Cees Nooteboom
Das Gewicht des Todes. Christophorus und das tote syrische Kind
Versuche dich von der Welt fernzuhalten, weil du an einem Buch arbeiten willst – und die Welt wird dich zuverlässig einholen. An einem einzigen Tag siehst du zweimal einen Mann mit einem Kind. Ein Mann auf der Frontseite von «El País», und ein Mann auf einem Gemälde aus dem 15. Jahrhundert. Der erste Mann geht leicht nach vorne gebeugt am Ufer eines Meers oder eines Flusses. Er trägt eine Uniform und schwere Stiefel, er hält ein Kind in seinen Armen. Vom Kind siehst du nur die kurzen Beine und die kleinen Füsse. Es ist noch so klein, dass ihm jemand anders diese Schuhe angezogen haben wird. Du weisst augenblicklich, das Kind ist tot, du kannst es sehen am Gesicht des Mannes. Er leidet, nicht seinetwegen, aber wegen des Kindes, wegen des moralischen Bankrotts dieser Welt. Am Tag zuvor schrieb ich über Hieronymus Bosch, noch immer lag ein geöffnetes Buch auf meinem Schreibtisch. Darin ist ein berühmtes Gemälde aus einem Rotterdamer Museum abgebildet, der heilige Christophorus mit dem Jesuskind. Die Geschichte ist geläufig: Ein heidnischer Riese, Reprobus, findet ein Kind am Ufer eines Flusses und begreift, dass es auf die andere Seite hinüber will. Er nimmt es auf seine Schultern und watet durch das Wasser. Im Fluss wird das Kind schwerer und schwerer, bis zu dem Punkt, da er es kaum mehr tragen kann. Das Kind ist Christus. Seither heisst der Mann Christophorus, der Christusträger. Er ist der Beschützer aller Reisenden. Auf dem Gemälde zeigt Christophorus die gleiche Körperhaltung wie der Soldat an der türkischen Küste. Leicht nach vorne gebeugt, trägt er das Kind mit äusserster Vorsicht auf die andere Seite, wo es in Sicherheit sein wird. Er schaut nach rechts aus dem Gemälde, wie der Mann in der Zeitung nach rechts blickt, wo wir sind. Er geht, als wäre auch dieses Kind zu schwer, und tatsächlich ist es das, wegen des Gewichts des Todes. Das Kind war zu schwer für Europa, weil Europa nicht existiert. Es konnte dieses Kind nicht tragen.
Keine Kommentare:
Kommentar veröffentlichen