Wolfgang Sofsky
Das Volk schaut nur zu. Denn Demokratie ist am Ende Oligarchie
Wer den baldigen Untergang der Demokratie prophezeit, täuscht sich: Sie ist beständiger, als viele meinen. Entscheidend ist dabei, dass auch in ihr eine Elite herrscht – wenngleich von der Mehrheit legitimiert.
In Wechselzeiten zerplatzt manch liebgewordene Illusion. Altehrwürdige Parteien sterben ab, die Nation spaltet sich, das Recht erweist sich als verrückbar, und das Menschengeschlecht zeigt wenig Einsicht. Krisen machen nicht klüger.
Viele betäuben sich mit Verleugnung, Hoffnung – oder Empörung. Um sich gegen weitere Enttäuschungen zu wappnen, appellieren sie unverdrossen an angejahrte Werte. Eifrig suchen sie nach Übeltätern, um die Wut über die eigene Torheit auf Sündenböcke umzulenken. Oder sie projizieren die Angst sogleich ins Kosmische, wähnen den Untergang der Welt, der Natur, der Demokratie nahe. In solchen Lagen ist es zweckmässig, einen Schritt beiseitezutreten.
Wie ist es um die Zukunft der Demokratie bestellt, wenn etablierte Parteien verschwinden, selbsternannte Volkstribune auftauchen und da und dort die Regierung übernehmen, wenn sich auf Strassen und Displays der Zorn Bahn bricht und Wähler in grosser Zahl ihre Stimme für sich behalten?
Im Kreislauf der Verfassungen ist die Demokratie ein Zwischenstadium. Dieses kann einige Jahre, Jahrzehnte oder, wie in Britannien, der Schweiz oder den USA, Jahrhunderte währen. Manchmal fegt ein Aufstand oder Putsch Parlament und Präsidenten hinweg, manchmal kürt die allgemeine Wahl selbst den Tyrannen. Die Transformation zur Oligarchie indes vollzieht sich schleichend, aber mit eherner Gesetzmässigkeit. Aus der Einsicht, dass die Demokratie die beste unter all den schlechten Regierungsformen ist, folgt nicht, dass sie unvergänglich wäre.
Herrschaft der Eliten
Von anderen Systemen unterscheidet sich die demokratische Elitenherrschaft durch die Institutionalisierung des Streits und den Regimewechsel ohne Blutvergiessen. Das Parlament ersetzt den Bürgerkrieg durch das Gefecht der Worte. Wer indes alle zu Freunden erklärt und Konflikte zwischen Rivalen und Feinden in «Konsens» ersäuft, ruiniert die zentrale Errungenschaft der Demokratie: Fügsamkeit durch Widerspruch, Parolen durch Widerworte, Macht durch Gegenmacht einzuschränken.
Die demokratische Wahl bietet die Chance, Schurken ohne Gewalt loszuwerden. Personal- und Elitewechsel werden nicht von Enthauptungen, sondern nur von Verunglimpfungen begleitet. Die Verlierer, verärgert über den Verlust von Macht und Pfründen, bestreiten Fähigkeit, Charakter und Moral ihrer Nachfolger. Umgekehrt halten Nachfolger viele ihrer Vorgänger für gesinnungslose Strauchdiebe und Taugenichtse. Beim Elitewechsel rotiert auch die Verachtung. Felsenfest sind die alten Halunken davon überzeugt, dass die Neulinge die wahren Halunken seien.
Einen Vorteil an Sachkompetenz kann die Demokratie kaum für sich beanspruchen. Behörden in Autokratien können ebenso ineffektiv arbeiten wie unter gewählten Regierungen. Die Ausbeutung der Bevölkerung zugunsten des Steuerstaates kann in Demokratien höher liegen, da die Machtelite sich Zustimmung von der kostspieligen Versorgung einzelner Gruppen erhofft.
Das Rechtssystem ist eine von der Demokratie unabhängige Erfindung. Auch andere Herrschaftssysteme kennen Kodizes, die persönliche Willkür einschränken. Dass Recht und Justiz für Gerechtigkeit sorgen, war immer ein Mythos. Recht erzeugt Urteile und Regeln, entscheidet Konflikte, trifft Entscheidungen und ahndet Verbrechen, unabhängig davon, ob das Gesetz von einem Parlament, einem Senat oder einem Kronrat beschlossen wurde.
