Manfred Berg: US-Verfassung: Gegen das Streben nach Tyrannei
Die US-Gründerväter schufen ein System der Checks and Balances. Schützt es die Demokratie so verlässlich, wie viele glauben?
Aus der ZEIT Nr. 03/2025 15. Januar 2025
Am 20. Januar 2025 wird Donald J. Trump feierlich schwören, sein Amt als Präsident der USA "getreulich auszuüben und nach besten Kräften die Verfassung der Vereinigten Staaten zu bewahren, zu schützen und zu verteidigen". Vielen wird es schwerfallen, ihm zu glauben. Immerhin hat ihn die Verfassung 2021 nicht davon abgehalten, trotz Wahlniederlage an der Macht bleiben zu wollen. Der Kapitol-Sturm am 6. Januar war, in den Worten seiner republikanischen Kritikerin Liz Cheney, "der schwerste Verfassungsbruch eines Präsidenten in der Geschichte unserer Nation". Auch im Wahlkampf 2024 gab sich Trump nicht gerade verfassungstreu, sondern machte keinen Hehl daraus, dass er sich, wiedergewählt, an seinen Feinden rächen und am liebsten wie ein gewählter Diktator regieren möchte.
Nun sind die USA seit ihrer Gründung ein Verfassungsstaat. Sie sind auf das Prinzip der Gewaltenteilung und auf die Garantie von Freiheitsrechten gebaut. Wie nach Trumps erstem Wahlsieg 2016 verweisen Optimisten daher auch jetzt wieder auf das System der Checks and Balances, das Trumps autokratische Ambitionen einhegen werde. Aber worin genau bestehen diese Sicherungen? Und wie gut haben sie in der Vergangenheit funktioniert?
Die Tyrannei der Mehrheit
Das Grundprinzip formulierte John Adams, der spätere zweite Präsident der USA, schon während des Unabhängigkeitskrieges (1775–1783). Legislative, Exekutive und Judikative – Gesetzgeber, Regierung und Justiz – sollten unabhängig voneinander sein: "Nur dadurch, dass jede dieser Gewalten gegen die beiden anderen ausbalanciert wird, kann das in der menschlichen Natur angelegte Streben nach Tyrannei kontrolliert [checked] und gezügelt werden."
Das war keine neue Idee. Die Gründerväter knüpften an das antike Denken, die englische Rechtstradition und den französischen Aufklärer Montesquieu an. Doch in der Bundesverfassung von 1787 gingen sie einen entscheidenden Schritt weiter: Sie fügten der horizontalen Gewaltenteilung eine vertikale hinzu. An die Stelle des 1776 geschaffenen Staatenbundes trat ein handlungsfähiger Bundesstaat, dessen Gliedstaaten im Gegenzug weitreichende Kompetenzen erhielten. Aber würde das die Einzelstaaten und die Bürger wirklich vor Übergriffen der Zentralregierung schützen? Nicht alle waren sich da sicher.
James Madison, der die Verfassung maßgeblich prägte und 1809 Präsident wurde, verstand die Skepsis der sogenannten antifederalists, die jedwede Zentralinstanz ablehnten. Zugleich war er überzeugt, dass die doppelte Gewaltenteilung eine stabile und freiheitssichernde Balance gewährleisten werde. Die Pointe seiner Argumentation war, dass – entgegen dem zeitgenössischen Ideal der Gemeinwohlorientierung – gerade die Vielfalt widerstreitender Interessen die Tyrannei einer Partei verhindern werde: "Machtstreben muss Machtstreben entgegengesetzt werden" lautet seine berühmte Formel aus den Federalist Papers. So führte Madison den gesellschaftlichen Pluralismus in die politische Theorie ein.
