Sonntag, 19. Januar 2025

Wild at Heart

Slavoj Žižek über David Lynch: Er ist tot, aber seine Ethik ist lebendiger denn je

Berliner Zeitung 18.01.2025 

Es gibt etwas, das noch schlimmer ist, als vom realen sexuellen Akt verschluckt zu werden, nämlich das genaue Gegenteil, die Konfrontation mit der Projektionsfläche, die der Handlung beraubt ist. Genau das geschieht in einer der schmerzhaftesten und beunruhigendsten Szenen aus David Lynchs „Wild at Heart“. In einem einsamen Motelzimmer übt Willem Dafoe schärfsten Druck auf Laura Dern aus: Er berührt und drückt sie, dringt in den Raum ihrer Intimität ein und sagt mehrmals auf bedrohliche Weise „Say fuck me!“. Er erpresst also ein Wort von ihr, das ihre Zustimmung zu einem sexuellen Akt signalisieren würde. Die hässliche, unangenehme Szene zieht sich in die Länge, und als die erschöpfte Laura Dern schließlich ein kaum hörbares „Fick mich!“ ausstößt, tritt Dafoe abrupt zurück, setzt ein nettes, freundliches Lächeln auf und erwidert fröhlich: „Nein, danke, ich habe heute keine Zeit, aber bei anderer Gelegenheit sehr gerne.“

Das Unbehagen dieser Szene liegt darin, dass der Schock über Bobby Perus (Dafoe) Ablehnung des zuerst von Lula Fortune (Dern) erpressten Angebots den letzten Stich versetzt: Seine unerwartete Ablehnung ist sein ultimativer Triumph und demütigt sie in gewisser Weise mehr als ihre direkte Vergewaltigung. Er hat erreicht, was er wirklich wollte: nicht den Akt selbst, sondern nur ihre Zustimmung dazu, ihre symbolische Erniedrigung. Wir haben es hier mit einer Vergewaltigung in der Fantasie zu tun, die sich ihrer Verwirklichung in der Realität verweigert und so ihr Opfer weiter demütigt - die Fantasie wird hervorgezwungen, erregt und dann aufgegeben. Das heißt, es ist klar, dass Lula Fortune sich nicht nur vor Bobby Perus brutalem Eindringen in ihre Intimsphäre ekelt: Unmittelbar vor ihrem „Fuck me!“ geht die Kamera auf ihre rechte Hand, die sie langsam ausstreckt - das Zeichen ihres Einverständnisses, der Beweis, dass er ihre Fantasie angeregt hat.

Es geht also darum, diese Szene in einer Lévi-Strauss'schen Weise zu lesen, als Umkehrung einer klassischen Szene der Verführung (in der auf die sanfte Annäherung der brutale sexuelle Akt folgt, nachdem die Frau, Ziel der Bemühungen des Verführers, schließlich „Ja!“ gesagt hat). Oder anders ausgedrückt: Bobby Perus freundliche Verneinung von Lulas erpresstem „Ja!“ verdankt ihre traumatische Wirkung der Tatsache, dass sie die paradoxe Struktur der leeren Geste als konstitutiv für die symbolische Ordnung öffentlich macht: Nachdem er ihr brutal die Zustimmung zum sexuellen Akt abgerungen hat, behandelt Peru dieses „Ja!“ als eine leere Geste, die höflich zurückgewiesen werden muss, und konfrontiert sie so brutal mit ihrer eigenen zugrunde liegenden phantasmatischen Investition darin.

