Der Rechtsextremismus in der Mitte der österreichischen Gesellschaft
Solange es stabile Demokratien gibt, sind Neurechte und Populisten kein Problem, sagt der deutsche Soziologe und Sozialpsychologe Harald Welzer. Problematisch werde es dann, wenn ihre Themen in die Mitte der Gesellschaft wandern. (…)
"Wiener Zeitung“: Sie beschäftigen sich schon lange mit der Frage, wie Gesellschaften ins Rutschen kommen. Welche Erkenntnis ziehen Sie daraus für die Gegenwart?
Harald Welzer: Die historische Lehre daraus ist, dass nicht die rechtsextremen Parteien das Problem sind, sondern diejenigen, die deren Themen und Begriffe übernehmen und damit in die Mitte der Gesellschaft tragen. Es ist eine Fiktion, dass man Rechtsextremismus dadurch verhindern könnte. Wir haben in der Bundesrepublik die Situation, dass die CSU versucht hat, dasselbe Marketing wie die AfD zu machen - mit dem Argument: "Es darf rechts von uns keine Partei geben." Damit haben sie bei den Wahlen aber nicht den gewünschten Erfolg, weil das Original gewählt wird und nicht die Kopie. Das Verrückte ist, dass die Medien und Teile der etablierten Politik auf die Themen der Rechten abfahren. Und nach der Blaupause von Jörg Haider bekommen unabhängig von ihrer - wahlstatistisch betrachtet - marginalen Rolle eine geradezu flächendeckende Aufmerksamkeit. Das macht das Bild darüber, was die Leute denken, total schief.
Wie schätzen Sie die politische Situation in Österreich ein?
In Österreich ist die Situation im Vergleich zu Deutschland ein paar Jahre vorverschoben. Die Marketing-Strategie der FPÖ, die Medien und die etablierten Parteien als Resonanzkörper für die eigenen Themen zu verwenden, ist lange erprobt und insofern kann man an Österreich sehen, was vielleicht auch in Deutschland noch auf uns zukommt. Die Sozialdemokratie hat sich weder nach links orientiert noch klar von den Rechtspopulisten distanziert. Die ÖVP wiederum ist nicht so sozialdemokratisiert wie die CDU in Deutschland. Hinzu kommt ein autoritäres Moment durch die Personalisierung über die Figur Kurz. Da die SPÖ nicht die linke Position aufrechterhalten hat, ist das gesamte politische Spektrum in Österreich nach rechts versetzt. Was eine historisch häufig vorgekommene Entwicklung ist. Aber gerade weil sie häufig vorgekommen ist, wundert man sich immer wieder, dass es heute noch immer funktioniert.
Mit häufig meinen Sie die Nationalratswahl 1999, aus der die schwarz blaue Koalition erwuchs?
Ja, zum einen. Die Blaupause ist letztlich die Situation 1932/1933 in Deutschland, als eine rechte Partei die Themen diktierte und andere Parteien begannen, diese Inhalte zu übernehmen.
Im Unterschied zu Österreich haben sich in der Bundesrepublik rechtspopulistische Parteien nie auf Dauer gehalten.
Genau. In Deutschland hatten sie bisher auch keinen Charismatiker. Die NPD blieb wegen der NS-Vergangenheit relativ marginalisiert. Andere, wie die Deutsche Volksunion oder die Republikaner poppten immer mal auf, kamen in ein, zwei Landtage und haben sich dann selber wieder zerlegt. Das waren vorübergehende Phänomene. Ich bin davon überzeugt dass die AfD ein völlig vergleichbares vorübergehendes Phänomen wäre, wenn sie denn nicht exakt diese Haidersche Strategie mit Erfolg anwenden würde.
Worin besteht diese?
Es ist das Verfahren der kalkulierten Grenzüberschreitung, die zunächst auf der Ebene der Sprache stattfindet und dazu führt, dass provozierende Äußerungen von Medien und Politik dann skandalisiert werden und so über Tage öffentliches Thema sind. Diese Strategie hat die FPÖ groß gemacht, seither ahmen alle Neurechten Europas dieses Muster nach.
Wie kann man dem entgegenwirken?
Durch ignorieren. Sobald absurde Diskussionen, etwa ob die Arbeitsmarktpolitik im Dritten Reich nicht vielleicht doch gut gewesen wäre oder ob der deutsche Soldat im Zweiten Weltkrieg nicht doch mehr Ehre verdient hätte, öffentlich sind, werden sie ja tatsächlich diskutiert. Und man fällt damit hinter alle erreichten Standards zurück. Man kann daraus nicht unmittelbare, sondern zeitlich vermittelte Effekte erzielen. Das sind scheinbar kleine Bausteine zu einer Gesamtveränderung des öffentlichen Diskurses und auch der politischen Gesamtstimmung.
Weshalb bemerken viele Menschen diese Änderungen nicht?
Menschen registrieren in sich wandelnden Umgebungen den Wandel nicht, weil sie ihre Wahrnehmungen permanent parallel zu den äußeren Veränderungen nachjustieren. Wenn es um Einstellungen, um politische Haltungen geht, gibt es keine empirischen Anhaltspunkte. Deshalb kann man auch ausländerfeindlich ohne Ausländer sein. Der entscheidende Punkt ist: Es ist nicht nur der Inhalt dessen, was in Medien vermittelt wird, sondern die schlichte Faktizität, worüber gesprochen wird. Und wenn ich jeden Tag die entsprechenden Artikel zur Kenntnis nehmen muss, weil die anderen Themen eben nicht da stehen, dann ist es natürlich klar, dass man diese Themen für bedeutsam hält. In so einer Verfremdung sieht man wie dominant unwichtige und marginale Themen werden.
Wiener Zeitung, 12.10.2017
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