Donnerstag, 5. Juli 2018
Die Krise der Europäischen Union
Jürgen Habermas
Protektionismus: Sind wir noch gute Europäer?
Der erschrockene Rückzug hinter nationale Grenzen kann nicht die Antwort auf die Herausforderungen unserer Zeit sein. Warum die Bevölkerungen Europas längst reifer sind als ihre politischen Eliten
In meinem Abiturzeugnis ist als Berufswunsch vermerkt: Habermas will Journalist werden. Allerdings ist mir, seitdem ich damit in der Gummersbacher Lokalredaktion des Kölner Stadt-Anzeigers angefangen und dann bei Adolf Frisé für das Feuilleton des Handelsblatts geschrieben habe, immer wieder bedeutet worden, dass ich zu schwierig schreibe. Sogar der sehr wohlwollende Karl Korn, der mich noch als Bonner Studenten eifrig zu Fingerübungen ermuntert hatte, meinte später, ich solle doch lieber bei meinem akademischen Leisten bleiben. Diese Bedenken halten in Leserbriefen bis in die jüngste Zeit an, und auf Besserung ist ja in meinem Alter nicht mehr zu hoffen. Umso mehr freue ich mich über die Einladung des Intendanten des Saarländischen Rundfunks, im Rahmen des Deutsch-Französischen Journalistenpreises in die großen Fußstapfen von so profilierten Vorgängern wie Tomi Ungerer, Simone Veil und Jean Asselborn zu treten.
Ich werde mich nicht mit den symptomatischen Geräuschen aus Bayern beschäftigen, die eine Regierungskrise ausgelöst und das eigentliche Thema, die mangelnde Kooperationsbereitschaft in der EU, in den Hintergrund gedrängt haben. Der Schwarze Peter liegt bei der Sorte von Europafreunden, die sich ihre tatsächlich gehegten Vorbehalte gegenüber einem solidarisch handelnden Europa nicht eingestehen. Jean-Paul Sartre hat unter dem Namen der mauvaise foi ein anschauliches Gegenbild zur bonne foi beschrieben. Wer von uns kennt nicht diese leise rumorende Beunruhigung: Man handelt bona fide, also guten Glaubens; aber in ruhigeren Stunden spürt man die Irritation eines nagenden Zweifels an der Konsistenz unserer nach außen stramm vertretenen Überzeugungen. Es gibt da eine faule Stelle, über die unbemerkt der Fluss unserer Argumente hinweggleitet. Nach meinem Eindruck entlarvt das Auftreten von Emmanuel Macron auf der europäischen Bühne eine solche faule Stelle im Selbstverständnis jener Deutschen, die sich während der Euro-Krise im festen Glauben auf die Schulter geklopft haben, sie seien doch immer noch die besten Europäer und zögen alle anderen aus dem Schlamassel.
Lassen Sie mich hinzufügen, dass ich die Zuschreibung einer solchen mauvaise foi nicht mit einem moralischen Vorwurf verbinde. Denn für den Zustand eines solchen, gewissermaßen von innen angefaulten Glaubens sind die Betroffenen weder ganz verantwortlich noch ganz von Verantwortung frei. In dieser Hinsicht besteht eine Ähnlichkeit unserer deutschen Europafreundlichkeit mit dem ganz anderen Phänomen jenes in den Zisterzienserklöstern des 11. Jahrhunderts offenbar verbreiteten Gemütszustandes von Mönchen, die von Glaubensanfechtungen heimgesucht wurden und in einem melancholischen Widerwillen versanken. Diese acedia genannte Schwermut wurde einerseits nicht als Sünde bestraft, weil sie die kognitive Schwelle expliziter Glaubenszweifel nicht überschreitet; andererseits sollte diese "Mönchskrankheit" auch nicht den klaren klinischen Tatbestand einer Depression erfüllen – das hätte den Betroffenen von aller Verantwortung entlastet. Die Mönche wurden für ihre Acedie nicht zur Verantwortung gezogen, sollten sich dafür aber selber der Verantwortung nicht ganz entziehen. Genau dieses Oszillieren, das die Grenze der Zurechenbarkeit verwischt, charakterisiert auch jenen guten Glauben, von dem wir ahnen, dass er einen Haken hat – die mauvaise foi.