Wie kann eine so hässliche, geradezu abstoßende Figur wie Bobby Peru die Fantasie von Lula Fortune anregen? Wir berühren hier das Motiv des Hässlichen: Bobby Peru ist insofern abstoßend, als er den Traum von der unkastrierten phallischen Vitalität in seiner ganzen Kraft verkörpert – sein ganzer Körper erinnert an einen gigantischen Phallus, sein Kopf an eine Eichel. Selbst seine letzten Momente zeugen von einer rohen Energie, die den drohenden Tod ignoriert: Nachdem ein Banküberfall schief gegangen ist, bläst er sich nicht verzweifelt, sondern fröhlich lächelnd den Kopf weg. Bobby Peru reiht sich damit ein in die Reihe der überlebensgroßen Figuren des sich selbst genießenden Bösen, deren bekanntester (wenn auch weniger faszinierender und formelhafterer) Vertreter in Lynchs Werk natürlich Frank (Dennis Hopper) in „Blue Velvet“ ist.

Man ist versucht, hier sogar noch einen Schritt weiter zu gehen und die Figur des Bobby Peru als letzte Verkörperung der überlebensgroßen Figur zu begreifen, auf die alle Filme von Orson Welles ausgerichtet sind: „Bobby Peru ist körperlich monströs, aber ist er auch moralisch monströs? Die Antwort lautet ja und nein. Ja, weil er sich eines Verbrechens schuldig gemacht hat, um sich zu verteidigen; nein, weil er von einem höheren moralischen Standpunkt aus gesehen, zumindest in gewisser Hinsicht, über dem ehrlichen und gerechten Sailor steht, dem es immer an jenem Sinn für das Leben fehlen wird, den ich Shakespeare-haft nennen möchte. Diese außergewöhnlichen Wesen sollten nicht nach gewöhnlichen Gesetzen beurteilt werden. Sie sind sowohl schwächer als auch stärker als andere. [...] so viel stärker, weil sie direkt mit der wahren Natur der Dinge in Berührung sind, oder vielleicht sollte man sagen, mit Gott.“

In dieser berühmten Beschreibung von André Bazin über Quinlan in Welles' „Im Zeichen des Bösen“ haben wir lediglich die Namen ausgetauscht; die Beschreibung scheint aber perfekt zu passen. Eine andere Möglichkeit, die unheimliche Wirkung dieser Szene aus „Wild at Heart“ zu erklären, besteht darin, sich auf die zugrundeliegende Umkehrung der üblichen Rollenverteilung im heterosexuellen Akt der Verführung zu konzentrieren. Man könnte als Ausgangspunkt die Betonung von Perus/Dafoes allzu großem Mund mit dicken, feuchten Lippen nehmen, der seinen Speichel umher spuckt, auf obszöne Weise verzerrt, mit hässlichen, verdrehten und dunklen Zähnen – erinnert sein Mund nicht an das Bild der Vagina dentata, in dem diese vaginale Öffnung Lula/Dern vulgärerweise mit einem „Fick mich!“ provoziert?

Dieser eindeutige Verweis auf Bobby Perus verzerrtes Gesicht als sprichwörtliches „Fotzengesicht“ weist darauf hin, dass sich hinter der offensichtlichen Szene des aggressiven Mannes, der sich einer Frau aufdrängt, ein anderes phantasmagorisches Szenario abspielt, nämlich das eines jungen, blonden, unschuldigen, heranwachsenden Jungen, der von einer reifen, überreifen, vulgären Frau aggressiv provoziert und dann zurückgewiesen wird; auf dieser Ebene sind die sexuellen Rollen vertauscht, und es ist Willem Dafoe, der hier die Frau darstellt, die den unschuldigen Jungen neckt und provoziert. Das Beunruhigende an der Bobby-Peru-Figur ist wiederum ihre ultimative sexuelle Zweideutigkeit, die zwischen der unkastrierten, rohen, phallischen Kraft und der bedrohlichen Vagina, den beiden Facetten der präsymbolischen Lebenssubstanz, oszilliert. Die Szene ist somit als Umkehrung des romantischen Standardmotivs „Der Tod und die Jungfrau“ zu lesen: Hier haben wir es mit „Das Leben und die Jungfrau“ zu tun.


