Donnerstag, 23. Januar 2025

Gegen Tyrannei

Manfred Berg: US-Verfassung: Gegen das Streben nach Tyrannei

Die US-Gründerväter schufen ein System der Checks and Balances. Schützt es die Demokratie so verlässlich, wie viele glauben? 

Aus der ZEIT Nr. 03/2025 15. Januar 2025 

Am 20. Januar 2025 wird Donald J. Trump feierlich schwören, sein Amt als Präsident der USA "getreulich auszuüben und nach besten Kräften die Verfassung der Vereinigten Staaten zu bewahren, zu schützen und zu verteidigen". Vielen wird es schwerfallen, ihm zu glauben. Immerhin hat ihn die Verfassung 2021 nicht davon abgehalten, trotz Wahlniederlage an der Macht bleiben zu wollen. Der Kapitol-Sturm am 6. Januar war, in den Worten seiner republikanischen Kritikerin Liz Cheney, "der schwerste Verfassungsbruch eines Präsidenten in der Geschichte unserer Nation". Auch im Wahlkampf 2024 gab sich Trump nicht gerade verfassungstreu, sondern machte keinen Hehl daraus, dass er sich, wiedergewählt, an seinen Feinden rächen und am liebsten wie ein gewählter Diktator regieren möchte.

Nun sind die USA seit ihrer Gründung ein Verfassungsstaat. Sie sind auf das Prinzip der Gewaltenteilung und auf die Garantie von Freiheitsrechten gebaut. Wie nach Trumps erstem Wahlsieg 2016 verweisen Optimisten daher auch jetzt wieder auf das System der Checks and Balances, das Trumps autokratische Ambitionen einhegen werde. Aber worin genau bestehen diese Sicherungen? Und wie gut haben sie in der Vergangenheit funktioniert?

Die Tyrannei der Mehrheit

Das Grundprinzip formulierte John Adams, der spätere zweite Präsident der USA, schon während des Unabhängigkeitskrieges (1775–1783). Legislative, Exekutive und Judikative – Gesetzgeber, Regierung und Justiz – sollten unabhängig voneinander sein: "Nur dadurch, dass jede dieser Gewalten gegen die beiden anderen ausbalanciert wird, kann das in der menschlichen Natur angelegte Streben nach Tyrannei kontrolliert [checked] und gezügelt werden."

Das war keine neue Idee. Die Gründerväter knüpften an das antike Denken, die englische Rechtstradition und den französischen Aufklärer Montesquieu an. Doch in der Bundesverfassung von 1787 gingen sie einen entscheidenden Schritt weiter: Sie fügten der horizontalen Gewaltenteilung eine vertikale hinzu. An die Stelle des 1776 geschaffenen Staatenbundes trat ein handlungsfähiger Bundesstaat, dessen Gliedstaaten im Gegenzug weitreichende Kompetenzen erhielten. Aber würde das die Einzelstaaten und die Bürger wirklich vor Übergriffen der Zentralregierung schützen? Nicht alle waren sich da sicher.

James Madison, der die Verfassung maßgeblich prägte und 1809 Präsident wurde, verstand die Skepsis der sogenannten antifederalists, die jedwede Zentralinstanz ablehnten. Zugleich war er überzeugt, dass die doppelte Gewaltenteilung eine stabile und freiheitssichernde Balance gewährleisten werde. Die Pointe seiner Argumentation war, dass – entgegen dem zeitgenössischen Ideal der Gemeinwohlorientierung – gerade die Vielfalt widerstreitender Interessen die Tyrannei einer Partei verhindern werde: "Machtstreben muss Machtstreben entgegengesetzt werden" lautet seine berühmte Formel aus den Federalist Papers. So führte Madison den gesellschaftlichen Pluralismus in die politische Theorie ein.

Entsprechend begründete die Verfassung von 1787 keine auf dem Mehrheitsprinzip beruhende Demokratie. Zu sehr fürchteten die Gründerväter die Verführbarkeit des Volkes und den Machthunger von Demagogen. Checks and Balances sollten eine Tyrannei der Mehrheit verhindern. Deshalb kennt die Verfassung bis heute kein nationales Wahlrecht und schrieb anfänglich nur für die Abgeordneten des Repräsentantenhauses eine Direktwahl durch das Volk vor. Im Senat haben alle Staaten unabhängig von ihrer Bevölkerungszahl zwei Sitze, damit die großen Staaten die kleinen nicht majorisieren. Die hohen Hürden für eine Verfassungsänderung – Zweidrittelmehrheiten im Kongress und eine Ratifizierung durch drei Viertel aller Bundesstaaten – geben den kleinen Staaten de facto ein Vetorecht. So scheiterte 1982 das Equal Rights Amendment, das die Gleichberechtigung der Geschlechter in der Verfassung verankern sollte und von einer großen Mehrheit der Bevölkerung unterstützt wurde, am Widerstand von nur 15 eher dünn besiedelten Staaten. Die Verfassungsväter, klagen moderne Kritiker, hätten die Tyrannei der Mehrheit verhindern wollen und dadurch der Tyrannei der Minderheit den Boden bereitet.

Die starke Stellung der Einzelstaaten diente überdies nicht nur freiheitlichen Zielen, sondern auch den Interessen der Sklavenhalter im Süden, denen sie eine Garantie gegen Eingriffe der Bundesgewalt in ihr menschliches "Eigentum" verschaffte. Obwohl der Begriff peinlich vermieden wurde, begünstigte die Verfassung die Sklaverei auf vielfältige Weise – etwa indem sie die Sklavenbevölkerung bei der Zumessung der Abgeordnetenzahl im Repräsentantenhaus und der Stimmen im Wahlkollegium bei der Präsidentschaftswahl berücksichtigte. So gewann der Süden einen überproportionalen Einfluss auf die nationale Politik. Sonst wären die Südstaaten der Union wohl nicht beigetreten. Als die Südstaatler 1861 ihre "besondere Einrichtung" durch die Wahl des Sklavereigegners Abraham Lincoln zum US-Präsidenten bedroht sahen, erklärten sie folgerichtig die Sezession. Auch nach der Abschaffung der Sklaverei blieben die states’ rights eine scharfe Waffe im Kampf für die weiße Vorherrschaft.

Wie mächtig ist der Präsident?

Als Machtzentrum begriffen die Verfassungsgeber die aus Repräsentantenhaus und Senat bestehende Legislative. Zwar beschränkten sie deren Befugnisse im Wesentlichen darauf, Steuern und Zölle zu erheben, den Handel zu regeln sowie die innere und äußere Sicherheit zu gewährleisten. Die Ermächtigung, die dafür "notwendigen und zweckmäßigen Gesetze" zu erlassen, nutzte der Kongress jedoch schon bald, wie Kritiker gewarnt hatten, um seine Kompetenzen auszuweiten. 1791 etwa autorisierte er die Gründung der quasistaatlichen Bank of the United States, obwohl davon nichts in der Verfassung stand.

Der Exekutive weist die Verfassung hingegen eine eher dienende Rolle zu, indem sie den Präsidenten auf den gewissenhaften Vollzug der vom Kongress verabschiedeten Gesetze verpflichtet. Gewählt wird er überdies nicht vom Kongress (wie der deutsche Kanzler vom Bundestag), sondern von einem Electoral College. An Parteien dachte ohnehin zunächst niemand. Dass die Kontrolle über Exekutive und Legislative nicht bei derselben Partei liegt, ein divided government, kommt daher gar nicht selten vor.

Gerichte, Amtsenthebungen und die USA

Auch kann der Präsident hohe Regierungsämter und die Richterstellen am Supreme Court nicht nach Gutdünken besetzen – der Senat muss jeweils zustimmen. Und er hat kein ausdrückliches Recht, Gesetze vorzuschlagen. Missfällt ihm ein Gesetz, kann er sein Veto einlegen, das der Kongress wiederum mit Zweidrittelmehrheit überstimmen kann.

Schon die antifederalists fürchteten, ein starker Präsident könnte monarchischen Ehrgeiz entwickeln. Dabei deutet der Verfassungstext kaum darauf hin, welch überragende Gestaltungsmacht der Präsident mit der Zeit erlangen sollte, geschweige denn, dass er einmal als der mächtigste Mann der Welt gelten würde. 1787 sah niemand voraus, dass die USA zu einer globalen Supermacht aufsteigen würden und die Befehlsgewalt über die Streitkräfte – der Präsident ist Oberbefehlshaber – zur wichtigsten Machtquelle einer "imperialen Präsidentschaft" werden könnte.

De jure unterliegen freilich auch die militärischen und außenpolitischen Kompetenzen der Kontrolle durch den Kongress. Das Recht zur Kriegserklärung ist den Volksvertretern vorbehalten. Und vom Präsidenten geschlossene völkerrechtliche Verträge benötigen eine Zweidrittelmehrheit im Senat. Nach dem Ersten Weltkrieg scheiterte Amerikas Beitritt zum Völkerbund an dieser Hürde, obwohl Präsident Woodrow Wilson ihn zur Schicksalsfrage der Menschheit erklärt hatte. Viele seiner Nachfolger verlegten sich deshalb darauf, wichtige internationale Abmachungen zu nicht zustimmungspflichtigen "Regierungsvereinbarungen" zu erklären, wie es Obama 2015 beim Atomabkommen mit dem Iran und 2016 beim US-Beitritt zum Pariser Klimaabkommen tat. Wenn die Checks and Balances den politischen Prozess zu lähmen drohen, finden sich meist Wege, sie auszuhebeln.