Natürlich haben viele Kritiker die von Deutschland inspirierte Sparpolitik nicht nur für verfehlt gehalten, sondern hinter der Fassade einer wortstark reklamierten Solidarität immer schon einen Bias vermutet. Aber der Tenor der maßgebenden Presse hat viele Jahre lang dafür gesorgt, dass der gute Glaube der Bevölkerung an die solidarische Rolle der Deutschen auch in Krisenzeiten erhalten blieb. Im Großen und Ganzen wurde die uneigennützige Rolle der Bundesregierung als des umsichtigen Krisenmanagers und großzügigen Kreditgebers für glaubhaft gehalten: Hat sie nicht immer – einschließlich des missglückten Versuchs, den Griechen die Türe zu weisen – das Wohl aller Mitgliedsstaaten im Auge gehabt? Angesichts der ganz unvorhergesehenen Herausforderungen einer radikal veränderten Weltlage hat dieses gefällige Selbstbild heute erste Risse bekommen. Als Beleg nenne ich einen vor Kurzem erschienenen Leitartikel über jene berüchtigte Nacht, in der der französische Präsident der deutschen Bundeskanzlerin in den frühen Morgenstunden das Zugeständnis abgepresst hat, die Griechen nicht aus der europäischen Währungsgemeinschaft herauszuekeln. Erst heute, drei Jahre danach, darf eine immer schon klarsichtigere Cerstin Gammelin in ungeschminkten Worten an diesen Tiefpunkt unseres unverfrorenen nationalen Wirtschaftsegoismus erinnern (SZ vom 21. Juni 2018).
Für das Selbstbild der Deutschen als gute Europäer hatte es in der alten Bundesrepublik und bis zu Kohl wahrlich gute Gründe gegeben. Diese Gründe erklärten sich auch aus der Situation einer nicht nur in militärischer Hinsicht besiegten Nation – und waren trotzdem nicht ganz selbstverständlich. Nach meiner Beobachtung hat der mit Kohl einsetzende Mentalitätswandel zur gefeierten Normalität eines endlich wieder vereinten Nationalstaates dieses Selbstverständnis mit anderen Akzenten versehen und verstetigt. Schließlich hat sich dieses Bild im Zuge der Banken- und Staatsschuldenkrise und der widerstreitenden nationalen Krisennarrative immer selbstbezogener verhärtet und zunehmend Züge einer mauvaise foi angenommen. Der faule Fleck in dieser gutgläubigen Selbsttäuschung verrät sich im dissonanten Moment unseres Misstrauens gegenüber der Kooperationsbereitschaft anderer Nationen, insbesondere gegenüber dem europäischen Süden.
Wer der Bundeskanzlerin genau zuhört, bemerkt, dass sie von den Ausdrücken "loyal" und "solidarisch" einen eigentümlichen Gebrauch macht. Es war vor Kurzem im Gespräch mit Anne Will, als sie für die Asylpolitik und den Zollstreit mit den Vereinigten Staaten von den EU-Partnern gemeinsames politisches Handeln einforderte und in diesem Zusammenhang "Loyalität" anmahnte. Meistens ist es ja die Chefin, die von ihren Mitarbeitern Loyalität erwartet, während gemeinsames politisches Handeln eher Solidarität als Loyalität verlangt. Ausgehend von verschiedenen Interessenlagen, muss mal der eine, mal der andere eigene Interessen dem gemeinsamen Interesse unterordnen. Denn in der Asylpolitik sind nicht alle Länder, beispielsweise ihrer geografischen Lage wegen, gleichmäßig von der Migration betroffen; sie haben auch nicht alle die gleichen Aufnahmekapazitäten. Oder die angekündigten US-Zölle auf Autoimporte treffen den einen, in diesem Falle die Bundesrepublik, stärker als die anderen. In solchen Fällen heißt gemeinsames politisches Handeln, dass einer auf die Interessen des anderen Rücksicht nimmt und für die Folgen der gemeinsam getroffenen politischen Entscheidung mithaftet. Das überwiegend deutsche Interesse liegt in den beiden genannten Fällen ebenso auf der Hand wie etwa beim Drängen auf eine gemeinsame europäische Außenpolitik.
Die Ursache des trumpistischen Zerfalls Europas
Dass die Bundeskanzlerin in solchen Fällen von "Loyalität" spricht, erklärt sich wohl daraus, dass sie den Ausdruck "Solidarität" seit Jahren in einem anderen, nämlich ökonomistisch verengten Sinn gebraucht. "Solidarität gegen Eigenverantwortung" heißt die beschönigende Formel, die sich im Zuge der Krisenpolitik der letzten Jahre für die Erfüllung von Bedingungen eingebürgert hat, die der Kreditgeber den Kreditnehmern auferlegt. Worauf ich hinauswill, ist die konditionierende Umdeutung des Begriffs Solidarität; das ist die semantische Bruchstelle, an der heute die Gewissheit, dass wir Deutschen die besten Europäer sind, zu bröckeln beginnt. Entgegen dem wüsten Geschrei über Transferleistungen, die es niemals gegeben hat, sickern allmählich die fehlende Legitimität und der zweifelhafte Erfolg von investitionshemmenden haushaltspolitischen Auflagen und von Arbeitsmarktreformen, die für ganze Generationen Arbeitslosigkeit zur Folge haben, auch ins öffentliche Bewusstsein.
