Donnerstag, 21. Februar 2019

Vermessung des Menschen. Zur Gesundheitspolitik der Konzerne


Anna-Verena Nosthoff und Felix Maschewski

Die neue Vermessung des Menschen: Die App weiss, wann Du stirbst

Facebook, Apple und Co. wollen mit Erfindungen wie der Smartwatch unsere Gesundheit optimieren. Dafür soll der Körper bis ins kleinste Detail vermessen werden. Doch können Algorithmen wirklich heilen?

Die Grosskonzerne aus dem Silicon Valley arbeiten bekanntermassen daran, unsere Welt wie eine Karte lesbar zu machen. Jedes geschriebene Wort soll gescannt, jede Strasse und jedes Haus erfasst, jede soziale Regung gesammelt, abrufbar, zugänglich gemacht werden. Man will nicht nur viel, man will alles wissen. Damit sich die Menschheit weniger irrt und verwirrt, besser durch die Gegenwartsgischt navigiert – damit sie datenbasiert an sich selbst gesunde.

So nimmt es nicht wunder, dass GAFA (Google, Apple, Facebook, Amazon) und Co., während sie bereits die Kommunikationssphäre dominieren, den Sektor Gesundheit wie eine Terra incognita vor sich liegen sehen. Die neuen Horizonte bestimmen dabei keine ferne Utopie, sondern ein Land der unendlich profitablen Möglichkeiten, einen Sehnsuchtsort für Weltvermesser.
Krankheit als Geschäft

In dieser Optik scheint der jüngste Vorstoss Tim Cooks nur folgerichtig: Wenn man einst, so die Prophezeiung des Apple-CEO Anfang Januar, nach dem «grössten Beitrag Apples für die Menschheit» frage, werde es nur eine Antwort geben: «Die Gesundheit.» In der «Bereicherung des menschlichen Lebens» erkannte die Firma immer schon ihre Mission. Um diese zu erfüllen, spielt die neue Apple Watch, die jeden Schritt und Pulsschlag erfasst, die entscheidende Rolle – «this is a huge deal».

Das Silicon Valley hat die Krankheit als Marktpotenzial, unser Sein zum Tode als Innovationstreiber erkannt. So drängen die Konzerne zielstrebig in einen Markt, der allein in den Vereinigten Staaten ein Volumen jenseits der drei Billionen erreicht.

Amazon gründete unlängst eine Krankenversicherung, baut gerade Kliniken – probeweise – für die eigene Belegschaft und hat sich die Internetapotheke Pillpack einverleibt. Facebook verhandelte bis zum Datenskandal um Cambridge Analytica mit Krankenhäusern über anonymisierte Gesundheitsdaten, um sie mit denen seiner Nutzer abzugleichen. Und zuletzt entwickelte das soziale Netzwerk einen Algorithmus, der die Aussagen amerikanischer User auf die Gefahr eines Suizids scannt.

Der avancierteste Player im Rennen um unsere Gesundheit ist derzeit jedoch Alphabet. Das Mutterschiff von Google entwickelte zuletzt KI-basierte Software-Lösungen, um Krankheitsverläufe und gar den Todeszeitraum von Patienten in Spitälern genauer zu bestimmen. Mit dem Subunternehmen Verily, vormals bekannt als Google Life Sciences, forschte man bereits an einer Kontaktlinse, die mittels Tränenflüssigkeit die Glukosekonzentration misst.

Live-Ticker für den Körper

Doch mit dem ehrgeizigen «Project Baseline» geht Alphabet noch aussichtsreichere Wege, wagt sich mit der «Landmark Study» immer tiefer in unkartiertes Feld: Bis zu 10 000 Probanden sollen, wissenschaftlich von der Duke und der Stanford University begleitet, ihre Gesundheits-, besser: Lebensdaten mit eigens von Verily entwickelten Wearables über vier Jahre lang messen.