Letzter Ausweg Amtsenthebung

Da der Kongress den Präsidenten nicht wählt, kann er ihn auch nicht stürzen. Um einen korrupten oder kriminellen Präsidenten loszuwerden, muss das Repräsentantenhaus Anklage erheben wegen "Verrats, Bestechung und anderer Verbrechen und Vergehen" und der Senat mit einer Zweidrittelmehrheit den Schuldspruch fällen.

In der Geschichte der USA ist es viermal zu einem solchen Verfahren gekommen: 1868 gegen Andrew Johnson, 1998/99 gegen Bill Clinton und 2019 sowie 2021 gegen Donald Trump. Richard Nixon trat 1974 zurück, um dem als sicher geltenden Impeachment infolge der Watergate-Affäre zuvorzukommen.

Nixons Sturz verdeutlicht, dass das Verfahren nur funktioniert, wenn es von einem überparteilichen Konsens getragen wird. Als nicht mehr zu leugnen war, dass der Präsident angeordnet hatte, Straftaten zu vertuschen und die Justiz zu behindern, verlor er die Unterstützung seiner Partei. Nach dem 6. Januar 2021 hingegen weigerten sich die meisten republikanischen Senatoren, Trump zu verurteilen – er sei ja nicht mehr im Amt gewesen. Später erklärte die Partei den Sturm aufs Kapitol zum "legitimen politischen Diskurs". Die parteipolitische Polarisierung hat den Respekt vor der Gewaltenteilung ausgehöhlt.

Wie unabhängig ist das oberste Gericht?

Die dritte Säule der Checks and Balances bildet die Judikative, die Alexander Hamilton, später der erste US-Finanzminister, in den Federalist Papers die am "wenigsten gefährliche Gewalt" nannte, weil sie über keine Zwangsmittel verfüge. Nach Hamiltons Willen aber sollte der oberste Gerichtshof die Gesetze des Bundes und der Einzelstaaten auf ihre Vereinbarkeit mit der Verfassung hin prüfen können. In die Verfassung fand dies keinen Eingang. 1803 sprach sich der Supreme Court diese Autorität dann selbst zu.

Dass ein Gericht von den Volksvertretern beschlossene Gesetze einkassieren kann, provozierte immer wieder Kritik und Konflikte. Als ein mit konservativen Richtern besetzter Supreme Court in den Dreißigerjahren mehrere Gesetze, mit denen Präsident Franklin D. Roosevelt die Große Depression zu überwinden hoffte, für verfassungswidrig erklärte, verfiel Roosevelt auf die Idee, das Gericht durch bis zu sechs zusätzliche Richter zu erweitern, um sich genehme Mehrheiten zu sichern. Dieser court-packing plan scheiterte jedoch im Kongress, weil selbst Gefolgsleute des Präsidenten eine Schwächung der Judikative ablehnten. Von 1937 an ließ das Gericht die New-Deal-Gesetze dann doch passieren; sieben Richter schieden freiwillig aus und beugten sich damit dem Primat der Politik.

Durch die fortschreitende Polarisierung der US-Politik hat der oberste Gerichtshof seine Überparteilichkeit immer stärker eingebüßt. Bei der Nominierung der Richter kommt es seit Jahrzehnten zu parteipolitischen Schlammschlachten. Seit 2020 ist der Supreme Court klar konservativ dominiert – und er trägt ein gerüttelt Maß an Mitverantwortung dafür, dass Trump für den Kapitol-Sturm wohl nie zur Verantwortung gezogen wird: Das Urteil im Verfahren Trump v. United States vom 1. Juli 2024 gesteht dem Präsidenten eine äußerst weitreichende Amtsimmunität zu. "Was, wenn der Präsident ein Attentat auf einen politischen Gegner befiehlt?", fragte die liberale Richterin Sonia Sotomayor in ihrem abweichenden Votum: "Immun? Was, wenn er einen Militärputsch anzettelt, um an der Macht zu bleiben?" Ihr konservativer Kollege John Roberts, der Autor des Urteils, konterte, solche Szenarien seien "Angstmache".

Außer Kontrolle?

Trump beginnt seine zweite Amtszeit aus einer viel stärkeren Position als 2017. Er hat seine Partei geschlossen hinter sich, die in beiden Kongresskammern über eine, wenngleich knappe, Mehrheit verfügt. Bis zu den Zwischenwahlen 2026, bei denen sich die Verhältnisse ändern könnten, kann er in allen wichtigen Fragen auf Zustimmung zählen. Auch vom Supreme Court ist wenig Gegenwind zu erwarten: Mit Trump v. United States hat er Trump einen Freibrief ausgestellt, die Grenzen seiner Machtfülle auszutesten. Seine Beraterstäbe bereiten Säuberungen in Verwaltung und Militärführung vor, damit der künftige Präsident durchregieren kann; unter dem Banner "Project 2025" propagieren konservative Thinktanks schon länger die Idee einer unabhängigen Exekutive. Die Hoffnung auf die "bewährten" Checks and Balances könnte sich als trügerisch erweisen.

Demokratie

Kurzfristig bilden allenfalls die demokratisch regierten Bundesstaaten ein Gegengewicht, wie sie dies, etwa in der Klima- und der Migrationspolitik, schon nach 2017 versuchten. Die Politologin Rachel Kleinfeld warnte 2023 düster: "Die Vereinigten Staaten könnten den Punkt erreichen, an dem die beste Hoffnung darin besteht, Demokratie und Inklusion wenigstens in einigen Staaten zu sichern."

Nun kommt es auf die gesellschaftlichen Kräfte an, auf die der Architekt der Gewaltenteilung James Madison vertraute: "Machtstreben muss Machtstreben entgegengesetzt werden." Dass sich der Meta-Chef Mark Zuckerberg kürzlich demonstrativ zu Donald Trump bekannt hat, stimmt da nicht eben optimistisch. Aber womöglich entbrennt ein Interessenstreit auch innerhalb der Regierung: Wie lange wird die seltsame Trump-Koalition aus ultralibertären Plutokraten wie Elon Musk auf der einen Seite und den Nationalpopulisten der MAGA-Bewegung auf der anderen halten? So lautet die derzeit spannendste Frage der amerikanischen Politik.


Dienstag, 21. Januar 2025

Die rechte Internationale

Trumps neue Internationale. 

Was in den USA jetzt geschehen wird, lässt sich schwer prognostizieren. Doch die Trump-Präsidentschaft dürfte in zahlreichen Ländern die Macht­verhältnisse verschieben.

Daniel Binswanger, in Republik (CH) 18.01.2025

Radikale Ungewissheit ist ein Lackmus­test für die eigene Charakter­disposition. Werden Sie hyperaktiv und nervös oder melancholisch und passiv? Sind Sie Optimistin mit Urvertrauen oder luzider Pessimist? News­junkie am Bildschirm oder Eskapist auf seiner Yoga­matte?

Dieses Wochenende unterliegen wir den genannten Alternativen unter maximal verschärften Bedingungen. Denn mit der zweiten Trump-Präsidentschaft, die am Montag beginnt, treten wir ein in eine neue welthistorische Schreckens­periode – oder vielleicht eben doch nicht.

Was feststeht: Trump wird Schaden anrichten, massiven Schaden. Für die internationale Staaten­ordnung rund um den Globus, für den liberalen Verfassungs­staat in den Vereinigten Staaten, für die Integrität der politischen Institutionen, für die Rationalität der politischen Debatte. Es droht die Unter­minierung der Medien­freiheit, die Politisierung der Justiz, die Korrumpierung der Wirtschafts­eliten.

Alle diese Entwicklungen haben bereits eingesetzt. Entscheidend ist jedoch die Frage, wie weit sie gehen werden.

Wird die Trump-Präsidentschaft trotz der Neuauflage ein letztlich eingegrenztes und temporäres Phänomen bleiben, wird sich alles wieder einpendeln, wenn die Demokraten in zwei Jahren die mid­terms gewinnen und in vier Jahren Donald Trump aus Washington verschwinden wird, diesmal endgültig? Weil die Institutionen stabil genug sind und das amerikanische Publikum nicht vom Ende der Demokratie träumt, sondern von der Lösung seiner Alltags­probleme. Weil die USA zu gross sind und in den demokratischen Bundes­staaten zu viel Macht konzentriert ist, als dass der Präsident nun schalten und walten könnte, wie es ihm beliebt. Weil die schlichte Trägheit der Institutionen selbst einer Trump-Wiederkehr wird widerstehen können.

Oder wird es Trump gelingen, die checks and balances der US-Demokratie nach und nach ausser Kraft zu setzen? Einen geregelten Macht­wechsel in vier Jahren zu hintertreiben? Weil der Supreme Court schon dermassen politisiert ist, dass dieser das Recht ohnehin zu Trumps Gunsten beugt. Weil der Präsident mit dem Entziehen von Lizenzen, Klage­drohungen und wirtschaftlichem Druck die Medien schliesslich so weit eingeschüchtert haben wird, dass er eine kritische Gegen­öffentlichkeit nicht mehr zu fürchten braucht. Weil er das Justiz­departement, das FBI und die Bundes­steuerbehörde IRS auf die Führung der Demokraten loslassen und so viel Angst und Repression verbreiten wird, dass der politische Widerstand schliesslich wirkungslos und irrelevant bleibt.