"Solidarität" ist ein Begriff für die reziprok vertrauensvolle Beziehung zwischen Akteuren, die sich aus freien Stücken an ein gemeinsames politisches Handeln binden. Solidarität ist keine Nächstenliebe, aber erst recht keine Konditionierung zum Vorteil einer Seite. Wer sich solidarisch verhält, ist bereit, sowohl im langfristigen Eigeninteresse wie im Vertrauen darauf, dass sich der andere in ähnlichen Situationen ebenso verhalten wird, kurzfristig Nachteile in Kauf zu nehmen. Reziprokes Vertrauen, in unserem Fall: Vertrauen über nationale Grenzen hinweg, ist eine ebenso wichtige Variable wie das langfristige Eigeninteresse. Das Vertrauen überbrückt die Frist bis zur möglichen Probe auf eine im Prinzip erwartbare Gegenleistung, von der aber ungewiss ist, ob und wann und wie sie fällig wird. In der zwanghaft engmaschigen Konditionierung von sogenannten Solidarleistungen verrät sich der Mangel an einer solchen Vertrauensbasis – und der hohle Boden unseres nationalen Selbstverständnisses als gute Europäer.
In den Verhandlungen über Macrons Reformvorschläge zögern die Bundesrepublik und in ihrem Schlepptau die sogenannten Geberländer wiederum, die unter suboptimalen Bedingungen operierende Währungsgemeinschaft zu einer politischen Euro-Union auszubauen. Dabei müsste eine demokratische Euro-Zone nicht nur gegen Spekulationen "wetterfest" gemacht werden – mit einer umstrittenen Bankenunion, einer entsprechenden Insolvenzordnung, einer gemeinsamen Einlagensicherung für Sparguthaben und einem auf europäischer Ebene kontrollierten Währungsfonds. Sie müsste vor allem mit Kompetenzen und Haushaltsmitteln für Eingriffe gegen das weitere ökonomische und soziale Auseinanderdriften der Mitgliedsstaaten ausgerüstet werden. Es geht nicht nur um fiskalische Stabilisierung, sondern um Konvergenz, das heißt um die glaubwürdige politische Absicht der ökonomisch und politisch stärksten Mitglieder, das gebrochene Versprechen der gemeinsamen Währung auf konvergente wirtschaftliche Entwicklungen einzulösen.
Der Rechtspopulismus mag sich an den Vorurteilen gegen Migranten hochrangeln und die Modernisierungsängste verunsicherter Mittelschichten aufputschen; aber Symptome sind nicht die Krankheit selbst. Die tiefer liegende Ursache der politischen Regression ist die handfeste Enttäuschung darüber, dass der EU in ihrem gegenwärtigen Zustand nicht nur die nötige politische Handlungsfähigkeit fehlt, um den Trends einer wachsenden sozialen Ungleichheit innerhalb der Mitgliedsstaaten und zwischen ihnen entgegenzuwirken. Der Rechtspopulismus verdankt sich in erster Linie der verbreiteten Wahrnehmung der Betroffenen, dass der EU der politische Wille fehlt, handlungsfähig zu werden. Der heute im Zerfall begriffene Kern Europas wäre in Gestalt einer handlungsfähigen Euro-Union die einzige denkbare Kraft gegen eine weitere Zerstörung unseres viel beschworenen Sozialmodells. In ihrer gegenwärtigen Verfassung kann die Union diese gefährliche Destabilisierung nur noch beschleunigen. Die Ursache des trumpistischen Zerfalls Europas ist das zunehmende und weiß Gott realistische Bewusstsein der europäischen Bevölkerungen, dass der glaubhafte politische Wille fehlt, aus diesem Teufelskreis auszubrechen. Stattdessen versinken die politischen Eliten im Sog eines kleinmütigen, demoskopisch gesteuerten Opportunismus kurzfristiger Machterhaltung. Der fehlende Mut zu einem eigenen Gedanken, für den man um den Preis der Polarisierung Mehrheiten erst gewinnen muss, ist umso ironischer, als es die solidaritätsbereiten Mehrheiten als eine fleet in being längst gibt. Ich bin der Auffassung, dass die politischen Eliten – und an erster Stelle die verzagten sozialdemokratischen Parteien – ihre Wähler normativ unterfordern. Dass diese Auffassung nicht bloß eine Spiegelung enttäuschter philosophischer Ideale ist, zeigt die jüngste Veröffentlichung der Forschungsgruppe von Jürgen Gerhards, der seit vielen Jahren großflächig und intelligent angelegte vergleichende Untersuchungen zur Frage der Solidaritätsbereitschaft in 13 Mitgliedsstaaten der EU durchführt: Inzwischen hat sich nicht nur ein verbindendes, vom Nationalbewusstsein unterscheidbares Bewusstsein europäischer Solidarität herausgebildet, sondern auch eine unerwartet hohe Bereitschaft zur Unterstützung europäischer Politiken, die eine Umverteilung über nationale Grenzen einschließen würden.