Diese Szene mit Bobby Peru in „Wild at Heart“ muss zusammen mit einer anderen, nicht weniger schmerzhaften Szene aus Lynchs „Lost Highway“ gelesen werden, in der Mr. Eddy, eine Gangstergroßfigur, die Figur des Pete, den Helden des Films, zu einer Spritztour mit seinem teuren Mercedes mitnimmt, um herauszufinden, was mit dem Auto nicht stimmt; als ein Typ in einer gewöhnlichen Limousine sie unfairerweise überholt, stößt Mr. Eddy ihn mit seinem stärkeren Mercedes von der Straße und erteilt ihm dann eine Lektion: Er bedroht den steifen, ängstlichen Normalo mit seinen beiden Bodyguards und einer Pistole und lässt ihn dann laufen, wobei er ihn wütend anschreit, er solle „die verdammten Regeln lernen“. Es ist wichtig, diese Szene, deren schockierend-komischer Charakter uns leicht täuschen kann, nicht falsch zu lesen: Man sollte die Figur des Mr. Eddy durchaus ernst nehmen, als jemanden, der verzweifelt versucht, ein Minimum an Ordnung aufrechtzuerhalten, dass heißt einige elementare „Scheißregeln“ in diesem ansonsten verrückten Universum durchzusetzen.

In diesem Sinne ist man sogar versucht, die lächerlich-obszöne Figur des Frank in „Blue Velvet“ als obszönen Vollstrecker der Regeln zu rehabilitieren - Figuren wie Mr. Eddy („Lost Highway“), Frank („Blue Velvet“), Bobby Peru („Wild at Heart“) oder auch Baron Harkonnen („Der Wüstenplanet“) sind Symbolfiguren einer exzessiven, überschwänglichen Lebensbejahung und -freude; sie sind irgendwie böse, oder vielmehr „jenseits von Gut und Böse“. Doch Mr. Eddy und Frank sind gleichzeitig die Hüter des sozio-symbolischen Gesetzes. Darin liegt ihr Paradox: Man folgt ihnen nicht als authentischer väterlicher Autorität; sie wirken eher körperlich hyperaktiv, hektisch, übertrieben und als solches bereits von Natur aus lächerlich. In David Lynchs Filmen wird das Gesetz durch den lächerlichen, hyperaktiven Lebensgenießer durchgesetzt.

Schon der Anfang von Lynchs „Eine wahre Geschichte – The Straight Story“ und die Worte, mit denen der Vorspann eingeleitet wird („Walt Disney Presents - A David Lynch Film“) liefern das vielleicht beste Resümee des ethischen Paradoxons, das das Ende des 20. Jahrhunderts kennzeichnete: die Überschneidung von Transgression und Norm. Walt Disney, die Marke der konservativen Familienwerte, nimmt David Lynch unter seinen Schirm, den Autor, der die Überschreitung verkörpert und die obszöne Unterwelt von perversem Sex und Gewalt ans Licht bringt, die unter der respektablen Oberfläche unseres Lebens lauert.

Heute muss der kulturwirtschaftliche Apparat selbst, um sich unter den Wettbewerbsbedingungen des Marktes zu reproduzieren, immer mehr schockierende Effekte und Produkte nicht nur dulden, sondern direkt hervorrufen. Es genügt, an die jüngsten Tendenzen in der bildenden Kunst zu erinnern: Vorbei sind die Zeiten, in denen uns einfache Statuen oder eingerahmte Gemälde präsentiert wurden. Was wir jetzt zu sehen bekommen, sind Ausstellungen von Rahmen selbst ohne Gemälde, Ausstellungen von toten Kühen und ihren Exkrementen, Videos vom Inneren des menschlichen Körpers (Gastroskopie und Koloskopie), Einbeziehung von Gerüchen in die Ausstellung, usw. Auch hier, wie im Bereich der Sexualität, ist die Perversion nicht mehr subversiv: Die schockierenden Exzesse sind Teil des Systems selbst, das System nährt sich von ihnen, um sich zu reproduzieren.