Man kann darüber trefflich streiten, welches Szenario nun plausibler ist, aber letztlich wissen wir es nicht. Wenn die Dinge erst einmal ins Rutschen kommen, ist es schwer zu ermessen, wie weit sie aus der Spur geraten.

In der vordersten Reihe der Inaugurationsgäste: Zuckerberg, Bezos und Musk

Die grundsätzlich optimistische Position wird zum Beispiel vom Politologen Daniel Ziblatt vertreten – wenn auch mit gebotener Vorsicht. Er beklagt zwar das unbestreitbare demokratische backsliding, das nun kommen wird, aber er vertraut darauf, dass die Gegen­mächte stark genug sind, um die US-Demokratie vor dem Schlimmsten zu bewahren. «Die Gouverneure grosser, wohlhabender und von den Demokraten regierter Bundes­staaten wie Kalifornien, New York und Massachusetts haben erhebliche Macht», gibt der Harvard-Professor zu bedenken. Und er glaubt auch weiterhin an die Widerstands­kraft der Zivil­gesellschaft: «Ich denke, wenn Albtraum­szenarien wahr werden (…), dann wird die Öffentlichkeit reagieren.»

Doch mit rabenschwarzem Pessimismus schaut zum Beispiel der Politologe Harald Welzer in die Zukunft: «1933 lässt grüssen» ist sein Artikel zur Trump-Wahl überschrieben. Natürlich seien die USA des Jahres 2025 nicht eins zu eins mit dem Deutschland der frühen Dreissiger­jahre zu vergleichen. Aber glaubte man nicht auch damals, die «Einbindung» des NSDAP-Führers in die Regierung werde zu seiner Domestizierung, Entzauberung und schliesslich zur Stabilisierung der Weimarer Demokratie beitragen? Hat Welzer nicht recht, wenn er schreibt: «Es werden sich viel schneller, als man heute noch meinen sollte, Kipp­momente in ohnedies schwachen Überzeugungen, Einstellungen und Werten einstellen und Entscheidungen getroffen werden, die rapide Anpassungen an den neuen Zeit­geist bedeuten.» Dass diese Anpassungen bereits in vollem Gange sind, lässt sich auch an der europäischen Publizistik inzwischen bestens ablesen. Wie weit werden sie gehen?

Der zuverlässigste Verbündete der Vernunft – ein kruder Treppen­witz der Welt­geschichte – dürfte die Kopf- und Konzept­losigkeit des neuen Trump-Hofstaates sein. Trump hat weder eine konsistente Ideologie noch eine Vision noch einen Plan noch ein erkennbares, kohärentes Werte­fundament. Auch seine Wähler­basis ist vollkommen heterogen.

Der Präsident handelt gemäss dem Imperativ des Tages, orientiert sich ausschliesslich an seinem persönlichen Vorteil, ignoriert Fakten und längerfristige, strategische Interessen. Sein Team wird sich zu guten Teilen aus Karrieristinnen und ideologischen Irrläufern zusammen­setzen, wobei Erstere, also durchaus strategisch handelnde Akteure mit eigener Agenda wie zum Beispiel Elon Musk, die viel grössere Gefahr darstellen dürften. Als die beste Chance für die amerikanische Demokratie erscheint schon beinahe die Unzurechnungs­fähigkeit ihres potenziellen Zerstörers in chief.Eindrücklich illustriert wurde das vor dem Amts­antritt noch einmal durch die Senats-Hearings zur Nominierung von Pete Hegseth als Verteidigungs­minister. Das Amt des US-Verteidigungs­ministers ist der vielleicht verantwortungs­vollste und komplexeste Management­job der Welt. Trump wird einen Fox-News-Moderator aus dem zweiten Glied mit einem Alkohol­problem und einer Vorgeschichte von sexuellen Übergriffen auf diesen Posten setzen.Das Hearing von Hegseth wurde zu einem absurden Schlamm­bad, in dem die demokratischen Mitglieder der sicherheits­politischen Kommission des US-Senates dem künftigen Verteidigungs­minister mit zahlreichen Nachfragen zu Verfahren wegen sexueller Übergriffe und Episoden von Kontroll­verlust aufgrund exzessiven Alkohol­konsums auf die Pelle rückten. Hegseth wiederholte wie ein Sprech­automat, dass es sich hier lediglich um «anonyme Verleumdungen» handle, was unbestreitbar nicht den Fakten entspricht. Das dürfte jedoch keine Rolle spielen: Nach heutigem Stand werden die Republikaner Trumps nominee sowohl in der Kommission als auch im Senat geschlossen unter­stützen. Einer Amts­einsetzung steht dann nichts mehr im Weg.

Dass so eine Persönlichkeit zum secretary of defense gemacht werden soll, ist der offensichtliche politische Wahnsinn. Was Hegseth in Trumps Augen für die Aufgabe qualifiziert, ist wohl primär die Tatsache, dass er ihn von Fox-News kennt, dass er immer ein hundert Prozent loyales Maga-Sprachrohr war, dass seine oberste Priorität darin besteht, vermeintlichen «Wokismus» und die um Gleichstellung bemühte DEI-Politik (diversity, equity, inclusion) in den Streit­kräften zu beenden.

Und es gibt auch eine dunklere Seite: Hegseth hat sich rechts­radikale Symbole auf den Leib tätowieren lassen und ist Trump vor allen Dingen deshalb politisch näher­gekommen, weil er erfolgreich dafür lobbyierte, dass verurteilte Kriegs­verbrecher aus den Reihen der US-Armee, die im Irak grundlos Zivilisten ermordet hatten, von Trump begnadigt wurden.

Die Vorstellung, dass ein Mann mit diesem Profil nun, wie Trump es gemäss Medien­berichten planen soll, damit beauftragt wird, eine politische Säuberung des amerikanischen General­stabs durchzuziehen, ist der perfekte Alb­traum. Es könnte sich jedoch auch als Chance erweisen: Eine so radikal unqualifizierte Person wie Pete Hegseth dürfte die gigantische Maschinerie der US-Streitkräfte wohl kaum tatsächlich in den Griff bekommen. Als wirklich beruhigende Rettungs­perspektive kann die Unfähigkeit der Verantwortungs­träger allerdings trotzdem nicht betrachtet werden.

Was die Trump-Präsidentschaft ebenfalls bewirken wird: Sie sendet rund um den Globus das Signal aus, dass der extremen Rechten die Zukunft gehört.

Die Gästeliste der Inaugurations­feierlichkeiten ist in dieser Hinsicht sprechend: Geladen wurde die italienische Premier­ministerin Giorgia Meloni, aber weder Olaf Scholz noch Keir Starmer noch Emmanuel Macron. Dafür wird aus Deutschland der AfD-Co-Vorsitzende Tino Chrupalla, aus Grossbritannien der Rechts­populist Nigel Farage und aus Frankreich Eric Zemmour erwartet – der Mann, der so rechts­radikal ist, dass auch Marine Le Pen jede Zusammen­arbeit mit ihm verweigert. Viktor Orbán und Herbert Kickl wären selbst­verständlich auch eingeladen, lassen sich aber aufgrund anderer Dringlichkeiten entschuldigen.

Aus Südamerika darf natürlich der grosse Musk-Komplize Javier Milei nicht fehlen. Leider nicht teilnehmen kann Jair Bolsonaro, der zwei Jahre nach dem 6. Januar 2021 nach seiner Abwahl in Brasilien ebenfalls einen Putsch­versuch unternahm, im Gegensatz zu Trump dafür aber straf­rechtlich verfolgt wird und deshalb von den brasilianischen Behörden aufgrund der Flucht­gefahr keine Ausreise­bewilligung bekommen hat. Das Leben kann sehr ungerecht sein.Die Inaugurations­feierlichkeiten erscheinen wie ein grosser nächster Schritt zur Konsolidierung jener «reaktionären Internationalen», die die argentinischen Politologen Bernabé Malacalza und Juan Gabriel Tokatlian schon 2023 aus Anlass der Macht­ergreifung von Javier Milei auf den Begriff gebracht haben. Das Who’s who der teilweise extremen globalen Rechten gibt sich ein Stell­dichein, liberale Regierungs­vertreterinnen werden ausgeschlossen. Washington wird zur Kapitale dieser neuen politischen Gemeinschaft.

Wir wissen nicht, wie stark die US-Demokratie beschädigt werden wird, aber eines scheint gesichert: Die fundamentalen politischen Verschiebungen, die nun drohen, werden sich nicht auf die USA beschränken.


