Ethel Masala de Mazza und Joseph Vogl
Im Schattenwurf der Demokratie
Wer ist das Volk – und wer entscheidet? Über die Leerformel „Populismus“ und ihren Gebrauch
Die Tatsache, dass man viel oder leidenschaftlich über Dinge spricht, bedeutet nicht, dass man tatsächlich weiß, worüber man redet. So ist etwa der Begriff des „Populismus“ wie kein anderer zu einer Leerformel geworden. Der Begriff qualifiziert und diskreditiert, wird polemisch oder analytisch gebraucht, bezieht sich auf politische Programme und dumpfe Regungen. Er meint linke oder rechte Populismen oder ein Gemisch aus beiden. Er verweist auf einen Bodensatz aus mäßig artikulierten Meinungen und Abwehrreflexen, die von unten herauf drängen – oder umgekehrt auf all jene Putinismen, Orbánismen, Erdoğanismen oder Trumpismen, in denen Machtkalküle, Herrschaftsgesten, Geschmacklosigkeiten, hochgedrehte Lautstärken, Mobilisierungswillen oder eine neuerdings angesagte politische Häme stecken.
Man hat es also mit einem umher schwärmenden Begriff zu tun, dessen Grenzen unklar oder gar nicht vorhanden sind. Mehr noch: Gerade diese Unschärfen und Verwirrungen scheinen die Bedingungen für seine aktuelle Konjunktur zu sein. Je leerer die Vokabel, desto heftiger kann sie von den politischen Windstößen herum geblasen werden.
Allerdings sind diese Ungenauigkeit und ihr begriffliches Unwesen womöglich ein Symptom dafür, dass sich die politische Geografie verändert hat und ältere Klassifikationssysteme versagen. Vorbei scheinen die Zeiten, in denen autoritäre Regime schlicht totalitär, Basisbewegungen demokratisch, rechte Rechte astrein faschistisch waren oder derjenige, der sich ‚links‘ nennen mochte, sich im Passepartout sozialistischer Programme wiederfinden konnte.
Wahrscheinlich benötigt die Politik des 21. Jahrhunderts neue oder überarbeitete Begriffe für politische Machtgefüge, die vor unseren Augen allmählich Gestalt annehmen. Angesichts dieser unübersichtlichen Lage lassen sich einige Thesen formulieren, die weniger eine Bestimmung des heutigen Populismusbegriffs als eine Annäherung an jene Problembezirke versuchen, die mit seiner Verwendung aufgerufen werden.
So schwierig oder unmöglich es ist, den „Populismus“ zu definieren, so genau kann man beobachten, welche Zuschreibungen oder Selbstzuschreibungen damit verbunden sind – das heißt, mit welchen demonstrativen Gesten man andere oder sich selbst so nennt. Man muss wohl daran erinnern, dass es zunächst die amerikanische Peopl e ’s Party war, die die abwertenden Ausdrücke „pops“, „populites“ und „populists“ positiv für sich besetzte. Damit beanspruchte sie seit dem Ende des 19. Jahrhunderts ein politisches Programm für sich, das die Interessen der Farmer, eine Opposition gegen Großbanken und Konzerne, die Rechte von Schwarzen und Frauen, die Forderung nach bezahlbaren Krediten und verlässlichen Infrastrukturen vertrat.
Umgekehrt hat etwa in Frankreich Marine Le Pen das Abschätzige des Populismus aufgegriffen, umgewendet und in einen Kampfbegriff für angebliche und rumorende „Mehrheiten“ gegen sogenannte „Eliten“ investiert. Mit solidarischer Interessenvertretung hat der Populismus unserer Tage wenig zu tun. Es geht nicht primär um politische Sachgehalte, sondern um dumpfe Feindschaftserklärungen. Die politische Willensbildung erschöpft sich in der Regung des Unwillens. Mit dem Populismus steht insofern die Trennschärfe zwischen der Bejahung politischer Interessen und der Organisation von Ressentiment auf dem Spiel.
Der „Populismus“ ist im Übrigen kein Krisenphänomen, sondern ein Doppelgänger moderner Demokratien. Er ist Begleiter oder Schattenwurf dessen, was man liberale Demokratie oder Repräsentativsystem nennt. Er bezeichnet dabei ein mehrfaches Verwerfungspotential: Einerseits wird in ihm eine prekäre Abgrenzung zwischen Stimmvolk und bloßem Geraune virulent. In ihm hallen ältere Unterscheidungen nach, die etwa in der Antike zwischen dem plethos (der bloßen Menge) und dem politisch gefassten demos (den wahlberechtigten Bürgern) gemacht wurde. In ihm wiederholen sich die jüngeren Differenzen von Volk und Pöbel, in ihm manifestiert sich eine politische Phonetik, die darüber entscheidet, was eine schon artikulierte politische Stimme oder noch unartikuliertes Lautmaterial ist.
