Etienne Balibar
Wir sind alle Geiseln
Die Welt ist im Kriegszustand, der Terror nährt sich vom Wahnsinn. Doch dürfen wir uns nicht den Rachegefühlen überlassen. Wir brauchen Frieden, nicht den Sieg
Die Welt ist im Kriegszustand, der Terror nährt sich vom Wahnsinn. Doch dürfen wir uns nicht den Rachegefühlen überlassen. Wir brauchen Frieden, nicht den Sieg
Aus: Die Zeit, 1 9 . November 2015
Jawohl, wir befinden uns im Krieg,
oder besser gesagt, wir befinden uns von
nun an alle mitten im Krieg. Wir greifen an, wir werden angegriffen. Wie schon bei früheren Anschlägen und im Vorfeld künftiger
- hoffentlich vorhersehbarer - Anschläge
zahlen wir den Preis und beweinen unsere
Toten. Doch um was für einen Krieg handelt es sich eigentlich? Es ist nicht leicht, ihn zu definieren, denn er besteht aus verschiedenen Kriegsformen, die sich im Laufe
der Zeit überlagert haben und scheinbar nicht mehr voneinander zu trennen sind:
Kriege zwischen Staaten (oder mit Pseudostaaten wie Daaisch, dem “Islamischen Staat im Irak und in Syrien”);
nationale und transnationale Bürgerkriege; der Krieg der sogenannten oder sich dafür
haltenden Zivilisationen; ein Krieg der imperialistischen
Interessengruppen; ein Krieg der Religionen und Sekten oder zumindest ein als solcher
gerechtfertigter Krieg. Er ist die große
Stasis, die Ausgangslage des 21. Jahrhunderts, die man später einmal - wenn sie
überwunden ist - mit ihren lange zurückliegenden Vorbildern vergleichen wird: dem
Peloponnesischen Krieg, dem Dreißigjährigen Krieg oder, nicht ganz so lange zurückliegend, dem “europäischen
Bürgerkrieg” 1914 bis 1945…
Der
Krieg ist auch eine Folge der amerikanischen Interventionen im Nahen Osten vor und
nach dem 11. September 2001. Mit der Fortsetzung dieser Interventionen, an denen
seither vor allem Russland und Frankreich, ihre je eigenen Ziele
verfolgend, beteiligt sind, hat sich der Krieg verschärft. Die erbitterte Rivalität
der Staaten, die in der Region um Vorherrschaftkämpfen - der Iran, Saudi-Arabien,
die Türkei, sogar Ägypten und in gewisser Weise auch die derzeit einzige Atommacht,
Israel -, bietet ihm einen idealen Nährboden. Mit einem kollektiven
Gewaltausbruch quittiert er alle von den Kolonisierungen und den Weltmächten
unbeglichenen Rechnungen: unterdrückte Minderheiten, willkürliche
Grenzziehungen, enteignete Bodenschätze, umkämpfte Einflusszonen, gigantische Rüstungsaufträge.
Das
Schlimmste ist vielleicht, dass er jahrtausendeo alte theologische Hassgefühle zu
neuem Leben erweckt: die Schismen des Islams, die Konfrontation der Monotheismen
beziehungsweise ihrer laizistischen Ersatzgebilde. Die Ursachen für einen Religionskrieg,
das muss man noch einmal mit aller Deutlichkeit sagen, finden sich niemals in
der Religion selbst. Stets liegen ihnen. Unterdrückungsverhältnisse, Machtkämpfe,
ökonomische Strategien zugrunde: allzu großer Reichtum, übergroßes Elend. Doch
wenn sich der Code der Religion (oder der Gegenreligion) ihrer bemächtigt, dann
wird der Feind zum Verdammten, und die Grausamkeit kennt oft keine Grenzen mehr.
Daraus sind Ungeheuer der Barbarei entstanden, die sich vom Wahnsinn ihrer
eigenen Gewalt nähren - wie der “Islamische Staat” mit seinen Enthauptungen, seinen
Vergewaltigungen der zu Sklavinnen erniedrigten Frauen, seinen Zerstörungen der
Kulturschätze der Menschheit. Doch auch andere, scheinbar “Vernünftigere” Formen
der Barbarei greifen um sich, wie zum Beispiel der Drohnenkrieg des Präsidenten
Obama (seines Zeichens Friedensnobelpreisträger)
- obwohl man doch weiß, dass für jeden getroffenen Terroristen neun Zivilisten geopfert werden.
Dieser nomadische, entgrenzte, polymorphe,
asymmetrische Krieg nimmt die Bevölkerungen zu beiden Ufern des Mittelmeers in Geiselhaft. Die Opfer der Attentate von Paris - wie zuvor schon
die der Attentate von Madrid, London, Moskau, Tunis, Ankara -, zusammen mit ihren Angehörigen, sind Geiseln. Die Flüchtlinge,
die Asyl suchen oder zu Tausenden den Tod finden, sind Geiseln. Die von der türkischen
Armee unter Beschuss genommenen Kurden sind Geiseln. Alle
Bürger der arabischen Länder sind Geiseln - stranguliert gleichermaßen vom Staatsterror,
dem fanatischen Dschihadismus, und den ausländischen Bombenangriffen.
Die Vereinten Nationen müssen sich wieder auf ihre·Gründungsidee
zurückbesinnen
Was
also tun? Um jeden Preis zunächst einmal gemeinsam nachdenken, sich nicht der Angst,
Zwangskoalitionen oder Rachegefühlen überlassen.