Sonntag, 19. Januar 2025

Wild at Heart

Slavoj Žižek über David Lynch: Er ist tot, aber seine Ethik ist lebendiger denn je

Berliner Zeitung 18.01.2025 

Es gibt etwas, das noch schlimmer ist, als vom realen sexuellen Akt verschluckt zu werden, nämlich das genaue Gegenteil, die Konfrontation mit der Projektionsfläche, die der Handlung beraubt ist. Genau das geschieht in einer der schmerzhaftesten und beunruhigendsten Szenen aus David Lynchs „Wild at Heart“. In einem einsamen Motelzimmer übt Willem Dafoe schärfsten Druck auf Laura Dern aus: Er berührt und drückt sie, dringt in den Raum ihrer Intimität ein und sagt mehrmals auf bedrohliche Weise „Say fuck me!“. Er erpresst also ein Wort von ihr, das ihre Zustimmung zu einem sexuellen Akt signalisieren würde. Die hässliche, unangenehme Szene zieht sich in die Länge, und als die erschöpfte Laura Dern schließlich ein kaum hörbares „Fick mich!“ ausstößt, tritt Dafoe abrupt zurück, setzt ein nettes, freundliches Lächeln auf und erwidert fröhlich: „Nein, danke, ich habe heute keine Zeit, aber bei anderer Gelegenheit sehr gerne.“

Das Unbehagen dieser Szene liegt darin, dass der Schock über Bobby Perus (Dafoe) Ablehnung des zuerst von Lula Fortune (Dern) erpressten Angebots den letzten Stich versetzt: Seine unerwartete Ablehnung ist sein ultimativer Triumph und demütigt sie in gewisser Weise mehr als ihre direkte Vergewaltigung. Er hat erreicht, was er wirklich wollte: nicht den Akt selbst, sondern nur ihre Zustimmung dazu, ihre symbolische Erniedrigung. Wir haben es hier mit einer Vergewaltigung in der Fantasie zu tun, die sich ihrer Verwirklichung in der Realität verweigert und so ihr Opfer weiter demütigt - die Fantasie wird hervorgezwungen, erregt und dann aufgegeben. Das heißt, es ist klar, dass Lula Fortune sich nicht nur vor Bobby Perus brutalem Eindringen in ihre Intimsphäre ekelt: Unmittelbar vor ihrem „Fuck me!“ geht die Kamera auf ihre rechte Hand, die sie langsam ausstreckt - das Zeichen ihres Einverständnisses, der Beweis, dass er ihre Fantasie angeregt hat.

Es geht also darum, diese Szene in einer Lévi-Strauss'schen Weise zu lesen, als Umkehrung einer klassischen Szene der Verführung (in der auf die sanfte Annäherung der brutale sexuelle Akt folgt, nachdem die Frau, Ziel der Bemühungen des Verführers, schließlich „Ja!“ gesagt hat). Oder anders ausgedrückt: Bobby Perus freundliche Verneinung von Lulas erpresstem „Ja!“ verdankt ihre traumatische Wirkung der Tatsache, dass sie die paradoxe Struktur der leeren Geste als konstitutiv für die symbolische Ordnung öffentlich macht: Nachdem er ihr brutal die Zustimmung zum sexuellen Akt abgerungen hat, behandelt Peru dieses „Ja!“ als eine leere Geste, die höflich zurückgewiesen werden muss, und konfrontiert sie so brutal mit ihrer eigenen zugrunde liegenden phantasmatischen Investition darin.

Wie kann eine so hässliche, geradezu abstoßende Figur wie Bobby Peru die Fantasie von Lula Fortune anregen? Wir berühren hier das Motiv des Hässlichen: Bobby Peru ist insofern abstoßend, als er den Traum von der unkastrierten phallischen Vitalität in seiner ganzen Kraft verkörpert – sein ganzer Körper erinnert an einen gigantischen Phallus, sein Kopf an eine Eichel. Selbst seine letzten Momente zeugen von einer rohen Energie, die den drohenden Tod ignoriert: Nachdem ein Banküberfall schief gegangen ist, bläst er sich nicht verzweifelt, sondern fröhlich lächelnd den Kopf weg. Bobby Peru reiht sich damit ein in die Reihe der überlebensgroßen Figuren des sich selbst genießenden Bösen, deren bekanntester (wenn auch weniger faszinierender und formelhafterer) Vertreter in Lynchs Werk natürlich Frank (Dennis Hopper) in „Blue Velvet“ ist.

Man ist versucht, hier sogar noch einen Schritt weiter zu gehen und die Figur des Bobby Peru als letzte Verkörperung der überlebensgroßen Figur zu begreifen, auf die alle Filme von Orson Welles ausgerichtet sind: „Bobby Peru ist körperlich monströs, aber ist er auch moralisch monströs? Die Antwort lautet ja und nein. Ja, weil er sich eines Verbrechens schuldig gemacht hat, um sich zu verteidigen; nein, weil er von einem höheren moralischen Standpunkt aus gesehen, zumindest in gewisser Hinsicht, über dem ehrlichen und gerechten Sailor steht, dem es immer an jenem Sinn für das Leben fehlen wird, den ich Shakespeare-haft nennen möchte. Diese außergewöhnlichen Wesen sollten nicht nach gewöhnlichen Gesetzen beurteilt werden. Sie sind sowohl schwächer als auch stärker als andere. [...] so viel stärker, weil sie direkt mit der wahren Natur der Dinge in Berührung sind, oder vielleicht sollte man sagen, mit Gott.“

In dieser berühmten Beschreibung von André Bazin über Quinlan in Welles' „Im Zeichen des Bösen“ haben wir lediglich die Namen ausgetauscht; die Beschreibung scheint aber perfekt zu passen. Eine andere Möglichkeit, die unheimliche Wirkung dieser Szene aus „Wild at Heart“ zu erklären, besteht darin, sich auf die zugrundeliegende Umkehrung der üblichen Rollenverteilung im heterosexuellen Akt der Verführung zu konzentrieren. Man könnte als Ausgangspunkt die Betonung von Perus/Dafoes allzu großem Mund mit dicken, feuchten Lippen nehmen, der seinen Speichel umher spuckt, auf obszöne Weise verzerrt, mit hässlichen, verdrehten und dunklen Zähnen – erinnert sein Mund nicht an das Bild der Vagina dentata, in dem diese vaginale Öffnung Lula/Dern vulgärerweise mit einem „Fick mich!“ provoziert?

Dieser eindeutige Verweis auf Bobby Perus verzerrtes Gesicht als sprichwörtliches „Fotzengesicht“ weist darauf hin, dass sich hinter der offensichtlichen Szene des aggressiven Mannes, der sich einer Frau aufdrängt, ein anderes phantasmagorisches Szenario abspielt, nämlich das eines jungen, blonden, unschuldigen, heranwachsenden Jungen, der von einer reifen, überreifen, vulgären Frau aggressiv provoziert und dann zurückgewiesen wird; auf dieser Ebene sind die sexuellen Rollen vertauscht, und es ist Willem Dafoe, der hier die Frau darstellt, die den unschuldigen Jungen neckt und provoziert. Das Beunruhigende an der Bobby-Peru-Figur ist wiederum ihre ultimative sexuelle Zweideutigkeit, die zwischen der unkastrierten, rohen, phallischen Kraft und der bedrohlichen Vagina, den beiden Facetten der präsymbolischen Lebenssubstanz, oszilliert. Die Szene ist somit als Umkehrung des romantischen Standardmotivs „Der Tod und die Jungfrau“ zu lesen: Hier haben wir es mit „Das Leben und die Jungfrau“ zu tun.


Diese Szene mit Bobby Peru in „Wild at Heart“ muss zusammen mit einer anderen, nicht weniger schmerzhaften Szene aus Lynchs „Lost Highway“ gelesen werden, in der Mr. Eddy, eine Gangstergroßfigur, die Figur des Pete, den Helden des Films, zu einer Spritztour mit seinem teuren Mercedes mitnimmt, um herauszufinden, was mit dem Auto nicht stimmt; als ein Typ in einer gewöhnlichen Limousine sie unfairerweise überholt, stößt Mr. Eddy ihn mit seinem stärkeren Mercedes von der Straße und erteilt ihm dann eine Lektion: Er bedroht den steifen, ängstlichen Normalo mit seinen beiden Bodyguards und einer Pistole und lässt ihn dann laufen, wobei er ihn wütend anschreit, er solle „die verdammten Regeln lernen“. Es ist wichtig, diese Szene, deren schockierend-komischer Charakter uns leicht täuschen kann, nicht falsch zu lesen: Man sollte die Figur des Mr. Eddy durchaus ernst nehmen, als jemanden, der verzweifelt versucht, ein Minimum an Ordnung aufrechtzuerhalten, dass heißt einige elementare „Scheißregeln“ in diesem ansonsten verrückten Universum durchzusetzen.

In diesem Sinne ist man sogar versucht, die lächerlich-obszöne Figur des Frank in „Blue Velvet“ als obszönen Vollstrecker der Regeln zu rehabilitieren - Figuren wie Mr. Eddy („Lost Highway“), Frank („Blue Velvet“), Bobby Peru („Wild at Heart“) oder auch Baron Harkonnen („Der Wüstenplanet“) sind Symbolfiguren einer exzessiven, überschwänglichen Lebensbejahung und -freude; sie sind irgendwie böse, oder vielmehr „jenseits von Gut und Böse“. Doch Mr. Eddy und Frank sind gleichzeitig die Hüter des sozio-symbolischen Gesetzes. Darin liegt ihr Paradox: Man folgt ihnen nicht als authentischer väterlicher Autorität; sie wirken eher körperlich hyperaktiv, hektisch, übertrieben und als solches bereits von Natur aus lächerlich. In David Lynchs Filmen wird das Gesetz durch den lächerlichen, hyperaktiven Lebensgenießer durchgesetzt.