Entsprechend begründete die Verfassung von 1787 keine auf dem Mehrheitsprinzip beruhende Demokratie. Zu sehr fürchteten die Gründerväter die Verführbarkeit des Volkes und den Machthunger von Demagogen. Checks and Balances sollten eine Tyrannei der Mehrheit verhindern. Deshalb kennt die Verfassung bis heute kein nationales Wahlrecht und schrieb anfänglich nur für die Abgeordneten des Repräsentantenhauses eine Direktwahl durch das Volk vor. Im Senat haben alle Staaten unabhängig von ihrer Bevölkerungszahl zwei Sitze, damit die großen Staaten die kleinen nicht majorisieren. Die hohen Hürden für eine Verfassungsänderung – Zweidrittelmehrheiten im Kongress und eine Ratifizierung durch drei Viertel aller Bundesstaaten – geben den kleinen Staaten de facto ein Vetorecht. So scheiterte 1982 das Equal Rights Amendment, das die Gleichberechtigung der Geschlechter in der Verfassung verankern sollte und von einer großen Mehrheit der Bevölkerung unterstützt wurde, am Widerstand von nur 15 eher dünn besiedelten Staaten. Die Verfassungsväter, klagen moderne Kritiker, hätten die Tyrannei der Mehrheit verhindern wollen und dadurch der Tyrannei der Minderheit den Boden bereitet.
Die starke Stellung der Einzelstaaten diente überdies nicht nur freiheitlichen Zielen, sondern auch den Interessen der Sklavenhalter im Süden, denen sie eine Garantie gegen Eingriffe der Bundesgewalt in ihr menschliches "Eigentum" verschaffte. Obwohl der Begriff peinlich vermieden wurde, begünstigte die Verfassung die Sklaverei auf vielfältige Weise – etwa indem sie die Sklavenbevölkerung bei der Zumessung der Abgeordnetenzahl im Repräsentantenhaus und der Stimmen im Wahlkollegium bei der Präsidentschaftswahl berücksichtigte. So gewann der Süden einen überproportionalen Einfluss auf die nationale Politik. Sonst wären die Südstaaten der Union wohl nicht beigetreten. Als die Südstaatler 1861 ihre "besondere Einrichtung" durch die Wahl des Sklavereigegners Abraham Lincoln zum US-Präsidenten bedroht sahen, erklärten sie folgerichtig die Sezession. Auch nach der Abschaffung der Sklaverei blieben die states’ rights eine scharfe Waffe im Kampf für die weiße Vorherrschaft.
Wie mächtig ist der Präsident?
Als Machtzentrum begriffen die Verfassungsgeber die aus Repräsentantenhaus und Senat bestehende Legislative. Zwar beschränkten sie deren Befugnisse im Wesentlichen darauf, Steuern und Zölle zu erheben, den Handel zu regeln sowie die innere und äußere Sicherheit zu gewährleisten. Die Ermächtigung, die dafür "notwendigen und zweckmäßigen Gesetze" zu erlassen, nutzte der Kongress jedoch schon bald, wie Kritiker gewarnt hatten, um seine Kompetenzen auszuweiten. 1791 etwa autorisierte er die Gründung der quasistaatlichen Bank of the United States, obwohl davon nichts in der Verfassung stand.
Der Exekutive weist die Verfassung hingegen eine eher dienende Rolle zu, indem sie den Präsidenten auf den gewissenhaften Vollzug der vom Kongress verabschiedeten Gesetze verpflichtet. Gewählt wird er überdies nicht vom Kongress (wie der deutsche Kanzler vom Bundestag), sondern von einem Electoral College. An Parteien dachte ohnehin zunächst niemand. Dass die Kontrolle über Exekutive und Legislative nicht bei derselben Partei liegt, ein divided government, kommt daher gar nicht selten vor.
Gerichte, Amtsenthebungen und die USA
Auch kann der Präsident hohe Regierungsämter und die Richterstellen am Supreme Court nicht nach Gutdünken besetzen – der Senat muss jeweils zustimmen. Und er hat kein ausdrückliches Recht, Gesetze vorzuschlagen. Missfällt ihm ein Gesetz, kann er sein Veto einlegen, das der Kongress wiederum mit Zweidrittelmehrheit überstimmen kann.