Wie der biologische ist auch der Datenkörper immer «work in progress»: So werden nicht nur die Schlafqualität oder die körperliche Aktivität aufgezeichnet, sondern auch Langzeit-EKG durchgeführt, Genome sequenziert, Labor-Scans, Tests auf Herz und Nieren oder zur mentalen Verfassung unternommen. Krankheiten und ihre Entwicklung sollen – in einer Art Live-Ticker – genauer analysiert werden und damit immer besser vorhersagbar werden.

Von den Bakterien im Darm bis zur Karies im Zahn, in alle Gebiete des Lebens und Sterbens erhält das Unternehmen nun Einsicht, vermisst sie transparent und setzt alles in einen grösseren, biopolitischen Zusammenhang. Der Begriff des gläsernen Patienten, den man in den Plänen einer elektronischen Gesundheitskarte wie in Deutschland heraufziehen sieht, mutet im Vergleich geradezu brav an.

Denn wer bei «Baseline» mitmacht, stellt nicht nur seine alltäglichen Gewohnheiten, den Body-Mass-Index oder die Stimmung unter ständige Beobachtung. Er wird vielmehr, so versichert das Imagevideo des Projekts, zum Teil eines «Movements», einer «Community», die den «Kurs der Menschheit» zu verändern hilft: «Sharing is Caring» lautet das Motto – nun auch bei Google.
Die Vermessung des Menschen

Im grossen Gesundheitsdatenrausch hat sich also die Tonlage gewandelt. Es geht hier nicht mehr um die fast biedere Transparenz, aseptische Kurven oder gelangweilte Standardfragen. Es geht um kollektives Empowerment. Man könnte hier fast von einer Revolution sprechen, so emphatisch wird die «unglaublich tiefe und detaillierte» Vermessung der Welt in einer Sphäre aufgeladen, die sich sonst lediglich zum «quantified self» durchringt.

Dabei verzichtet diese Umwälzung auf Barrikaden und dreckige Hände, wirkt beinahe unpolitisch – weil sie den Einzelnen lustvoll bis sinnstiftend motiviert, ganz sanft das Leben punktiert: «We’ve mapped the world. Now let’s map human health.»

Dass dieses kollektivistische «Wir» nicht ganz so reibungslos funktioniert wie verlautbart, dass hier tektonische Verschiebungen in ganz anderen Dimensionen vor sich gehen, lässt sich erahnen, wenn man Apps und Startups anschaut, die im Umfeld des Grossprojekts wie Pilze aus dem kalifornischen Boden schiessen. So haben Entrepreneure aus dem Valley erkannt, dass das Erfassen mentaler Dissonanzen über Fragebögen nicht ganz verlässlich ist, die Selbstbekenntnisse häufig von verzerrenden Meinungen und lästigen Empfindungen kontaminiert sind.

Psychologie ohne Psyche

Man entwickelt daher mit Hochdruck Methoden, die das Innere der Blackbox «objektivieren», das heisst, die trübe Brühe der menschlichen Psyche über beobachtbares Verhalten zu decodieren versuchen. Als das beste aller behavioristischen Aufschreibesysteme bewährt sich hier zurzeit das Smartphone, ein multisensorisch-gläsernes Device, auf dessen Oberfläche sich – zumindest für die digitale Gesundheitsavantgarde – das Unbewusste zu spiegeln scheint.

Besonders das Startup Mindstrong Health des früheren Direktors des amerikanischen National Institute of Mental Health und nicht zufällig auch vormaligen Leiters der Abteilung für psychische Gesundheit bei Verily, Thomas Insel, eröffnet ganz neue Sichtachsen. Man analysiert das Tippverhalten des Smartphone-Users – wie er scrollt, klickt oder wischt –, um qua Mustererkennung Verhaltensprofile zu erstellen, die wie Kompassnadeln auf mentale Schwachpunkte verweisen.