Schon der Anfang von Lynchs „Eine wahre Geschichte – The Straight Story“ und die Worte, mit denen der Vorspann eingeleitet wird („Walt Disney Presents - A David Lynch Film“) liefern das vielleicht beste Resümee des ethischen Paradoxons, das das Ende des 20. Jahrhunderts kennzeichnete: die Überschneidung von Transgression und Norm. Walt Disney, die Marke der konservativen Familienwerte, nimmt David Lynch unter seinen Schirm, den Autor, der die Überschreitung verkörpert und die obszöne Unterwelt von perversem Sex und Gewalt ans Licht bringt, die unter der respektablen Oberfläche unseres Lebens lauert.

Heute muss der kulturwirtschaftliche Apparat selbst, um sich unter den Wettbewerbsbedingungen des Marktes zu reproduzieren, immer mehr schockierende Effekte und Produkte nicht nur dulden, sondern direkt hervorrufen. Es genügt, an die jüngsten Tendenzen in der bildenden Kunst zu erinnern: Vorbei sind die Zeiten, in denen uns einfache Statuen oder eingerahmte Gemälde präsentiert wurden. Was wir jetzt zu sehen bekommen, sind Ausstellungen von Rahmen selbst ohne Gemälde, Ausstellungen von toten Kühen und ihren Exkrementen, Videos vom Inneren des menschlichen Körpers (Gastroskopie und Koloskopie), Einbeziehung von Gerüchen in die Ausstellung, usw. Auch hier, wie im Bereich der Sexualität, ist die Perversion nicht mehr subversiv: Die schockierenden Exzesse sind Teil des Systems selbst, das System nährt sich von ihnen, um sich zu reproduzieren.

Wenn Lynchs frühere Filme in diese Falle tappten, was ist dann mit „The Straight Story“, der auf dem wahren Fall von Alvin Straight basiert, einem alten, verkrüppelten Farmer, der mit einem John Deere-Rasenmähertraktor durch Amerika fuhr, um seinen kranken Bruder zu besuchen? Bedeutet diese langsame Geschichte der Beharrlichkeit und der Verzicht auf die Überschreitung automatisch eine Hinwendung zu naiver Unmittelbarkeit und Treue?

Schon der Titel des Films verweist zweifelsohne auf Lynchs damals bereits zurückliegendes Werk: Dies ist die „wahre“ Geschichte im Hinblick auf die „Abweichungen“ in die bedrohlichen Unterwelten von „Eraserhead“ bis hin zu „Lost Highway“. Was aber, wenn der „straighte“ Held aus Lynchs „The Straight Story“ in Wirklichkeit viel subversiver ist als die schrägen Figuren, die seine früheren Filme bevölkern? Was, wenn er in unserer postmodernen Welt, in der das radikale ethische Engagement als lächerlich unzeitgemäß empfunden wird, der wahre Außenseiter ist? Man sollte sich hier an G. K. Chestertons alte, scharfsinnige Bemerkung in seinem „A Defense of Detective Stories“ erinnern: wie uns die Detektivgeschichte „in gewissem Sinne die Tatsache vor Augen hält, dass die Zivilisation selbst die sensationellste aller Aufbrüche und die romantischste aller Rebellionen ist. Wenn der Detektiv in einem Polizeiroman allein und ziemlich furchtlos zwischen Messern einer Diebesküche steht, so dient das gewiss dazu, uns daran zu erinnern, dass er der Agent der sozialen Gerechtigkeit ist, die originale und poetische Figur; während die Einbrecher und Fußabtreter nur behäbige alte kosmische Konservative sind, glücklich in der uralten Ehrbarkeit von Affen und Wölfen. Die Polizeiromantik ist die Romantik des Menschen. Sie erinnert uns daran, dass die Moral die dunkelste und kühnste aller Verschwörungen ist.“

Was also, wenn DAS die ultimative Botschaft von Lynchs Film ist – dass die Ethik „die dunkelste und kühnste aller Verschwörungen“ ist, dass das ethische Subjekt dasjenige ist, das die bestehende Ordnung tatsächlich bedroht, im Gegensatz zu der langen Reihe von Lynchs seltsamen Perversen (Baron Harkonnen in „Der Wüstenplanet“, Frank in „Blue Velvet“, Bobby Peru in „Wild at Heart“), die sie letztlich aufrechterhalten? Vielleicht bestimmt der Gegensatz zwischen Lynchs „heterosexuellen“ Helden und seinen lächerlich-exzessiven Bösewichten die extremen Koordinaten der heutigen spätkapitalistischen ethischen Erfahrung – mit der seltsamen Wendung, dass Bobby Peru auf unheimliche Weise „normal“ und Lynchs „straighte“ Figur auf unheimliche Weise seltsam, ja pervers ist. Wir haben also den unerwarteten Gegensatz zwischen der Seltsamkeit der ethischen Haltung und der monströsen „Normalität“ der unethischen Haltung.

Erinnern wir uns an Brechts Slogan „Was ist der Einbruch in eine Bank gegen die Gründung einer Bank?“ – Darin liegt die Lektion von David Lynchs „The Straight Story“: Was ist die lächerlich-pathetische Perversität von Figuren wie Bobby Peru in „Wild at Heart“ oder Frank in „Blue Velvet“ im Vergleich zu der Entscheidung, die USA in einem Rasenmäher-Traktor zu durchqueren, um einen sterbenden Verwandten zu besuchen? Gemessen an dieser Tat sind Franks und Bobbys Wutausbrüche das ohnmächtige Theater alter und behäbiger Konservativer.

Dienstag, 14. Januar 2025

Besessenheit. Elon Musk

Elon Big Boy

Natascha Strobl: Der Besessene. Elon Musks politischer Feldzug. Elon Musk hat Donald Trump den Weg zurück ins Weiße Haus geebnet, jetzt mischt er sich in Europas Politik ein. Was treibt diesen Mann?

aus: taz 10.1.2025

Elon Musk ist vieles. Unternehmer, Tech-Genie, Promi, Politikberater und der Chef-Troll von Twitter, das er in X umbenannt hat. Doch eine seiner Rollen bleibt bis jetzt unterbelichtet: Er ist zum obersten Führer einer transnationalen faschistischen Bewegung geworden. Wie konnte es so weit kommen?

Rund um die Gründung des Bezahl-Dienstleisters PayPal zur Jahrtausendwende hatte sich eine Gruppe von Männern zusammengefunden, die später als „PayPal-Mafia“ bezeichnet wurde. Ihre Mitglieder gründeten in den Folgejahren zahlreiche weitere bekannte und erfolgreiche Tech-Unternehmen, darunter Youtube, Yelp und LinkedIn. Das Selbstbewusstsein dieses Männerbunds lässt sich gut daran nachvollziehen, dass man völlig unironisch Bilder von sich selbst in vollem Mafia-Aufzug für Branchenblätter fotografieren ließ. Die Tech-Bros wollten der Welt zeigen, dass sie eine so eingeschworene wie brutale Männergemeinschaft waren. Zwar sahen die ventilierten Bilder mehr nach Buben-Fasching und weniger nach „Der Pate“ aus – die Botschaft selbst kam aber wohl an.

Dieses megalomanische wie heroische Selbstverständnis wurde auch auf die Politik übertragen. Besonders drei Mitglieder der PayPal-Mafia haben in den letzten 15 Jahren unverhohlen ihren politischen Anspruch klargemacht: David Sacks, Peter Thiel und Elon Musk. Alle drei sind Immigranten, die die amerikanische Staatsbürgerschaft erwarben, und die jetzt entscheidend die US- wie globale Politik bestimmen.

Thiel und Sacks sind sicherlich die Intellektuellen in diesem Trio. Sie haben bereits 1995 ein Buch namens „The Diversity Myth“ herausgegeben, das, wenig überraschend, belegen soll, wie Weiße durch Programme für mehr Vielfalt benachteiligt werden. An ihren Ansichen hat sich seitdem wenig geändert, besonders Thiels schriftstellerisches Treiben lässt sich gut nachvollziehen. Seine Grundthese lautet, dass Freiheit und Demokratie in einem Konflikt miteinander stehen, der sich nicht mehr auflösen lässt. Thiel entscheidet sich für Freiheit und denkt über Räume fernab der bestehenden demokratischen Ordnung nach.

­Der Mars ist für ihn die bessere Erde

Das sind zum Beispiel schwimmende Städte, die auf dem Ozean gebaut werden und zu denen nur Vermögende Zutritt haben. Diese Inseln sollen ohne Regierung, Demokratie und Rechte funktionieren. Ebenso träumt Thiel davon, das Weltall jenseits der Erde zu besiedeln. Es ist genau dieses Denken, das wir einige Zeit später bei Elon Musk wiederfinden, der es jedoch wesentlich massentauglicher macht. Denn wo David Sacks und inbesondere Peter Thiel zu verkopft sind, um als Rampensäue zu fungieren, fehlt es Musk vielleicht an intellektueller Tiefe – doch er begreift, wie man ein Publikum begeistert und wie man populäre Diskurse nutzt oder schafft.

Musks Radikalisierung hat weit vor seiner Twitter-Übernahme im Herbst 2022 begonnen. Seine Ideologie ist klar von seinen ehemaligen Mitstreitern und deren Grundsatztexten beeinflusst. Mit Twitter/X hat er aber nun endlich das Medium gefunden, das ihm auf seine Art erlaubt, diese Ideologie in die Breite zu streuen. Dabei radikalisieren sich das Medium und sein Besitzer laufend gegenseitig.

