Mittwoch, 16. März 2022

Krieg gegen die Ukraine

 


Dan Diner: Krieg in der Ukraine. Im Bann der Sterblichkeit

Frankfurter Allgemeine Zeitung 15.3.2022

Der Philosoph Hans Blumenberg hat einst in einem Schlüsseltext Hitlers apokalyptische Verbindung aus „Lebenszeit und Weltzeit“ beschrieben. Lässt sich damit heute Putins wahnhaftes Handeln beschreiben?

Putins Krieg gegen die Ukraine lädt zur Relektüre einer Miniatur von Hans Blumenberg aus den achtziger Jahren ein. Dort befasst sich der Philosoph mit dem Phänomen einer erzwungenen Konvergenz von „Lebenszeit und Weltzeit“. Der Text handelt vom Krieg als Form politischen Handelns, in dem das gültige Abwarten erforderlicher Zeitdistanzen gewaltsam annulliert wird. Unternommen wird dies vom absoluten Herrscher, dessen politischer Zeitplan seiner persönlichen Lebenserwartung untersteht. So wird geschichtliche Dauer in das Prokrustesbett faktischer Lebenszeit gezwängt. Die Miniatur rückt die von der Person Hitlers beständig angestimmte larmoyante Klage, ihm entrinne „Die Zeit – immer wieder die Zeit!“ ins Zentrum der politisch-anthropologischen Reflexion. Nun ist Putin beileibe kein Hitler. Gleichwohl drängt das getriebene Handeln des russischen Präsidenten zum Vergleich mit der wahnhaften Ungeduld des reichsdeutschen Führers. Zwischen beiden bestehende Gemeinsamkeiten werden im politischen Zeitbewusstsein vermutet.

Sukzessive hat sich Putin zum Alleinherrscher gemausert. Bei seinem Vorgehen zerstörte er die „Institutionalität der Ge­schichtszeit“ (Blumenberg). Schließlich be­ruhen Institutionen darauf, dass die Le­benszeit der Regierenden nicht zum Maß aller Dinge wird; dass Verfügungen über die sie tragenden Personen hinaus verpflichtend getroffen und eingehalten werden. Die Putinsche Alleinherrschaft hat sich institutionellen Kautelen gänzlich entzogen. Zwei Tage vor dem russischen Einfall in die Ukraine wurde sie im Katharinensaal des Kremls in der Form einer Machtdemonstration vor der Kulisse eines als Sicherheitsrat ausgegebenen Haufens winselnder Höflinge besiegelt. Dort konnte man gewahr werden, wie der absolute Herrscher über Krieg und Frieden, Leben und Tod publikumswirksam zu verfügen vermag.

Fristen stehen für Zeitdruck. Zweierlei Fristen mochten Putin zum Waffengang veranlasst haben – ein Waffengang, der in die Zerstörung der Ukraine führt, Russland mit in den Abgrund zieht und die Welt, wie wir sie kannten, umstürzt. Eine der Fristen ist an das biologische Alter des Alleinherrschers gebunden. Er nähert sich seinem siebzigsten Lebensjahr. Zu der zeitlich eng bemessenen Lebensfrist des sterblichen Individuums gesellt sich eine strukturelle: Sie gilt dem voraussehbaren Ende des Bedarfs an fossilen Energieträgern – das „Gold“, das anstelle einer zeitgemäßen Produktivität den abschmelzenden Reichtum Russlands, seinen Staatsschatz birgt.

Gefährlicher Funke der Freiheit

Die Spekulation, der deutsche Regierungswechsel im Herbst sei seiner energiepolitischen Programmatik wegen Signal für eine von Russland ausgelöste Krise gewesen, hieße, jenen in der Mitte Europas getroffenen zivilen Entscheidungen eine übertriebene Bedeutung zuzuweisen. Der kurz zu­vor erfolgte schmähliche amerikanische Rückzug aus Afghanistan mochte hierfür von größerer Bedeutung gewesen sein. Die der Ukraine eher dilatorisch in Aussicht gestellte Nato-Mitgliedschaft dürfte Russland schon aus Gründen seines Prestiges wenig genehm gewesen sein und wurde auch als Ursache der sich Ende Februar militärisch entladenden Krise angegeben.

Die eigentliche Gefahr für Putins Regime ging aber von der 2013/14 im Zeichen des (Euro-)Maidan stehenden Demokratiebewegung aus. Der von Kiew ausgehende Funkenflug der Freiheit drohte Moskau zu erreichen. Die russische Reaktion auf den demokratischen Umsturz in Kiew sollte indes territoriale, sprich: sezessionistische Gestalt annehmen. Die Besetzung und Annexion der Krim sowie die bewaffneten Aktivitäten von Separatisten in der Ostukraine weisen derweil auf eine von langer Hand eingeleitete russische Politik porös zu haltender Grenzen hin. Von Putin seit der Jahrtausendwende politisch und militärisch angefacht, weist dieser Schwebezustand auf das ungeklärte Selbstverständnis Russlands zurück.

Zwar wird das Land als Föderation verwaltet, mäandert indes zwischen der Ge­stalt eines russischen Nationalstaates, ei­nem Imperiums und einer räumlich entgrenzten politisch-theologischen, orthodox-neoslawophilen Idee eines „Russkij Mir“ – einer „Russischen Welt“. So gesehen wird die Ukraine im Zuge ihrer 2014 sichtbar eingeschlagenen Westorientierung nicht nur als politisch-strategische Gefahr für Russland, sondern auch als religiös-kulturell grundiertes Sakrileg empfunden.