Selbstverständlich müssen alle zivilen und militärischen Schutzmaßnahmen ergriffen
werden, die notwendig sind, um Terroranschläge
zu vereiteln und ihre Urheber zu bestrafen. Gleichzeitig aber muss man von den demokratischen
Staaten fordern, dass sie Hassverbrechen
gegen jene Bürger, die wegen ihrer Herkunft oder ihres Glaubens von selbst ernannten
Patrioten zum inneren Feind abgestempelt warden, mit größter Entschlossenheit schlossenheit
unterbinden. Darüber hinaus muss man ebendiese Staaten darauf verpflichten, dass
sie die Grundrechte, die ihre Legitimität begründen, auch dann noch respektieren,
wenn sie ihre Sicherheitsvorkehrungen verschärfen. Am Beispiel des Patriot Act und
Guantanamos sehen wir, wie schwierig das ist.
Vor
allem aber müssen wir den Frieden wieder auf die Tagesordnung setzen, so schwierig
dies auch erscheinen mag. Ich spreche vom Frieden, nicht vom Sieg: von einem
dauerhaften, gerechten Frieden, nicht von einem Frieden der Schwäche, des
Kompromisses oder des Gegenterrors, sondern von einem mutigen, unnachgiebigen Frieden;
von einem Frieden für all jene, die an ihm ein Interesse haben, und zwar auf beiden
Seiten des uns verbindenden Meeres, das sowohl die Entstehung unserer Zivilisation
als auch unsere nationalen, religiösen, kolonialen, neokolonialen und postkolonialen
Konflikte erlebt hat.
Ich
mache mir in Hinblick auf diese Ziele keinerlei Illusionen: Die Chancen, es zu erreichen,
stehen nicht gut. Doch ich sehe auch nicht, wie die politischen Initiativen, die
sich dieser Katastrophe entgegenstemmen, ohne den moralischen Elan, der mit diesem
Ziel verbunden ist, zu konkretisieren und zu artikulieren wären. Ich nenne drei
Beispiele:
Auf
der höchsten Ebene geht es um die Wiedereinsetzung des internationalen Rechts,
um eine Stärkung der Vereinten Nationen. Ihre Autorität wurde durch unilaterale
Souveränitätsansprüche, eine Verwechslung humanitärer Aufgaben mit sicherheitspolitischen
Erwägungen, die Unterwerfung unter das System des Kapitalismus und eine - an
die Stelle der Blockpolitik getretene - Klientelpolitik untergraben. Die Vereinten
Nationen müssen sich auf die Ideen der kollektiven
Sicherheit und der Konfliktprävention zurückbesinnen, was auf eine grundlegende
Reform der Organisation hinausläuft. Diese
Reform kann zweifellos nur bei der UN-Vollversammlung ansetzen, um der Diktatur
einiger weniger Mächte, die sich entweder
gegenseitig neutralisieren oder gemeinsam nur Schlechtes zuwege bringen, ein Ende
zu setzen.
Auf der unteren Ebene geht es um den
Impuls der Bürger, Grenzen zu überwinden, Glaubensgegensätze und widerstreitende Gemeinschaftsinteressen hinter
sich zu lassen - was voraussetzt, dass diese zunächst einmal in der Öffentlichkeit
geäußert werden. Einzelne Standpunkte dürfen
dabei ebenso wenig tabuisiert wie absolut
gesetzt werden, da die Wahrheit per definitionem nicht existiert, bevor sie nicht
aus Argumentation und Konflikt hervorgegangen ist.
Laizistische oder christliche Europäer
müssen also wissen, was Muslime davon halten, wenn der religiöse Begriff des Dschihad
für die Legitimation totalitärer Projekte und terroristischer Akte herhalten muss,
und wie sie ihre Möglichkeiten einschätzen, dagegen von innen heraus Widerstand
zu leisten. Genauso müssen die Muslime (und die Nichtmuslime) südlich des Mittelmeers wissen, wie die Nationen
des ehemals dominanten Nordens heute zu Rassismus, Islamophobie und Neokolonialismus
stehen. Vor allem aber müssen Okzidentalen und Orientalen gemeinsam die Sprache
eines neuen Universalismus erschaffen, indem
sie das Risiko einsehen für die jeweils anderen zu sprechen.
Eine Schließung der Grenzen,
Grenzziehungen zulasten der Multikulturalität, die die Gesellschaften der
gesamten Region prägt, kommen dabei schon einem Bürgerkrieg gleich. Vor diesem
Hintergrund aber wächst Europa eine unverzichtbare Aufgabe zu - eine Aufgabe,
die es trotz seiner Auflösungserscheinungen zu erfüllen hat. Jedes einzelne
Land ist imstande, alle anderen in eine Sackgasse hineinzumanövrieren, alle zusammen
aber könnten Auswege finden und Leitplanken einziehen.
Nach der Finanzkrise und der Flüchtlingskrise
würde der Krieg Europa den Garaus machen, wenn Europa ihm nicht entschlossen
die Stirn böte. Europa kann auf eine grundlegende Reform des internationalen Rechts
hinwirken; es kann dafür sorgen, dass die Sicherheit der Demokratien nicht
durch die Aushöhlung des Rechtsstaats erkauft wird; und Europa kann die Vielfalt
seiner Gemeinschaften als Ferment für eine neue Form der öffentlichen Meinung begreifen.
Europa verlangt nichts Unmögliches, wenn es seine Bürger, also uns alle, dazu
auffordert, uns auf Augenhöhe mit diesen Aufgaben zu begeben.
Es weist uns auf unsere eigene
Verantwortung hin, das was möglich ist, Realität warden zu lassen.
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