Ideologischer Kern ist auch bei Musk die Besiedelung extraterrestrischer Räume, vor allem des Mars. In Musks Vorstellung kommen dabei zwei Komponenten zusammen: Technologie­gläubigkeit und Kulturpessimismus. Er sieht die westlichen Gesellschaften im Niedergang und die Klimakrise als unumkehrbar an und bietet als Ausweg die Umsiedlung auf einen anderen Planeten an. Die Implikationen dieser These sind so fantastisch wie drastisch. Denn ob Ozeanstädte oder Marskolonie: Wer hineinkommt, bestimmen Musk und seine Mafia.

Um das Ausmaß der Musk’schen Science­-Fiction-Ideen zu verstehen, muss man auf sein zweites wichtiges ideologisches Steckenpferd schauen: die Geburtenraten. Vor allem auf Twitter/X repostet Musk immer wieder faschistische Accounts, die allesamt eine Obsession mit Geburtenraten haben. Es geht dabei weniger um globale Geburtenraten als um die Geburtenraten westlicher und vor allem „weißer“ Länder.

Besessen von Geburtenraten

Das ist kein neues Thema im globalen Rechtsextremismus. Terroristen wie die Attentäter von Christchurch oder Buffalo stellten die Geburtenraten als zentrales Motiv ihrer Taten dar. So beginnt das Manifest des Christchurch-Attentäters mit „It’s the birthrates, it’s the birthrates, it’s the birthrates“.

Der erhobene Vorwurf ist ein doppelter. Er richtet sich gegen nichtweiße oder auch nichtbürgerliche Frauen, die zu viele Kinder bekommen. Er richtet sich auch gegen weiße Frauen, die zu wenige Kinder bekommen. Schuld sind also so oder so Frauen. Die weißen Frauen sind von Feminismus und Selbstverwirklichung verblendet und lassen sich nicht oder mit falschen Männern ein. Die, die mit weißen Männern verheiratet sind, bekommen dann auch noch zu wenige Kinder. Drei Kinder pro Frau ist dabei die magische Grenze. Die Grenze für was eigentlich? Nicht für gesellschaftlichen Wohlstand per se, da Gesellschaften sich auch anders, etwa wie seit Jahrtausenden durch Migration, reproduzieren können. Es ist die Grenze für die Reproduktion wünschenswerter, also weißer, gesunder und bürgerlicher Kinder.

In diesem Vorwurf steckt der Sukkus moderner neofaschistischer Ideologie: Dekadenz, Misogynie, Antifeminismus, Rassismus und Verschwörung. Die Obsession mit Geburtenraten ist auch die Kernthese des Verschwörungsmythos des sogenannten Großen Austauschs, der von der Identitären Bewegung popularisiert wurde. Nun braucht es die Identitäre Bewegung gar nicht mehr: Der reichste Mann der Welt ist der oberste Verfechter dieser These.

Denkt man diese beiden Radikalisierungsstränge des Elon Musk nun zusammen, offenbart sich ein faschistisches Projekt, das so megalomanisch wie abstrus anmutet. Nehmen wir Musk einmal beim Wort. Er möchte den Mars besiedeln, weil er nicht glaubt, dass das Leben auf der Erde eine Zukunft hat. Er steckt viel Energie und Aufmerksamkeit in den technologischen Teil dieses Projekts. Nehmen wir nun an, dass es ihm in absehbarer Zukunft gelingt.

Die Besiedelung des Mars wäre dann in erster Linie keine Frage von Technologie, sondern von Demokratie. Wie viele Menschen können in Musks Utopie auf dem Mars leben? Hundertausend? Eine Million? Eine Milliarde? Wer wählt aus, wer den brennenden und zum Untergang verurteilten Planeten Erde verlassen darf und wer nicht? Oder, anders gesagt: Nach welchen Kriterien wird ein Mann, der sich obsessiv mit den Geburtenraten weißer, westlicher, bürgerlicher, Frauen auseinandersetzt, wählen? Wird eine Frau jenseits des gebärfähigen Alters Teil dieser Besiedelung sein? Werden es arme Menschen sein? Nichtweiße? Menschen mit chronischen Krankheiten sein?

Sein Weltbild ist ein faschistisches

Selbstverständlich ist dieses Projekt eine Science-Fiction-Utopie. Selbstverständlich werden wir alle uns höchstwahrscheinlich keine Gedanken über unser Ticket zum Mars machen müssen. Elon Musk tut dies allerdings. Das dahinter liegende Weltbild ist ein faschistisches. Selbst wenn er nicht dazu kommen wird, dieses auf dem Mars anzuwenden, so liegt dieselbe Weltsicht hinter Musks ganz irdischen Projekten.

Elon Musks Twitter-Übernahme hat ihm eine Plattform gegeben, die noch größer ist als Donald Trumps selbstgestrickte Plattform Truth Social. Musk hat Twitter/X zum Propagandawerkzeug für Trumps Wiederwahl gemacht. Das zeigte sich durch das Entsperren zahlreicher neofaschistischer Accounts, die nicht mehr vorhandene Moderation der Inhalte und die zahllosen Troll- und Bot-Armeen, die die Plattform schwemmen.

Twitter hat Musk aber auch erlaubt, sich an die Spitze zu setzen. Trump sitzt an der Spitze der republikanischen Partei und bald wieder eines mächtigen Staates. Musk hat etwas viel Wertvolleres erreicht: Er ist der Führer der Bewegung hinter den Trump’schen Wahlerfolgen. Längst ist nicht mehr Trump die zentrale Figur, sondern Musk selbst. Das wird in der Zukunft noch zu gröberen Streitigkeiten führen, die der viel ältere Donald Trump wohl nicht für sich gewinnen wird.

Elon Musks Interesse geht aber längst über die USA hinaus: Er versucht, auch in Europa Wahlen zu beeinflussen. Es mutet ironisch an, dass genau das immer der rechte Vorwurf gegenüber progressiven Stimmen war. Aber wie immer im Neofaschismus gilt auch hier: Jeder Vorwurf ein Bekenntnis. In Großbritannien und Italien wuselt Musk längst herum. Auch zu Österreich hat er sich geäußert, sein Wunsch nach einer FPÖ-Regierung geht nun in Erfüllung. Und jetzt ist Deutschland dran.

Der Umgang mit Elon Musk in der politmedialen Öffentlichkeit strotzt vor Hilflosigkeit und jubilierender Unterwürfigkeit. Dabei müsste er längst als das behandelt werden, was er ist: Der ganz irdische Botschafter einer transnationalen, faschistischen Bewegung im Kampf gegen die Demokratie. 

Freie Rede

Meinungsfreiheit im Internet

Annekathrin Kohout: Meta ohne Faktencheck

Das Märchen von der „free expression“. Uneingeschränkte Meinungsfreiheit kann es auf sozialen Medien gar nicht geben. Wir müssen diese deshalb jedoch nicht meiden, sondern klüger nutzen.

Aus: taz 13.1.2025

Es war einmal eine Plattform, die versprach, ein Ort uneingeschränkter Redefreiheit zu sein. So erzählte es Meta-Chef Mark Zuckerberg letzte Woche in einer unheilvollen „Neujahrsansprache“, wie ein Instagram-Kommentator dessen Video treffend klassifizierte. Doch hinter den friedlichen Regenbogen-Flaggen verbarg sich ein „zensierendes“ System aus Algorithmen, das entschied, welche Worte überhaupt sichtbar wurden. Nun aber, so verkündete Zuckerberg, müsse die „free expression“ wiederhergestellt werden!

Auch die Meta-Plattformen sollen künftig X-gleich zu einer Bastion der freien Rede werden. Ob Zuckerberg hier selbstkritisch sprach oder mit vorgehaltener Pistole – darüber lässt sich spekulieren. Doch eines ist klar: Er bedient damit geschickt ein Narrativ, das anhaltend Konjunktur hat: das der unterdrückten Meinungen, die dringend befreit werden müssen.

Der derzeitige Schirmherr dieses Narrativs ist Elon Musk, der X bereits zum selbsternannten Leuchtturm der Meinungsfreiheit umgebaut hat. Auch wenn viele die Plattform daher mittlerweile verlassen haben, floriert X dennoch weiter. Die User sehen sich nämlich durch Musks Rhetorik in ihrem diffusen Gefühl bestätigt, ihre wahren Gedanken sonst nicht mehr äußern zu dürfen.

Dieses Gefühl ist in den sozialen Medien allerdings unvermeidlich. Dafür gibt es viele Gründe. Einer davon: Soziale Medien verstärken soziale Sanktionen – von offener Kritik und Ausgrenzung über Shaming bis hin zu Mobbing. Sichtbarkeit und Reichweite spielen hier eine entscheidende Rolle.

Äußerungen und Handlungen sind einer breiten Öffentlichkeit zugänglich und werden nicht nur von kleinen Gruppen, sondern potenziell von einer globalen Community bewertet. Das erhöht den Druck auf Einzelpersonen erheblich. Ein misslungener oder unbedachter Post kann innerhalb von Stunden massive öffentliche Kritik nach sich ziehen – das, was heute vorschnell als „Cancel Culture“ bezeichnet wird. Manchmal mit positiven, manchmal mit negativen Konsequenzen.

