatisierung von Staatsunternehmen, dazu gehörte die Deregulierung von Märkten und insbesondere von Finanzmärkten, dazu gehörte die Privatisierung von sozialen Sicherungssystemen, dazu gehörte aber auch die Deregulierung von Arbeitsmärkten, zum Teil auch die Zerschlagung von Gewerkschaften und die Reduktion von Arbeitnehmerrechten et cetera. Diese Dinge sind im Gefolge des 11. September 1973 Schritt für Schritt durchgesetzt worden und haben tatsächlich dann dazu geführt, dass spätestens Ende der 70er-Jahre es eine, man kann sagen, fast 100-prozentige Zustimmung der chilenischen Unternehmer zur Politik der Militärregierung gegeben hat.
Theißen: Im Programm der Berater, der sogenannten Chicago Boys, war auch die Etablierung einer unabhängigen Nationalbank. Diese unabhängige Nationalbank ist aber erst mal nicht etabliert worden.
Vogl: Genau. Also, es gehörte gewissermaßen zum Programm dieser Liberalisierung, das Finanzsystem. Man darf nicht vergessen, in Chile sind zu dieser Zeit eben auch tatsächlich international operierende Finanzkonzerne entstanden, zu seiner Absicherung, auch ein Reservesystem benötigt eben beispielsweise eine Zentralbank mit dezidiert unabhängigen Statuten. Für Pinochet war ganz klar, dass das mit einer autoritären Regierungsform nicht zusammengeht, und er hat sich immer wieder bei verschiedenen Gelegenheiten gegen die Einrichtung einer unabhängigen Zentralbank, einer unabhängigen Notenbank gewehrt, und zwar im Grunde bis fast zum Ende seiner Regierungszeit.
Theißen: Aber ich meine, am Ende seiner Regierungszeit ist sie dann eingeführt worden.
Vogl: Es war eine eigentümliche Situation für die Militärregierung.
Theißen: Also, es stand fast fest, dass seine Regierung, also Pinochet-Regierung beendet sein würde und dass die Diktatur auch ein Ende haben würde.
Vogl: Ja. Also, die Situation war durchaus unübersichtlich. Mit der Verfassung von 1980 hat die Militärregierung, die sich eben nachträglich legitimieren wollte mit dieser Verfassung von 1980, in Aussicht gestellt, dass 1988 ein Referendum abgehalten werden sollte, mit dem entweder die Regierungszeit der Militärregierung beendet ist oder sie eine weitere Lizenz für acht Jahre Regierung danach erhalten sollte. Überraschenderweise - und das hatten die Regierenden nicht erwartet - ist dieses Referendum gegen die Regierung ausgefallen, und zwar nicht zuletzt - das haben auch verschiedene Umfragen ergeben - nicht zuletzt vor dem Hintergrund einer hohen Ungleichheit in der Einkommens- und Vermögensverteilung in Chile. Das war wohl ein wesentlicher Grund für den Erfolg des Referendums für die Oppositionsparteien. Nachdem dieses Referendum schlecht für Pinochet ausgegangen ist, stand fest, dass 1989 Präsidialwahlen stattfinden würden, Wahlen, die mit großer Sicherheit von der Opposition, die sehr gut organisiert war, gewonnen werden würden.
Theißen: Und die unter anderem ja auch die Veränderung der Ungleichheit.
Vogl: Exakt. Also, man darf nicht vergessen, das war eine Opposition, deren Ausrichtung man wahrscheinlich sozialdemokratisch nennen würde, die aber natürlich im Wahlprogramm ganz grundlegende Dinge, also Erhöhung von Mindestlöhnen, Arbeitnehmerschutz et cetera hatte und natürlich einen Umbau dieses neoliberalen Wirtschaftssystems vorgesehen hat. Unter dieser Bedingung hat nun tatsächlich die chilenische Regierung Pinochet einen Gesetzentwurf - endlich! - für die Einrichtung einer unabhängigen Zentralbank, Notenbank nach deutschem Vorbild, nach dem Modell der Bundesbank verabschiedet, und zwar wenige Tage vor der Wahl. Und diese neue Bank, dieses neue Bankinstitut war gewissermaßen die Beigabe, das Wahlgeschenk der Pinochet-Regierung an die nachfolgende Regierung.
Theißen: Und hat funktioniert!
Vogl: Mit dem ganz klar definierten Willen, auch von Pinochet geäußerten Willen, die nachfolgende Regierung wirtschafts- und finanzpolitisch zu binden. Und zwar so zu binden, dass ihr Handlungsspielraum auf der Ebene der Fiskalpolitik, auf der Ebene der Steuerpolitik und auf der Ebene der Finanz- und Geldpolitik eingeschränkt sein sollte.
Theißen: Ganz am Ende Ihres jüngsten Buchs schreiben Sie: Souverän ist, wer eigene Risiken in Gefahren für andere zu verwandeln vermag und sich als Gläubiger letzter Instanz platziert. Das scheint dem Finanzkomplex mittlerweile gelungen zu sein.