Ideologien der Demokratie suggerieren, das Volk sei an der Macht, obwohl es in Wahrheit nur Zuschauer in eigener Sache ist.
Freiheit und Demokratie sind nicht dasselbe. Die Herrschaft einer Elite im Namen der Mehrheit hat mit Freiheit nichts zu tun. Freiheit bemisst sich an der Stärke der Barrieren, die den Einzelnen vor den Massnahmen der Obrigkeit schützen. Von einer Politik, die von den Leidenschaften der Gleichheit oder Gemeinschaft beseelt ist, hat die Freiheit nichts zu erwarten. Eine demokratische Regierung ist nicht die Regierung eines jeden über sich selbst, sondern über jeden Einzelnen durch alle Übrigen.
Meinungen und Ideologien können in Demokratien in Widerstreit geraten, solange keine Denk- und Sprechverbote verhängt sind. Doch ist die Formierung des Weltbildes unübersehbar. Im Universum des Diskurses sind nur genehme «Demokraten» zugelassen. Ein Gewebe von Propaganda, Etikettierung und Indoktrination durchzieht die Gesellschaft. Jede Machtelite will die Untertanen davon überzeugen, dass es in ihrem ureigenen Interesse liege, ja ihre heilige Pflicht sei, der kleinen Schar Auserwählter treu zu folgen. Ideologien der Demokratie suggerieren, das Volk sei an der Macht, obwohl es in Wahrheit nur Zuschauer in eigener Sache ist.
Illusion: Gemeinwohl
Nie hat ein Volk sich selbst regiert. Die Identität von Regierung und Regierten ist selbst in der Eidgenossenschaft eine Chimäre. Dafür sollen Verheissungen von Sicherheit, Wohlstand oder Mitbestimmung die Staatsgläubigkeit stärken. Dieses Ziel ist erreicht, wenn die Wahl- oder Abstimmungsbeteiligung ein Minimum nicht unterschreitet und die Realität der Herrschaft im Wortnebel verschwindet. Sobald der Diskurs nur mehr belanglose Verlautbarungen auslegt und aktuelle Minuzien kommentiert, herrscht die ideologische Macht unangefochten.
Politische Entfremdung, Misstrauen und Überdruss sind im Bauplan der repräsentativen Demokratie von Anbeginn angelegt. Demokratie ist politische Herrschaft durch Amtsinhaber, die glauben, für ihre Wähler zu sprechen und zu handeln. Die Honoratioren der ersten Parlamente waren allein sich selbst verpflichtet, keinem Klub, keiner Partei. Aus jener Zeit stammt die Fiktion eines «Gemeinwohls». Da sich aber Fiktionen unmöglich mit den Interessen realer Gruppen und Klassen decken können, fühlten sich viele Untertanen verraten. Sie schlossen sich zu Klubs, Bünden, Vereinen, Parteien zusammen, um das Monopol der Ehrenmänner zu brechen und die eigene Sache durchzufechten.
In der westlichen Parteiendemokratie wählt das Volk Aktivisten und Funktionäre. Die Kandidaten können ersetzt werden, ohne dass der geneigte Wähler sogleich die Partei wechseln müsste. Parteien pflegen ihr Personal zu überleben. Der Abgeordnete ist nicht Beauftragter des Volkes, sondern der Partei, die ihn aufgestellt hat. De facto spricht er nicht für seine Wähler, sondern für ebendiese Partei. Der Bürger indes hat nichts weiter zu sagen. Er hat seine Stimme abgegeben.
Für die Parteielite ist der Apparat Mittel zur Macht. Ihr geht es weniger um die Partei oder die Gesellschaft, als um den Fortbestand ihrer selbst.
Wie alle Organisationen sind Parteien zuallererst an der Erhaltung ihrer selbst interessiert. Sie treiben Geld und Mitglieder ein, um Karrieren zu fördern, Netzwerke zu knüpfen, Machtsphären auszuweiten. Parteien verschaffen ihren Vertretern Posten und Pensionen. Mitläufer und Anhänger sorgen für Popularität. Programme sind zweitrangig. Sie sollen lediglich eine Sprachregel fixieren. Für die Parteielite ist der Apparat Mittel zum Zweck der Macht. Ihr geht es weniger um die Partei, geschweige denn die Gesellschaft, als um den Fortbestand ihrer selbst.