Andererseits verweist er auf Repräsentationslogiken, auf die Wege und Verfahren, mit denen man demokratische Teilhabe beansprucht: direkt oder indirekt, episodisch oder dauerhaft, durch Parteien gefiltert oder vom Volk selbst ausgeübt. Der Begriff des „Populismus“ entfaltet seine polemische Energie im Streit um die Art und Legitimität politischer Partizipation.
Das berührt zugleich die Frage, wo und mit welchem Zugriff politische Macht adressiert werden kann. Wenn es stimmt, dass, wie Brecht gesagt hat – alle Gewalt zwar vom Volk ausgeht, aber die Frage bestehen bleibt, wohin sie dann geht, so umfasst der Begriff des „Populismus“ auch dieses Lokalisierungsproblem. Nicht von ungefähr versammeln sich Empörte unter seinem Banner, die mit ausgestrecktem Zeigefinger auf ominöse Mächte im Dunklen, auf die „da oben“ und „da draußen“ deuten – auf Schuldige in den verschworenen Zirkeln von Lobbys oder Lügenkartellen, in Brüssel oder in der Presse.
Auch diese Unterscheidungslinie wird also mit dem Populismusbegriff aufgerufen: ob Macht formell oder informell organisiert ist, ob Regierungsmacht sich in adressierbaren Instanzen und Institutionen oder eher in losen Netzwerken und temporärem Engagement ansammelt. Die Rede vom „Populismus“ schließt ein Problem politischer Formgebung ein.
Das populistische Wortfeld umfasst nicht zuletzt auch einen intimen Zusammenhang von Öffentlichkeit und politischem Affekt. In ihm regt sich ein Register von Aufruhr und politischer Leidenschaft. Unübersehbar steigt der Populismusverdacht mit der Wallungsbereitschaft von Mitbürgern, die Zorn und Wut auf der Straße abladen, um damit zu demonstrieren, sie seien im Recht. Wir brauchen offenbar eine politische Affektenlehre, die etwa überprüfen muss, welche politischen Reserven von Aufruhr und Rebellion heute mit zornigen Statements oder Statements des Zorns beansprucht werden. Mit dem Begriff des „Populismus“ wird also eine Bereitschaft zu einem, wie auch immer begründeten, Unfrieden identifiziert.
Wer die Vokabel „Populismus“ ausspricht, artikuliert also, für sich oder für andere, ein Verhältnis von Politik und Ressentiment, äußert ein demokratisches Teilhabeproblem, laboriert an einem Bestimmungsversuch politischer Macht und macht unausgeschöpfte Ressourcen politischer Passion ausfindig.
Darum bleiben wahrscheinlich nur zwei Alternativen für den weiteren Gebrauch dieses Begriffs bestehen. In der einen versteift man sich auf den Erhalt einer bequemen Leerformel. Mit ihr ist ein Blinkersystem für jene ominöse politische „Mitte“ gemeint, die nie genau weiß, wo sie politisch steht, aber mit hektischen Warnzeichen nach „rechts“ oder „links“ sich saubere Hände oder gutes Gewissen bewahrt. Ob Front National, Syriza oder Podemos – all das gerät für den politischen Mittelstand zum selben populistischen Einerlei.
Demgegenüber sollte man den „Populismus“ wohl für politische Bündnisse reservieren, mit denen Aggressionen und Ressentiments laut, hegemonial und durchsetzungsfähig werden konnten. Diese Bündnisse übergreifen die Parteigrenzen, in ihnen koaliert die vorgebliche ‚Mitte‘ mit dem ‚Rand‘. Unter beflissener Mithilfe christlicher Regierungsparteien geschieht das etwa in der deutschen Flüchtlingspolitik und in der Verschärfung von Asylrechten. In England entlud sich die Klage über desolate Sozialstandards so im Zorn auf einen neuen Feind: den europäischen Arbeitsmigranten.
Weltmacht-Niveau haben solche Allianzen in den USA erreicht, wo sich das Kapitalinteresse des Geldadels mit dem Rassismus jener knappen Minderheit von Wählern verbindet, für welche das Volk nur ‚wir‘, aber nicht mehr die anderen sind. In westlichen Industriegesellschaften ist der Populismus eine markante Größe nur, weil die politische ‚Mitte‘ diffuse Exklusionsprogramme ratifiziert.
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