Vogl: Wenn totalisierende Tendenzen bedeuten, dass bestimmte Regierungsmaßnahmen, bestimmte Regelungsstrukturen alle möglichen Bereiche des sozialen Lebens, das Fleisch der Gesellschaften betrifft, wenn man also sagen kann, dass wir aufgefordert werden, unsere Gesamtexistenz gewissermaßen an die Risikolagen der Finanzindustrie anzupassen, dass wir Wettbewerbssituationen über das Fleisch der Gesellschaft hinweg verstreuen et cetera, dann kann man feststellen, dass also ausgehend von bestimmten internationalen Organisationen über Regierungsinstitutionen bis hin zum alltäglichen Leben oder Beziehungsleben tatsächlich gewisse Kontinuitäten hergestellt werden, die die Prinzipien dieser Finanzökonomie bis ins elementare Verhaltensprofil fortsetzen.
"Dass es für alle nicht reicht, ist die Definition des Kapitalismus"
Theißen: Wir haben darüber geredet, eine der wesentlichen Folgen dieser totalen Herrschaft des Finanzkapitalismus ist ja die galoppierend wachsende, zunehmende Ungleichheit. Da fällt mir immer ein Bonmot ein von Heiner Müller, was er vor allen Dingen in den berühmten Gesprächen mit Alexander Kluge immer wieder gesagt hat, und zwar hat Müller gesagt: "Früher war die Devise 'einer für alle', heute heißt die Devise 'für alle reicht es nicht'". Ist das eine zutreffende Beschreibung?
Vogl: Dass es für alle nicht reicht, ist die Definition des Kapitalismus. Der Kapitalismus oder die Kapitalwirtschaft im weitesten Sinne, dieses ökonomische System funktioniert unter der Bedingung, dass die Güter knapp sind. Das heißt also, dass das Brot, das ich nicht esse, jemand anderem trotzdem fehlt, nur unter dieser Bedingung lässt sich das System erhalten. Das heißt, es funktioniert unter der Bedingung, dass zwangsläufig nicht alle satt werden, satt werden dürfen, ansonsten würde das System kollabieren.
Theißen: Aber dagegen gab es massiven Widerstand. Also, Sie haben eben die Sozialdemokratie in Chile angesprochen, der Sozialismus stand mal dafür, diese Devise zu ändern. Das ist heute weg.
Vogl: Ja, weg oder nicht, ich glaube, vielleicht muss man das auch noch hinzufügen, dass so etwas wie der Kapitalismus - ein sehr vager Begriff übrigens, der erst Ende des 19. Jahrhunderts auftaucht - ja kein einheitliches System ist, sondern aus den verschiedensten Routinen, Geschäftsroutinen, Praktiken, Akteuren, Rechtssystemen, Institutionen besteht, und dass dieses System überall Löcher hat, leckt, ausfließt, wenig kohärent ist und deswegen natürlich auch unterschiedlichste Möglichkeiten für Interventionen bietet. Also, es ist kein System, das perfekt funktioniert, und es gibt deswegen auch immer wieder Plattformen, Schauplätze et cetera, wo sich plausibler Widerstand regt und der Widerstand auch durchaus effizient sein kann.
Theißen: Gibt es denn Auswege aus dem Gefängnis der Märkte? Oder kann man nur das Gefängnis humanisieren?
Vogl: Natürlich gibt es Auswege aus dem Gefängnis der Märkte, man müsste nur die offenen Türen nutzen und hindurchgehen. Also, 2008 gab es eine große offene Tür. Es ist ja die ironische Situation eingetreten 2008, dass ein Großteil der internationalen Finanzökonomie sich mit einem hohen Begehren zur Sozialisierung seines Kapitals an die Brust des Staates geworfen hat. Das war im Grunde eine revolutionäre Situation, man hat nur einen eigentümlichen Weg gewählt und dieses sozialisierte Kapital mit hohen Mitteln, mit hohen öffentlichen Mitteln wieder reprivatisiert. Das sind offene Türen gewesen und die werden, da die nächsten Krisen kommen werden, immer wieder offenstehen!
Theißen: Aber nach der Restauration - man kann es ja so, glaube ich, nennen -, die nach 2008 stattgefunden hat, sind die Mauern der Gefängnisse noch dichter geworden!
Vogl: Ja und nein! Denken Sie tatsächlich an die Konflikte, die im Augenblick im Umkreis Griechenlands stattfinden: Wie immer das ausgeht, zeigt es zumindest, dass eine einstmals nur technokratische Frage - Schuldentilgung, Reformpakete et cetera - plötzlich zu einem eminent politischen Konfliktfall geworden ist, der natürlich durchaus auch ansteckend sein kann. Weiterer Fall wäre Spanien und Podemos und die Frage, wie gehen diese Wahlen aus. Das heißt also, es hat sich hier tatsächlich so was wie eine politische Opposition formiert, die weiß und in Erinnerung ruft, dass politische Partizipation unter diesen Konstellationen nicht ohne die Frage der ökonomischen Partizipation gestellt werden kann.
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