Alfred Noll
Österreich gibt es nicht – obwohl ich wirklich sehr brav gesucht habe.
Und ich muss Dich deshalb ersuchen, mich vom zugesagten Artikel zu
dispensieren.
An sich schien mir nichts leichter, als auf die gestellte Frage nach
Österreich, wie es denn sei, zu antworten: Wir erinnern uns der
wesentlichen Erkenntnisse von Marx’ politischer Ökonomie, rufen mit
Unlust einige WIFO-Monatsberichte ab und sehen einen kapitalistischen
Kleinstaat, der es seiner Leistungsbilanzüberschüsse wegen einigermaßen
geschafft hat, eine sehr starke internationale Gläubigerposition
aufzubauen. Die in der Nachfolge der internationalen Finanzkrise auch in
Österreich einhergehenden Disziplinierungszwänge werden von einer
Konsolidierungspropaganda begleitet, in der die eingetrübte
Beschäftigungsperspektive demagogisch gegen die Gewerkschaften und die
fiskalische Konsolidierungspolitik auch schon mal gegen das unmittelbare
Profitstreben der Wirtschaft zum Einsatz gelangen.
Wie in anderen Ländern, so sind auch in Österreich die
gesellschaftlichen Anpassungsleistungen sehr ungleich verteilt. Die
Finanzmarktkrise trifft vorwiegend die abhängig Beschäftigten, die
weitere Ausbreitung atypischer, oftmals prekärer Beschäftigungsformen
ist gewiss. Die angebliche Tugend des Sparens wird für die Umverteilung
und Verschlechterung der Lebensbedingungen in Städten und Gemeinden
instrumentalisiert – und wo das derzeit noch nicht sichtbar ist, sitzen
die Gemeinderäte vor einem nicht mehr zu bewältigenden Schuldenberg.
Es gibt nicht den geringsten Anlass zu glauben, österreichische Politik
würde sich in Hinkunft daran machen, den europäischen
Finanzmarktkapitalismus und die diesem eingeschriebenen
Machtverhältnisse zu überwinden. Noch nicht einmal die bestehenden
Möglichkeiten, diese Verhältnisse reformierend zu modifizieren, werden
genützt oder auch nur für sie geworben. Bis auf weiteres wird es dabei
bleiben, dass (international und national) die Gläubiger und
Finanzvermögensbesitzer an den Kosten wirtschaftlicher Krisenprozesse
nur marginal beteiligt werden. Die „Schuldenbremse“ wird weiter
angezogen, das politische System bastelt sich hausbacken seinen
„Magerstaat“ (Peter Bofinger) und radikalisiert auf solche Weise ein
Politikmuster, das ein wesentlicher Bestandteil neoliberaler Politik war
und ist. Der gravierendste Missstand, das Ausbleiben jeglicher Debatte
über die Aufgaben der öffentlichen Hand, wird auf Dauer gestellt.
Vor diesem Hintergrund blühen an einigen Orten der Republik Praktiken
der Gegenseitigkeit, die man nur als Korruption bezeichnen kann, und die
diesem juristischen Stigma nur deshalb entkommen, weil man unentwegt
bemüht ist, diesen Missbräuchen einen legalen Anstrich zu geben und sie
zu vertuschen.
Nun lässt sich gewiss über die Verhältnisse in Österreich noch anderes
(und auch Schönes) sagen. Und wir könnten vieles aufzählen, was in
Österreich ist – aber damit ist noch keineswegs beantwortet, was
österreichisch an den in Sichtweite geratenen Sachverhalten ist. Mit
anderen Worten: In Österreich ist manches der Fall, aber wir gewinnen
damit noch keinen Begriff von „Österreich“.
Österreich ist in seiner „zerstreuten Vollständigkeit“ (Lenin) nicht zu
fassen; nicht das „Was?“ der Gegebenheiten und nicht das „Wie?“ der
Verhältnisse. Wir müssten alle Berge, alle Täler, alle Flüsse und alle
Menschen und alle sie kennzeichnenden Verhältnisse beschreiben, um dann …
Solch ein Versuch würde jeden Einzelnen von uns überfordern, unsere
Lebenszeit ist begrenzt: „So large is our malaise that no single writer
can encompass it“ (Harold Bloom). Aber solch ein Versuch wäre nicht nur
vergeblich, er wäre überhaupt unmöglich: Die unendliche Mannigfaltigkeit
der österreichischen Welt kann gar nicht geschildert, sie könnte nur
auf den Begriff gebracht werden.
Die Totalität Österreichs („Österreich, wie es ist“) lässt sich nur in
der Welt des Begriffs abbilden, denn nur in der Einheit des Begriffs
könnte die ideelle Realität des Ganzen der zerstreuten Vollständigkeit
der Menschen, Sachen und Sachverhalte gefasst werden – „Österreich“ gibt
es nur als „absolute Idee“ (Hegel). Das ist so, weil „Österreich“ als
Ganzes nicht als eine unendliche Summenreihe österreichischer
Eigentümlichkeiten gedacht werden kann, sondern im Begriff von
„Österreich“ als vorgängige Allheit all dessen, was als „österreichisch“
ins Visier gerät, immer schon vorausgesetzt wird. Die Endlichkeit
unseres Verstandes, der nur als ein Moment im Ganzen des Weltprozesses
auftritt, erlaubt leider gerade keine Erfahrung von „Österreich“ im
Ganzen. Wer aber (Anton Wildgans und Robert Menasse eingeschlossen)
hätte sich je einen zutreffenden Begriff von Österreich gemacht? Wir
haben keinen Begriff von Österreich – und auch ich werde ihn schuldig
bleiben.
Nota bene und ganz zum Schluss: jeder Begriff von „Österreich“ würde
doch nur wiederum dazu dienen, uns von anderen abzugrenzen. Dazu habe
ich gar keine Lust mehr. Wenn das kleine Österreich 1918 das
„Verbrennungsprodukt der Donau-Monarchie“ war (so Walther Rode), dann
ist es heute vielleicht gar nur noch der Restmüll des 20. Jahrhunderts
...
Aus: Wespennest Nov. 2011
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