Die Bundesregierung steckt den Kopf in den Sand. Nur Macron hat Mut zur Gestaltung
Die italienische Krise ist vielleicht der letzte Anlass, um über die Obszönität nachzudenken, dass man der Europäischen Währungsunion zum Vorteil der wirtschaftlich stärkeren Mitglieder ein starres Regelsystem auferlegt, ohne zum Ausgleich Spielräume und Kompetenzen für ein gemeinsames flexibles Handeln zu öffnen. Daher ist der erste kleine Schritt zur Einrichtung eines Euro-Haushaltes, den Macron Merkel abgerungen hat, von so großer symbolischer Bedeutung. Dass sich eine Bundesregierung, die mit dem Rücken zur Wand steht, ihren zähen Widerstand gegen jeden einzelnen Integrationsschritt scheibchenweise abkaufen lässt, ist skurril. Ich kann mir nicht erklären, warum die deutsche Regierung glaubt, die Partner zur Gemeinsamkeit in Fragen der für uns wichtigen Flüchtlings-, Außen- und Außenhandelspolitik gewinnen zu können, während sie gleichzeitig in der zentralen Überlebensfrage des politischen Ausbaus der Euro-Zone mauert.
Die Bundesregierung steckt ihren Kopf in den Sand, während der französische Präsident den Willen deutlich macht, Europa zu einem globalen Mitspieler im Ringen um eine liberale und gerechtere Weltordnung zu machen. Auch das Echo, das der Kompromiss von Meseberg in der deutschen Presse gefunden hat, ist irreführend – als hätte Macron mit der Zusage zum Euro-Zonen-Budget einen dringend benötigten Erfolg im Austausch gegen seine Unterstützung für Merkels Asylpolitik erhalten. Das verwischt die Differenz, dass Macron wenigstens den Einstieg in eine Agenda erreicht hat, die weit über die Interessen eines einzelnen Landes hinausreicht, während Merkel um ihr eigenes politisches Überleben kämpft. Macron wird für die soziale Unausgewogenheit seiner Reformen im eigenen Land zu Recht kritisiert; aber er ragt über das europäische Führungspersonal hinaus, weil er jedes aktuelle Problem aus einer weiter ausgreifenden Perspektive beurteilt und daher nicht nur reaktiv handelt. Ihn zeichnet der Mut zu einer gestaltenden Politik aus. Und deren Erfolge widerlegen die soziologische Aussage, dass die Komplexität der Gesellschaft nur noch ein konfliktvermeidendes Reagieren zulasse.
Dem antikisierenden Blick auf das immergleiche Auf und Ab der Imperien entgeht das historisch Neue an der heutigen Situation. Die funktional immer dichter zusammenwachsende Weltgesellschaft ist politisch nach wie vor fragmentiert. Diese Entwaffnung der Politik erzeugt ein Gespür für die Schwelle, vor der die Bevölkerungen heute den Atem anhalten und zurückschrecken. Ich meine die Schwelle zu supranationalen Formen einer politischen Integration, die von den Bürgern verlangt, dass sie, bevor sie ihre Stimme abgeben, auch über nationale Grenzen hinweg gegenseitig die Perspektive der jeweils anderen übernehmen. Die Anwälte des politischen Realismus, die darüber ihren Hohn ausschütten, vergessen, dass ihre eigene Theorie auf den Fall des Kalten Kriegs zwischen zwei rationalen Spielern zugeschnitten war. Wo ist die Rationalität des Handelns in der heutigen Arena? Historisch betrachtet, ist der fällige Schritt zu einer politisch handlungsfähigen Euro-Union die Fortsetzung eines ähnlichen Lernprozesses, der mit der Herausbildung des Nationalbewusstseins im 19. Jahrhundert schon einmal stattgefunden hat. Auch damals ist das über Dorf, Stadt und Region hinausgreifende Bewusstsein nationaler Zusammengehörigkeit nicht naturwüchsig entstanden; vielmehr ist es von den tonangebenden Eliten den schon bestehenden funktionalen Zusammenhängen der modernen Flächenstaaten und Volkswirtschaften zielstrebig angepasst worden. Heute werden die nationalen Bevölkerungen von politisch unbeherrschten funktionalen Imperativen eines weltweiten, von unregulierten Finanzmärkten angetriebenen Kapitalismus überwältigt. Darauf kann der erschrockene Rückzug hinter nationale Grenzen nicht die richtige Antwort sein.
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