Orchestrierte Bestrafung

Besonders gravierend ist der sogenannte „Pile-on-“ oder Schneeballeffekt: Wird jemand oder etwas öffentlich kritisiert, schließen sich oft viele User der Bestrafung an. Schnell entsteht der Eindruck eines breiten Konsenses – auch wenn dieser objektiv betrachtet gar nicht existiert. In dieser Dynamik fühlt sich paradoxerweise jede Position als bedrohte Minderheit. Dabei ist die vermeintliche Mehrheitsmeinung oft nur ein gut orchestriertes Ensemble Weniger.

Die Mär von der „free expression“ ist also eine schöne Geschichte, aber sie bleibt auch unter Musk und einem Meta ohne Faktencheck und mit weniger Content-Moderation, was sie immer schon war: ein Märchen. Die Vorstellung, dass Plattformen uneingeschränkte Meinungsfreiheit ermöglichen, verkennt ihre Architektur: Algorithmen, Monetarisierung und Marktlogiken schaffen Bedingungen, unter denen jede Rede zur Ware wird: verpackt, kuratiert, verkauft – aber nicht frei. Sie verkennt aber auch, dass soziales Verhalten in einem Umfeld, das Feedback und Reaktionen nicht nur ermöglicht, sondern permanent forciert, nicht reguliert werden kann.

Die eigentliche Frage lautet also nicht, ob es freie Rede im Netz geben kann. Die Frage ist, wer uns diese Märchen erzählt – und warum ausgerechnet jetzt. Während Zuckerberg und Musk von digitaler Befreiung reden, verwandeln sie im Hintergrund weiterhin jede Äußerung in verwertbare Daten. Je wilder die Debatten toben, desto höher die Engagement-Raten. Je polarisierter die User, desto präziser die Algorithmen. Die „free expression“ ist ein trojanisches Pferd – das wir begeistert begrüßen.

Dieser Widerspruch lässt sich wohl nicht auflösen – aber wir sollten ihn im Hinterkopf behalten. Die Mechanismen sozialer Medien zu durchschauen muss nicht bedeuten, sie zu meiden. Es bedeutet, sie klüger zu nutzen. Denn die echte digitale Freiheit liegt darin, nicht alles zu sagen, was man sagen könnte.


Freitag, 10. Januar 2025

Sinkflug des Konservativismus

Konservativismus und Rechtspopulismus

Koalition mit der FPÖ: "Das könnte die ÖVP in eine existenzielle Krise führen"

Als möglicher Juniorpartner der FPÖ muss sich die ÖVP von der Idee verabschieden, sie könne die Rechtspopulisten entzaubern. Im Gegenteil geht die ÖVP große Risken ein, 

Thomas Biebricher im Interview. KURIER, 10.1.2025

Thomas Biebricher ist Heisenberg-Professor für Politische Theorie, Ideengeschichte und Theorien der Ökonomie an der Goethe-Universität Frankfurt am Main. Er beschäftigt sich seit Jahren mit der Krise des gemäßigten Konservatismus in Deutschland und Europa. 


Der Krise, oft gar der Sinkflug, der gemäßigten Konservativen in Europa gilt seit Jahren Thomas Biebrichers Forschungsblick. Geht die ÖVP nun tatsächlich eine Koalition mit der FPÖ ein, sieht der deutsche Politologe, der an der Goethe-Universität in Frankfurt lehrt, "große Gefahren" für die österreichischen Konservativen" - bis hin zu einer Zerreißprobe für die ÖVP

KURIER: Sie sagen, eine Koalition mit der FPÖ könnte die ÖVP mittelfristig in eine existenzielle Krise führen. Was bringt Sie zu dieser Vermutung?

Thomas Biebricher:  Die Erfahrung zeigt, dass es für konservative Parteien selten gut ausgeht, wenn sie sich mit rechts-autoritären Kräften einlassen. Und das sogar, wenn die Konservativen die Seniorpartner waren. Man denke beispielsweise an die Niederlande oder an Italien. In fast allen Fällen kommen konservative Parteien schlechter raus als solchen Koalitionen als sie reingehen. Dies gilt umso mehr, wenn man wie im Fall der ÖVP als Juniorpartner so eine Partnerschaft eingeht. 

Warum ist das so riskant?

In solch einer Konstellation kann die ÖVP wenige Wähler und Wählerinnen von der FPÖ dazugewinnen. Ich halte es für unwahrscheinlich, dass sie bei der nächsten Wahl zur ÖVP wechseln. Umgekehrt werden jene zur Mitte orientierten Milieus, denen es um eine seriöse bürgerliche Politik geht, abgeschreckt. Wenn man zudem als Juniorpartner so eine Koalition eingeht, kann man auch kaum das Argument liefern: okay, wir bringen sie zur Raison. Daher denke ich, dass die ÖVP viel in der Mitte verlieren wird.

Koalition mit der FPÖ: "Das könnte die ÖVP in eine existenzielle Krise führen"

Man muss nur nach Frankreich schauen: Das mahnende Beispiel der Republikaner, die sich im Umgang mit dem Rassemblement National schon mehr oder weniger selber zerlegt haben. Ein ähnliches Schicksal könnte der ÖVP drohen. Ein Teil der ÖVP wird sich der FPÖ noch weiter sehr stark annähern. Aber ein anderer Teil der ÖVP – wenn auch vielleicht nicht der aktuell tonangebende – wird hier massive Vorbehalte haben. Daraus resultiert die große Gefahr. 

Wird die ÖVP dadurch ihr eigenes Profil verlieren?

Obwohl die ÖVP mit den Grünen in einer Koalition war, ist sie unterschwellig schon relativ lange näher an die FPÖ herangerückt - was die Migrationspolitik oder die Kultur-kämpferischen Themen usw angeht:  Daher sehe ich nicht klar, wie sich die ÖVP von der FPÖ in so einer Koalition abheben will. Im Wahlkampf hatte sie ihr eigenes Profil abgesehen von Sachthemen ein Stückweit darauf aufgebaut, dass sie keine Koalition mit der FPÖ eingeht. Das ging jetzt natürlich verloren. Daher wird es nicht einfach sein, sich ein erkennbares Profil zu erhalten. 

Warum lässt sich dann eine Partei darauf ein, mit einer stärkeren zu koalieren, wenn sie letztendlich schlechter aussteigt als vorher? 

Im Falle von Österreich müsste man auch einfach sagen: Wegen der Ermangelung von Alternativen, denn diese wären wahrscheinlich Neuwahlen gewesen. Da hatte man vermutlich die Befürchtung, dass die FPÖ danach noch stärker dastehen könnte.

Wie Elon Musk den Wahlkampf in Deutschland aufmischt

Aber man hätte sich vielleicht doch ein bisschen mehr bei diesen Koalitionsverhandlungen anstrengen müssen. 

Was halten Sie von der These, dass sich Rechtspopulisten entzaubern lassen, sobald sie mitregieren oder überhaupt regieren? 

Ich sehe dafür keine starken empirischen Belege. Sowohl in Österreich als auch in den Niederlanden, wo Rechtpopulisten in die Regierung eingebunden waren und scheiterten,  sind sie nach einer Weile gestärkt zurückgekommen. Was ist genau damit gemeint, sie zu entzaubern? Das kann vielleicht funktionieren, wenn Rechtsautoritäre allein die Regierung stellen. Aber wenn eine konservative Partei als Seniorpartner agiert, wollen Regierungspartner gut dastehen. Und da wäre es schon ein Kunststück, sich selbst als erfolgreich darzustellen und gleichzeitig den Koalitionspartner dabei zu entzaubern und nachzuweisen, wie regierungsunfähig die Rechtspopulisten sind. 

Die ÖVP hat eine 180 Grad Wende vollzogen. Können Sie sich so etwas in Deutschland auch vorstellen -  Koalitionsgespräche zwischen der CDU und der in Teilen rechtsextremen AfD? 

Nicht nach der jetzt anstehenden Wahl und nicht unter der Führung von Friedrich Merz. Das würde ich im Moment ausschließen. Da müsste der CDU-Chef erst zurücktreten oder wir sprechen von der Wahl 2029. Merz hat keinerlei Interesse an einer Zusammenarbeit mit der AfD. Er blinkt zwar rhetorisch auch immer mal wieder rechts, das halte ich auch durchaus für bedenklich, aber gleichzeitig ist er ein zutiefst bürgerlicher Typ, der auf die AfD-Leute herabschaut. Zudem ist der CDU-Führung klar, dass es die Partei zerreißen würde, wenn sie versucht, eine Art von Zusammenarbeit mit der AfD herbeizuführen.

Das könnte der ÖVP auch passieren, dass es die Partei zerreißt. 

Offensichtlich nimmt man das in Kauf. 

In Deutschland steht die Brandmauer zu den Rechts-Populisten noch -  im Gegensatz zu Österreich und auch zu zu vielen anderen europäischen Staaten. 

Sie steht in Europa fast nirgends mehr, auch nicht auf der Ebene der Europäischen Union.

Bestimmte Parteien am rechten Rand sind einfach sehr stark geworden. Es wurde schwierig, sie zu ignorieren und konsequent auszugrenzen. Das sieht man besonders in Österreich. Die Strategie der Ausgrenzung hat ihren politischen Preis. Parteien, die nur überschaubare Schnittmengen miteinander haben, müssten sich irgendwie zu einer Koalition zusammenraufen – aber das stößt eben an gewisse Grenzen.