Insel nennt das Verfahren «digital phenotyping», eine Form der Kartierung, die anhand von digitalen «Biomarkern» und ohne Inhalt oder Semantik des Getippten zu deuten, Depressionen zu diagnostizieren verspricht. Wer, vereinfacht gesagt, zu langsam tippt, der erscheint geknickt; wer sehr schnell auf sein Smartphone einhämmert, befindet sich womöglich in einer manischen Phase.

Jede äussere Regung, so die Annahme, reflektiert eine innere Bewegung. Denn nicht das Was oder Warum, sondern lediglich das Wie interessiert, nicht die inneren Konflikte, die Geschichte oder die soziale Konstellation werden mit Begriffen umstellt. Allein die mathematischen Korrelationen zählen, bedeuten nun mehr als jede Intention. Zweckhaftes Verhalten wird in der Folge ohne schwerverständliche Zwecke beschrieben, die Psychologie, wie es der Philosoph Hans Jonas einmal ausdrückte, ganz «ohne Psyche».

Der Mensch als Datenpaket

Das, was bei Baseline oder Mindstrong schliesslich anschaulich wird, ist das Zusammenschnurren des Subjekts auf die Summe seiner Datenpunkte. In der Netzwerkgesellschaft gibt es keinen Ort für das einzelne Individuum, denn es ist im Zuge der Auswertungen – das hochgejazzte «Wir» wirkt wie ein latenter Hinweis – kaum noch als solches sichtbar. Allenfalls kennzeichnet es einen Knotenpunkt, der sich lose im Spiel der Patterns bewegt; eine ephemere Hülle, die mehr als Profil denn als fühlendes Subjekt erscheint.

Vor diesem Hintergrund zeichnet sich eine weitere Verschiebung ab: Indem das Leben der Menschen immer detaillierter unter dem digitalen Schleier der Konzerne erfasst, ihr Verhalten immer präziser bestimmt werden kann, werden auch Krankheiten möglicherweise bald immer früher erkannt – wenn wir nichtsahnend auf dem Smartphone daddeln. Das Abwesende ist anwesend im Potenzial, und so hiesse es zeitnäher auf Gefahren zu reagieren, bei Risiken gegenzusteuern, das Verhalten früher zu verbessern, das heisst, es umzuprogrammieren, um damit das Leiden, aber auch die Kosten zu senken.

Datenbasierte Angst

Zugleich träte man aber in das ein, was man eine datafizierte Präventionsgesellschaft nennen könnte: in eine Existenz, die via Smartphone und Wearable permanent einer Semiotik des Misstrauens unterworfen wird. Jede Faser des Körpers, jede Unstimmigkeit oder Unebenheit des Geistes würden stets nach Abweichungen von der Normal- oder Idealform abgetastet, gewogen oder gesichtet, so dass nichts dem blossen Schicksal, nichts dem groben Verschleiss überlassen bliebe. Leben wäre – um es mit Michel Foucault zu sagen – tatsächlich ständige, datenbasierte Sorge um sich selbst. Doch kann man jemals gesund genug sein oder wirklich ausgesorgt haben?

In der Prävention liegt die produktivste und wohl auch lukrativste Antwort auf unser Sein zum Tode. Denn die Vorbeugung erkennt in der Sorglosigkeit die Nachlässigkeit, gibt eine Richtung vor, schafft Orientierung und legitimiert die Erhebung jedes noch so kleinen Datenpunktes.

Geht man also normalerweise davon aus, dass die Prävention nichts hervorbringt, weil sie zu vermeiden hilft, wissen die Konzerne aus dem Valley, dass das Gegenteil wahr ist. Denn wer vernünftig vorbeugen will, hat nie genug Daten gesammelt, hat nie genug Wahrscheinlichkeiten berechnet.

So kartieren GAFA und Co. vermeintlich nur die sichtbaren Oberflächen und Lebenswege, schaffen dabei jedoch ein präventionsindustrielles Wissensregime, das die Pfade des Wohlergehens vermisst und damit vorzeichnet. Unverbesserlich erscheint nur, wer sich nicht danach richtet.

Aus: NZZ online 21.2.2019

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