Schon die antifederalists fürchteten, ein starker Präsident könnte monarchischen Ehrgeiz entwickeln. Dabei deutet der Verfassungstext kaum darauf hin, welch überragende Gestaltungsmacht der Präsident mit der Zeit erlangen sollte, geschweige denn, dass er einmal als der mächtigste Mann der Welt gelten würde. 1787 sah niemand voraus, dass die USA zu einer globalen Supermacht aufsteigen würden und die Befehlsgewalt über die Streitkräfte – der Präsident ist Oberbefehlshaber – zur wichtigsten Machtquelle einer "imperialen Präsidentschaft" werden könnte.
De jure unterliegen freilich auch die militärischen und außenpolitischen Kompetenzen der Kontrolle durch den Kongress. Das Recht zur Kriegserklärung ist den Volksvertretern vorbehalten. Und vom Präsidenten geschlossene völkerrechtliche Verträge benötigen eine Zweidrittelmehrheit im Senat. Nach dem Ersten Weltkrieg scheiterte Amerikas Beitritt zum Völkerbund an dieser Hürde, obwohl Präsident Woodrow Wilson ihn zur Schicksalsfrage der Menschheit erklärt hatte. Viele seiner Nachfolger verlegten sich deshalb darauf, wichtige internationale Abmachungen zu nicht zustimmungspflichtigen "Regierungsvereinbarungen" zu erklären, wie es Obama 2015 beim Atomabkommen mit dem Iran und 2016 beim US-Beitritt zum Pariser Klimaabkommen tat. Wenn die Checks and Balances den politischen Prozess zu lähmen drohen, finden sich meist Wege, sie auszuhebeln.
Letzter Ausweg Amtsenthebung
Da der Kongress den Präsidenten nicht wählt, kann er ihn auch nicht stürzen. Um einen korrupten oder kriminellen Präsidenten loszuwerden, muss das Repräsentantenhaus Anklage erheben wegen "Verrats, Bestechung und anderer Verbrechen und Vergehen" und der Senat mit einer Zweidrittelmehrheit den Schuldspruch fällen.
In der Geschichte der USA ist es viermal zu einem solchen Verfahren gekommen: 1868 gegen Andrew Johnson, 1998/99 gegen Bill Clinton und 2019 sowie 2021 gegen Donald Trump. Richard Nixon trat 1974 zurück, um dem als sicher geltenden Impeachment infolge der Watergate-Affäre zuvorzukommen.
Nixons Sturz verdeutlicht, dass das Verfahren nur funktioniert, wenn es von einem überparteilichen Konsens getragen wird. Als nicht mehr zu leugnen war, dass der Präsident angeordnet hatte, Straftaten zu vertuschen und die Justiz zu behindern, verlor er die Unterstützung seiner Partei. Nach dem 6. Januar 2021 hingegen weigerten sich die meisten republikanischen Senatoren, Trump zu verurteilen – er sei ja nicht mehr im Amt gewesen. Später erklärte die Partei den Sturm aufs Kapitol zum "legitimen politischen Diskurs". Die parteipolitische Polarisierung hat den Respekt vor der Gewaltenteilung ausgehöhlt.
Wie unabhängig ist das oberste Gericht?
Die dritte Säule der Checks and Balances bildet die Judikative, die Alexander Hamilton, später der erste US-Finanzminister, in den Federalist Papers die am "wenigsten gefährliche Gewalt" nannte, weil sie über keine Zwangsmittel verfüge. Nach Hamiltons Willen aber sollte der oberste Gerichtshof die Gesetze des Bundes und der Einzelstaaten auf ihre Vereinbarkeit mit der Verfassung hin prüfen können. In die Verfassung fand dies keinen Eingang. 1803 sprach sich der Supreme Court diese Autorität dann selbst zu.