Und es führt letztlich in vielen Fällen zur Schlussfolgerung, dass man es tatsächlich einmal mit den anderen, den Rechts-Autoritären versuchen muss  - und hofft dabei, ihnen zumindest den Nimbus des Anti-Establishments und des Radikalen nehmen zu können. Aber das macht diese natürlich auch wiederum in gewisser Weise attraktiver, es gibt ihnen einen großen Legitimierungsschub, sie gelten dann nicht mehr als die politischen Schmuddelkinder. 

Sind wir an dem Punkt, dass christdemokratische Parteien bald nur noch mit mit ganz rechten Parteien zusammenarbeiten können oder müssen, um an die Macht zu kommen? Oft gibt es eine regelrechte Abneigung, mit Grünen oder Sozialdemokraten zusammenzuarbeiten. 

Das ist das Problem. Wir sehen etwas Ähnliches in Deutschland, wo sich die CSU mit Händen und Füßen gegen eine Koalition mit den Grünen wehrt. Dann muss man sehen, wo man überhaupt noch seine Mehrheiten zusammenkriegt. Mit der FDP wird es nach den Wahlen  für die Union nicht reichen, und mit dem Bündnis Wagenknecht ist auch nichts zu machen.

Warum die EU zum Stolperstein für die Koalition werden könnte

Mit den Linken natürlich auch nicht, falls sie überhaupt in den Bundestag reinkommen. Es hängt also alles daran, ob die SPD bereit ist, in eine große Koalition zu gehen. Und wenn nicht – wie soll dann eine Regierung ohne die Afd zusammenkommen? Man muss halt bei allen Differenzen irgendwie koalitionsfähig sein. Ansonsten begibt man sich selbst mutwillig in eine Situation, in der es keine andere Möglichkeit mehr zu geben scheint, als mit rechten, autoritären Kräften zusammenzuarbeiten.

Die meisten rechtspopulistischen Parteien bieten nur Rezepte aus der Vergangenheit:  Früher war alles besser  - keine Migranten, keine Klimaschützer. Also wo sind die vorwärtsgewandten Konzepte? 

Aus dem konservativen Selbstverständnis heraus gibt es einen bewahrenden Impuls. Die Rechtsautoritären haben als Ziel eine Retrotopie, also eine Vergangenheit als Ideal, die wahrscheinlich auch nie wirklich so war. Aber um dahin zu kommen, muss nach ihrem Dafürhalten erst mal nach vorne gerichtet eine massiv disruptive Politik betrieben werden: Man muss erst einmal die Dinge auseinandernehmen, um sie dann möglicherweise wieder neu aufzubauen. Aber dieses Bewahrende, Staatstragende, was mit den Konservativen doch recht stark verbunden ist, das geht ihnen völlig ab.

Dienstag, 7. Januar 2025

Freiheitliche Partei Österreichs oder die Rechte kommt an die Macht

FPÖ regiert 

Michael Hesse: FPÖ an der Macht: Die Wiederkehr des Gleichen. Aus: Frankfurter Rundschau 6.1.2025 Die Beteiligung der FPÖ an der Macht zeigt: Österreich hat nichts aus der Geschichte gelernt. 

Thomas Bernhard hat es schon immer gewusst. Alles, was geschieht, ist eine Wiederholung des Gleichen. Davon war der größte Kritiker von Staat und Gesellschaft in Österreich, der Schriftsteller Thomas Bernhard, wie schon Nietzsche vor ihm überzeugt. Was die Vorgänge in Wien vom Wochenende in ihm ausgelöst hätten, ist angesichts seiner Lust, auf Österreich einzudreschen, unschwer zu erraten. Österreich steuert nicht allein auf ein Regierungsbündnis aus ÖVP und der rechten bis rechtsextremen FPÖ zu, sondern erstmals könnte die FPÖ mit Herbert Kickl auch den Kanzler stellen – einem Mann, der sich allzu gerne als „Volkskanzler“ bezeichnet und in entsprechender Weise agitiert. Auch wenn Österreich bereits Koalitionen zwischen Konservativen und Rechtspopulisten kennt, wird hier ein neues oder besser altbekanntes Muster erreicht. Wenn es überhaupt je eine Brandmauer in Österreich gegeben haben mag, dann hat sie nicht allzu lange gehalten. Eine gefährliche Entwicklung – nicht allein für die Alpenrepublik, sondern für ganz Europa. Ein Grund dafür ist, dass die Mauern nach rechts immer löchriger werden. „Der Versuch zu kooptieren, bestimmte rechte Positionen zu übernehmen oder Koalitionen anzustreben, war für die gemäßigten konservativen Parteien alles andere als ein Erfolgsrezept“, warnte der Politikwissenschaftler Thomas Biebricher (Autor von „Mitte/Rechts“) bereits vor Monaten in einem Interview mit der FR. „Die Normalisierung bestimmter Positionen, indem man sie selbst übernimmt, und die Zusammenarbeit mit rechten Parteien, bedeutet immer, dass sich die Hegemonie von der Mitte der Gesellschaft weiter nach rechts verschiebt.“ Biebricher führte Italien und Frankreich als Beispiele an. Österreich könnte das nächste sein. Längst lässt sich die genannte Art der Annäherung auch in Deutschland feststellen. Die plumpe Übernahme von AfD-nahen Positionen in Migrationsfragen durch den CDU-Kanzlerkandidaten Friedrich Merz zeugen nicht nur von Einfallslosigkeit, sie sind überdies gefährlich. „Man wetteifert um Milieus, die sich sowohl in die eine oder andere Richtung orientieren können. Und da hängt es von den Angeboten ab, die von gemäßigten konservativen und christdemokratischen Parteien kommen“, sagt Biebricher. Es gehe um die Frage, ob es konservativen Parteien gelinge, den Rechten etwas entgegenzusetzen, die darauf abzielten, die Verunsicherung in Milieus noch zu verstärken und in Ressentiments umzuwandeln. „Eigentlich hätten sie ihnen aufgrund ihrer grundsätzlichen Positionierung etwas entgegenzusetzen.“ 

 In Europa grassiert eine Welle rechter und rechtspopulistischer Einstellungen und Positionen. Fast drei Jahre nach dem Angriff Russlands auf die Ukraine wirkt der alte Kontinent geschwächt. Zumindest wird dieses Bild den Wählerinnen und Wählern vor allem durch rechte Parteien suggeriert. Die Gründe für die Unzufriedenheit? Die Finanzkrise 2008 war ein wichtiger Faktor. Sie erschütterte das Vertrauen in die liberalen oder auch neoliberalen Eliten. Einer ihrer Effekte: das Anwachsen der sozialen Ungleichheit. Die immer größer werdende Kluft zu den Reichen zerstört nach und nach die Mittelklasse der Gesellschaft. Die Mitte hat erheblich an Kaufkraft eingebüßt, was die Hauptursache für die schwache Konjunktur ist. Politikwissenschaftler Biebricher verweist auch auf einen Gerechtigkeitsaspekt, der 2008 verletzt worden sei: „Der Staat war bereit, Banken zu retten, die ,too big to fail‘ waren, aber den sogenannten kleinen Leuten wollte oder konnte er nicht helfen. Das war ein fataler Eindruck, der da entstand.“ Die Pandemie hat dann erneut als Beschleuniger gewirkt. Die Folge: Der Frust wächst und mehr Menschen wählen rechts. Kenner von Thomas Bernhard werden es wissen: Das Rad der Geschichte lässt nichts anderes wiederkehren als das allzu Bekannte. Eine rechte Welle erfasste Europa Anfang der 1930er Jahre durch die Folgen des Börsencrashs an der Wall Street. Während im Westen Europas Spanien unter dem Franco-Regime, Italien unter Mussolini und das Deutsche Reich unter Hitler weit nach rechts rückten, war der Rechtsruck dann auch in Mittel- und Osteuropa unübersehbar. Die größten faschistischen Bewegungen fanden sich in Rumänien, Ungarn – und in Österreich. 

Der Historiker Ian Kershaw verweist darauf, dass große Teile der nichtsozialistischen Wählerschaft in Österreich schon während der Weltwirtschaftskrise protofaschistisch gewesen seien. Der Bankencrash von 1931 habe die Lebensbedingungen großer Teile der Bevölkerung ruiniert, die anschließende Rezession die Spaltungen vertieft. Das politische Lager radikalisierte sich zusehends. Es entstanden zwei große faschistische Bewegungen, die österreichische Heimwehr und die schnell wachsende NSDAP. Noch 1930 sei die Anhängerschaft doppelt so groß gewesen wie die der österreichischen Nationalsozialisten, diese gewannen jedoch schnell an Boden. 

Die Ernennung Hitlers zum Kanzler 1933 führte in Österreich zu einer folgenschweren Reaktion. Der 39 Jahre alte Kanzler Engelbert Dollfuß beseitigte das parlamentarische System und schuf einen „sozialen, christlichen, deutschen Staat Österreich auf ständischer Grundlage, unter starker autoritärer Führung“. Die bürgerlichen Freiheiten wurden stark eingeschränkt, die Opposition unterdrückt. Einen Aufstand der Sozialisten ließ er blutig niederschlagen. Die Nazis ermordeten Dollfuß 1934. Er hatte ein repressives System geschaffen, konservativ-reaktionärer Natur. Sein Nachfolger Kurt von Schuschnigg setzte den Weg seines Vorgängers fort. Die Eigenständigkeit Österreichs zu bewahren war sein oberstes Ziel. Er scheiterte.