Die unterschiedlichen Anteile des russischen Selbstverständnisses, angereichert mit Residuen der Sowjetzeit, der Erinnerung an den Zweiten Weltkrieg wie auch der Zeit des Kalten Krieges, scheinen zudem zu einer militärisch wenig konsistenten Art der Kriegsführung in der Ukraine beizutragen. Nicht nur, dass die russischen Streitkräfte von den wiederholten Erklärungen Putins nicht unbeeindruckt geblieben sein konnten, ein kriegerischer Zugriff auf die Ukraine sei ausgeschlossen, das Ganze ein harmloses Manöver. Auch das anfängliche russische militärische Vorgehen weist Elemente unterschiedlicher, gar gegenläufiger Kriegsziele auf.

Uneinheitliche Taktiken

Handelt es sich, wie anfänglich insinuiert wurde, um eine Art von Regimesturz, eine Enthauptung der politischen Führung der Ukraine, der so etwas wie eine Bürgerkriegskonstellation vorausgegangen sei, die Russland zur Unterstützung von vorgeblich Unterdrückten intervenieren ließ, um das als „neo-nazistisch“ verleumdete Regime in Kiew zu stürzen und dabei von einer jubelnden Bevölkerung willkommen geheißen zu werden? Handelt es sich wo­möglich um eine Art von Bruderkrieg ethnisch verwandter Bevölkerungsgruppen, bei dem es gelte, die Russen respektive die Russischsprachigen vor einem drohenden „Genozid“ zu bewahren? Oder handelt es sich um einen Territorialkrieg traditioneller Art, indem sich staatlich organisierte Gemeinwesen in militärischer Schlachtordnung gegenüberstehen?

Im militärischen Vorgehen Russlands scheinen sich die unterschiedlichen Kriegsziele zu spiegeln. So erinnern die russischen Panzerkolonnen an Vorgehensweisen, wie sie für sowjetische Interventionen in die zum Warschauer Pakt gehörigen Staaten charakteristisch waren – so in Ungarn 1956 und der Tschechoslowakei 1968. Dies geschah nunmehr in der Ab­sicht, die Zentren ukrainischer Macht vornehmlich in Kiew und Charkiw in der Hoffnung zu erreichen, dort eine Russland genehme Regierung zu installieren. In diesen geradezu an Paradeformationen ge­mahnenden Kolonnen waren die im Stau steckenden Panzerfahrzeuge ex­trem verletzbar und wurden von der ukrainischen Gegenwehr zu Schrott zerschossen.

Im Süden und Südosten der Ukraine nimmt das russische Vorgehen eher die Gestalt territorialer Eroberung an, als gelte es, die Ausdehnung ohnehin be­ste­hen­der sezessionistischer Gebiete weiter zu vergrößern. Die nach Osten geöffneten Korridore für ukrainische Zivilisten sollen den Eindruck einer mit den Füßen erfolgenden Abstimmung für Russland erwecken. Der jüngste Strategiewechsel, die gepanzerten Einheiten im Norden in der Fläche zu verteilen und schwere Artillerie heranzuführen, um die großen Städte, vor allem die Hauptstadt Kiew, einzuschließen und zu be­schießen, weist indes auf eine ans Archaische gemahnende unterschiedslose Kriegsführung hin, bei der aus großer Entfernung ganze Stadtkulturen mit Katapulten zertrümmert und auf Dauer unbewohnbar ge­macht wurden.

„Mojem povtorit“ – „Wir können es abermals tun“. Der gegenwärtig in Russland durch die Medien verbreitete, auf eine Wiederholung sowjetischer militärischer Leistungen im Großen Vaterländischen Krieg von 1941 bis 1945 anspielende Ausspruch insinuiert so etwas wie eine Wiederkehr längst vergangener Konstellationen. Der hoch aufgeladene, von Putin an­gefeuerte Gegensatz zu alldem, was unter „Westen“ verstanden werden mag, wird in einer übergeschichtlich ausgelegten Historiosophie zusammengeführt, in der sich verschiedene Elemente russischer Ge­schichtserfahrung ideologisch bündeln. Sei es der Gegensatz von Latinität und Orthodoxie, der Kampf gegen die deutschen Ordensritter, der Einfall der Polen in Moskau Anfang des 17. Jahrhunderts, der Krim-Krieg als Weltkrieg des 19. Jahrhunderts, der Erste Weltkrieg, der Sturz des Zaren und der Einzug eines als westlich kontaminierten Marxismus, der An­griff Hitler-Deutschlands, und – für Putin offenbar das sein Handeln befeuerndes Schlüsselereignis: der Zerfall der Sowjetunion als „größte geopolitische Katastrophe des 20. Jahrhunderts“, wobei die Sowjetunion als ein imperiales Gehäuse der bisher größten russländischen Machtentfaltung begriffen wird. Soweit das Glück der Deutschen mit dem Ende des Sowjetreiches korrespondiert, vermag eine solche Wahrnehmung das Schicksal beider kontrastieren. So verheißt das im „mojem povtorit“ angelegte Wiederholungsmotiv angesichts des gegenwärtig auf die Ukraine beschränkten Krieges für Eu­ropa nichts Gutes.

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