Die Teilung der Staatsmacht, welche den Untertan vor Willkür und Repression bewahren sollte, ist durch das Regime der Parteien ausgehöhlt. Eine freie Republik beruht auf der gegenseitigen Neutralisierung der Machtzentren. Parteien indes vereinen und verdichten Macht. Die Trennung zwischen Exekutive und Legislative ist ausgehöhlt, wenn nur mehr die parlamentarische Minderheit die Opposition stellt. In chronischen Gross- oder Allparteienkoalitionen ist Opposition ohnehin kaum vorgesehen. Widerworte zählen hier als Sünde am Konsens – der Oligarchie. Die Regierungsparteien beherrschen Parlament, Exekutive sowie Teile der Judikative und oft auch der staatsnahen Medien. Der Abgeordnete ist der Parteielite unterstellt. Anstatt in die Schranken gewiesen wird die Regierung von der Mehrheit gedeckt. Fraktions- und Koalitionsdisziplin fordern einstimmige Gefolgschaft. Das Parlament verkommt zum Hilfsorgan der Exekutive. Das Grundprinzip republikanischer Freiheit, die Teilung der Gewalten, ist weitgehend aufgehoben.
Wer Repräsentation sagt, der sagt nicht Demokratie, sondern Oligarchie. Und wer Partei sagt, der sagt nicht Volkspartei, sondern Herrschaft von Führungszirkeln. Die Struktur der Oligarchie ändert sich mit dem Übergang zur Publikumsdemokratie kaum. Zwar schwinden die Loyalitäten, Wechselwähler wandern weiter, Nichtwähler stellen oft die stärkste Fraktion. Gewählt werden häufig Leitfiguren, die akute Stimmungen verkörpern. Nicht was er tut und verspricht, entscheidet die Wahl eines Kandidaten, sondern wie er das verspricht, was er nicht halten wird.
Demokratie ist Theater, der Politiker der Entertainer. Und die Wahlkabine ist der Ort, wo das Publikum ohne Ticket Applaus oder Missfallen äussern darf.
Anders als Honoratioren und Parteiführer zeichnet sich das Ensemble der Theatrokratie durch Wendigkeit und Unterhaltungswert aus. Dafür ist im Skript neben dem Aufschneider und Nichtsnutz auch der Bösewicht vorgesehen, vornehmlich am rechten oder linken Rand der Sitzordnung. Spielkunst ist gefragt, Schlagfertigkeit, nicht Sachkompetenz oder Ehrbewusstsein. Demokratie ist Theater, der Politiker der Entertainer. Und die Wahlkabine ist der Ort, wo das Publikum ohne Ticket Applaus oder Missfallen äussern darf.
Allerdings sind die Zuschauer unberechenbar. Der altbekannten Gesichter sind viele überdrüssig. Sie warten ab, schweigen oder gehen. Einige wenden sich mit Grausen, andere wählen als Ausweg den Massenprotest. Der schlafende Souverän bleibt für die Machtelite eine Quelle zermürbender Ungewissheit. Wöchentliche Befragungen helfen dagegen wenig. Begeisterung dauert immer nur kurz; kollektiver Unmut indes löst prompten Opportunismus, Hysterie, ja Panik aus.
Dabei ist das System der Elitenherrschaft stabiler, als viele Zeitgenossen meinen. Die Ämter überdauern ihre Inhaber. Die Opposition, ob links, mittig oder rechts, ist nichts anderes als eine Art «Reserveelite», die gleichfalls Posten und Pensionen zu erobern sucht. Und das Publikum kann einer Sache absolut sicher sein. Es wird weiter regiert und repräsentiert werden. Der Untertan hat nur die Wahl, entweder repräsentiert zu werden und nicht selbst zu handeln oder nicht repräsentiert zu werden und trotzdem nicht selbst handeln zu können. Was immer der Wähler tut, ob er wählt oder nicht, die nächste – schlechte – Regierung ist ihm sicher.
Aus: NZZ, 19.2.2019
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