Dass ein Gericht von den Volksvertretern beschlossene Gesetze einkassieren kann, provozierte immer wieder Kritik und Konflikte. Als ein mit konservativen Richtern besetzter Supreme Court in den Dreißigerjahren mehrere Gesetze, mit denen Präsident Franklin D. Roosevelt die Große Depression zu überwinden hoffte, für verfassungswidrig erklärte, verfiel Roosevelt auf die Idee, das Gericht durch bis zu sechs zusätzliche Richter zu erweitern, um sich genehme Mehrheiten zu sichern. Dieser court-packing plan scheiterte jedoch im Kongress, weil selbst Gefolgsleute des Präsidenten eine Schwächung der Judikative ablehnten. Von 1937 an ließ das Gericht die New-Deal-Gesetze dann doch passieren; sieben Richter schieden freiwillig aus und beugten sich damit dem Primat der Politik.
Durch die fortschreitende Polarisierung der US-Politik hat der oberste Gerichtshof seine Überparteilichkeit immer stärker eingebüßt. Bei der Nominierung der Richter kommt es seit Jahrzehnten zu parteipolitischen Schlammschlachten. Seit 2020 ist der Supreme Court klar konservativ dominiert – und er trägt ein gerüttelt Maß an Mitverantwortung dafür, dass Trump für den Kapitol-Sturm wohl nie zur Verantwortung gezogen wird: Das Urteil im Verfahren Trump v. United States vom 1. Juli 2024 gesteht dem Präsidenten eine äußerst weitreichende Amtsimmunität zu. "Was, wenn der Präsident ein Attentat auf einen politischen Gegner befiehlt?", fragte die liberale Richterin Sonia Sotomayor in ihrem abweichenden Votum: "Immun? Was, wenn er einen Militärputsch anzettelt, um an der Macht zu bleiben?" Ihr konservativer Kollege John Roberts, der Autor des Urteils, konterte, solche Szenarien seien "Angstmache".
Außer Kontrolle?
Trump beginnt seine zweite Amtszeit aus einer viel stärkeren Position als 2017. Er hat seine Partei geschlossen hinter sich, die in beiden Kongresskammern über eine, wenngleich knappe, Mehrheit verfügt. Bis zu den Zwischenwahlen 2026, bei denen sich die Verhältnisse ändern könnten, kann er in allen wichtigen Fragen auf Zustimmung zählen. Auch vom Supreme Court ist wenig Gegenwind zu erwarten: Mit Trump v. United States hat er Trump einen Freibrief ausgestellt, die Grenzen seiner Machtfülle auszutesten. Seine Beraterstäbe bereiten Säuberungen in Verwaltung und Militärführung vor, damit der künftige Präsident durchregieren kann; unter dem Banner "Project 2025" propagieren konservative Thinktanks schon länger die Idee einer unabhängigen Exekutive. Die Hoffnung auf die "bewährten" Checks and Balances könnte sich als trügerisch erweisen.
Demokratie
Kurzfristig bilden allenfalls die demokratisch regierten Bundesstaaten ein Gegengewicht, wie sie dies, etwa in der Klima- und der Migrationspolitik, schon nach 2017 versuchten. Die Politologin Rachel Kleinfeld warnte 2023 düster: "Die Vereinigten Staaten könnten den Punkt erreichen, an dem die beste Hoffnung darin besteht, Demokratie und Inklusion wenigstens in einigen Staaten zu sichern."
Nun kommt es auf die gesellschaftlichen Kräfte an, auf die der Architekt der Gewaltenteilung James Madison vertraute: "Machtstreben muss Machtstreben entgegengesetzt werden." Dass sich der Meta-Chef Mark Zuckerberg kürzlich demonstrativ zu Donald Trump bekannt hat, stimmt da nicht eben optimistisch. Aber womöglich entbrennt ein Interessenstreit auch innerhalb der Regierung: Wie lange wird die seltsame Trump-Koalition aus ultralibertären Plutokraten wie Elon Musk auf der einen Seite und den Nationalpopulisten der MAGA-Bewegung auf der anderen halten? So lautet die derzeit spannendste Frage der amerikanischen Politik.