Isolde Charim
Angst
Angstforscher müsste man sein. Da hätte man jetzt Hochkonjunktur.
Da
gibt es zum einen die nackte Überlebensangst jener, die unter
Lebensgefahr aus der Todeszone fliehen, die einstmals ihre Heimat war.
Dann gibt es die ganz andere Angst der Europäer: Da kann man wiederum
unterscheiden zwischen der sozialen Angst vor Deklassierung und der
kulturellen Angst vor dem "Fremden". Die offenen Rassisten sind nur der
sichtbarste Teil davon. Zu all diesen direkten, unmittelbaren Ängsten
kommt noch eine weitere hinzu - eine Angst zweiter Ordnung
gewissermaßen: die Angst vor der Angst der anderen. Man täusche sich
nicht - die Angst vor der Angst ist ein Hund. Sie ergreift jene, die
sich selbst als wohlwollend und gutmeinend verstehen, die aber die
Angst, die sie den anderen unterstellen, zu den wildesten
apokalyptischen Untergangsszenarien verleiten: Sie sehen blutige
Auseinandersetzungen, Aufstände, den Durchmarsch der Rechten, die
Orbanisierung Europas, das Ende der Europäischen Union kommen. Zum
Schluss ist dann nicht mehr klar, was die Apologeten des Untergangs des
Abendlandes von den Apokalyptikern der blutigen Konfrontation
unterscheidet.
In
jedem Fall ist die europäische Angst, ob nun rational oder irrational,
ein Indikator. Sie verweist auf ein massives Geschehen: darauf, dass die
vertraute Welt, also Normalitäten, Sicherheiten infrage gestellt sind.
Ich spreche hier nicht von einem kulturellen Befremden oder von
ökonomischen Ängsten - all das sind auf die Zukunft projizierte
Unsicherheiten. Ich spreche von dem, was bereits jetzt stattfindet: die
Tatsache, dass bislang wesentliche politische Parameter, Konzepte wie
Grenze oder Souveränität, infrage gestellt sind. Das kann kein Zaun der
Welt wiederherstellen. "In der rührenden Ohnmacht von Politikern und
Bürgern, die vergeblich nach Zäunen und Transitlagern, nach einer
flotten Schließung der Grenzen rufen, spiegelt sich nostalgische
Sehnsucht. Der souveräne, seine Grenzen kontrollierende und
übersichtliche Verhältnisse garantierende Staat ist obsolet geworden -
erst recht in Europa", so Jürgen Habermas.
Ist das
jetzt der vielzitierte Ausnahmezustand? Das bedrohliche Szenario, wo
der Staat von der rechtlichen Ordnung befreit ist und nur noch die
Entscheidung gilt, wer Freund und wer Feind ist? Oder hat Angela Merkel
vielleicht einen ganz anderen, einen gewissermaßen positiven
Ausnahmezustand hergestellt - mit ihrer einsamen Entscheidung, Schengen
und Dublin außer Kraft zu setzen und das Europa der Menschenrechte der
Festung Europa überzuordnen, wie Etienne Balibar meint?
Aber
ist Ausnahmezustand wirklich der adäquate Begriff? Gäbe es einen
solchen, dann gäbe es einen Souverän, der darüber gebietet. Der ist zum
Glück nicht in Sicht. Wäre es ein positiver, dann gäbe es nicht jene
massive Polarisierung, mit der wir überall konfrontiert sind. Statt von
Ausnahme sollten wir eher von einem anarchischen Zustand sprechen. Das
ist es, was Angst macht! Nicht das bisschen kulturelle Fremdheit, auch
nicht die ökonomische Unwägbarkeit, sondern das anarchische Moment dort,
wo bislang Politik war. Und deshalb verhallen die Stimmen der Vernunft,
die eine "Entdramatisierung" fordern, die von lösbaren Problemen, ja
sogar von Chancen sprechen.
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