Wenn Lynchs frühere Filme in diese Falle tappten, was ist dann mit „The Straight Story“, der auf dem wahren Fall von Alvin Straight basiert, einem alten, verkrüppelten Farmer, der mit einem John Deere-Rasenmähertraktor durch Amerika fuhr, um seinen kranken Bruder zu besuchen? Bedeutet diese langsame Geschichte der Beharrlichkeit und der Verzicht auf die Überschreitung automatisch eine Hinwendung zu naiver Unmittelbarkeit und Treue?

Schon der Titel des Films verweist zweifelsohne auf Lynchs damals bereits zurückliegendes Werk: Dies ist die „wahre“ Geschichte im Hinblick auf die „Abweichungen“ in die bedrohlichen Unterwelten von „Eraserhead“ bis hin zu „Lost Highway“. Was aber, wenn der „straighte“ Held aus Lynchs „The Straight Story“ in Wirklichkeit viel subversiver ist als die schrägen Figuren, die seine früheren Filme bevölkern? Was, wenn er in unserer postmodernen Welt, in der das radikale ethische Engagement als lächerlich unzeitgemäß empfunden wird, der wahre Außenseiter ist? Man sollte sich hier an G. K. Chestertons alte, scharfsinnige Bemerkung in seinem „A Defense of Detective Stories“ erinnern: wie uns die Detektivgeschichte „in gewissem Sinne die Tatsache vor Augen hält, dass die Zivilisation selbst die sensationellste aller Aufbrüche und die romantischste aller Rebellionen ist. Wenn der Detektiv in einem Polizeiroman allein und ziemlich furchtlos zwischen Messern einer Diebesküche steht, so dient das gewiss dazu, uns daran zu erinnern, dass er der Agent der sozialen Gerechtigkeit ist, die originale und poetische Figur; während die Einbrecher und Fußabtreter nur behäbige alte kosmische Konservative sind, glücklich in der uralten Ehrbarkeit von Affen und Wölfen. Die Polizeiromantik ist die Romantik des Menschen. Sie erinnert uns daran, dass die Moral die dunkelste und kühnste aller Verschwörungen ist.“

Was also, wenn DAS die ultimative Botschaft von Lynchs Film ist – dass die Ethik „die dunkelste und kühnste aller Verschwörungen“ ist, dass das ethische Subjekt dasjenige ist, das die bestehende Ordnung tatsächlich bedroht, im Gegensatz zu der langen Reihe von Lynchs seltsamen Perversen (Baron Harkonnen in „Der Wüstenplanet“, Frank in „Blue Velvet“, Bobby Peru in „Wild at Heart“), die sie letztlich aufrechterhalten? Vielleicht bestimmt der Gegensatz zwischen Lynchs „heterosexuellen“ Helden und seinen lächerlich-exzessiven Bösewichten die extremen Koordinaten der heutigen spätkapitalistischen ethischen Erfahrung – mit der seltsamen Wendung, dass Bobby Peru auf unheimliche Weise „normal“ und Lynchs „straighte“ Figur auf unheimliche Weise seltsam, ja pervers ist. Wir haben also den unerwarteten Gegensatz zwischen der Seltsamkeit der ethischen Haltung und der monströsen „Normalität“ der unethischen Haltung.

Erinnern wir uns an Brechts Slogan „Was ist der Einbruch in eine Bank gegen die Gründung einer Bank?“ – Darin liegt die Lektion von David Lynchs „The Straight Story“: Was ist die lächerlich-pathetische Perversität von Figuren wie Bobby Peru in „Wild at Heart“ oder Frank in „Blue Velvet“ im Vergleich zu der Entscheidung, die USA in einem Rasenmäher-Traktor zu durchqueren, um einen sterbenden Verwandten zu besuchen? Gemessen an dieser Tat sind Franks und Bobbys Wutausbrüche das ohnmächtige Theater alter und behäbiger Konservativer.

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