Wolfgang Streeck
Merkels neue Kleider
Was geschieht, wenn es in Europa um „Europa“ geht? Wer lange genug hinsieht, weiß, dass jedes europäische Land sich unter „Europa“ und dem, was die Deutschen in ihrem Idealismus die „europäische Idee“ nennen, etwas anderes vorstellt, abhängig von seinen nationalen Erfahrungen und Interessen. Was vor einiger Zeit als „Sakralisierung Europas“ bezeichnet wurde, geht in Deutschland einher mit einer routinemäßigen Exkommunikation von Zweiflern an EWU und EU und ihrer Brandmarkung als „Euroskeptiker“ oder gar „Anti-Europäer“. Der hier zu grüßende Geßlerhut ist das Wort „der Kanzlerin“: „Scheitert der Euro, so scheitert Europa“, mit dem die fehlkonstruierte (teil-)europäische Währung gewissermaßen nachsakralisiert wird.
Wer zu salutieren zögert, riskiert den Ausschluss aus dem Verfassungsbogen, weil er „der Rechten Vorschub leistet“, sofern er dieser nicht der Einfachheit halber gleich selbst zugeschlagen wird - und nur im günstigeren Fall der AfD. So sorgen Regierung und Opposition, Verbände und Medien gemeinsam dafür, dass der nationale Europa-Diskurs keine Interessen kennt, schon gar keine deutschen, sondern nur Ideen und eigentlich nur eine Idee, die „europäische“, an die zu glauben auch für jene Mitgliedsländer eine moralische Pflicht ist, denen der Euro im Interesse der deutschen Handelsbilanz das ökonomische Blut aussaugt.Wendemanöver der gelernten Physikerin
Hinter alledem steht ein politisches System von opaker Geschlossenheit, zusammengehalten durch eine Unzahl von Sprech-, Denk- und Frageverboten, verteidigt von „allen demokratischen Kräften“ und zu sich selbst gekommen in einem zehnjährigen Reifungsprozess als „System Merkel“. Sein Herzstück bildet die Herrschaftstechnik der „asymmetrischen Demobilisierung“ und die Transformation des Amtes des Bundeskanzlers in eine Art persönlicher Präsidentschaft. Während asymmetrische Demobilisierung die Wähler anderer Parteien durch Vermeidung einer öffentlichen Auseinandersetzung mit deren Zielen vom Wählen abhalten soll, stützt sich personalisierte Herrschaft auf die Darstellung postideologischer politischer Wendemanöver als persönlicher Bekehrungserlebnisse, die die Bürger unter Anleitung der regierungsamtlichen PR-Maschinerie und mit Hilfe der mehr oder weniger regierungsamtlichen Medien mitfühlend verfolgen und diskutieren dürfen.
Personalisierung füllt die von der pragmatischen Beliebigkeit perspektivloser Politik gerissenen Legitimationslücken, indem sie die aufeinanderfolgenden, machtpolitisch getriebenen Wechsel der Programme und Koalitionen als persönlichen Entwicklungsroman abbildet. Voraussetzung ist eine Öffentlichkeit mit kurzem Gedächtnis, geringen intellektuellen Konsistenzansprüchen und hohem Sentimentalitätspotential, enggeführt durch den institutionellen oder moralischen Ausschluss kritischer Fragen - etwa derart, wie eine seinerzeitige „Atomkanzlerin“ bis einen Tag vor Fukushima den Ausstieg aus dem harterkämpften rot-grünen Atomausstieg betreiben konnte, weil sie sich als „gelernte Physikerin“ davon überzeugt hatte, dass das schon damals in Tschernobyl längst zu besichtigende Restrisiko hinnehmbar sei, aber nur eine Woche nach Fukushima, immer noch als gelernte Physikerin, wegen dieses selben Restrisikos über Nacht zur Kanzlerin der „Energiewende“ wurde.
Erleichtert werden derartige Wendemanöver in Deutschland durch ein parlamentarisches Regelwerk, das es dem Kanzler erspart, wie dem britischen Premierminister viermal in der Woche dem Oppositionsführer gegenüberstehen zu müssen, um sich von ihm ins Kreuzverhör nehmen zu lassen; in Deutschland tritt an die Stelle der Prime Minister’s Question Time die Plauderstunde mit Anne Will. Und am besten gelingen solche Manöver, wenn sie in die Fahrtrichtung der Opposition hinein stattfinden, die dann schon aus vorauseilender Koalitionsdisziplin auf alles verzichtet, was den wieder einmal gedemütigten glaubensfesten Fahnenträgern des Regierungslagers Auftrieb geben könnte.
Wer schloss die Balkanroute?
Jedes Land auf seine Weise, könnte man sagen. Aber die nationalen Eigentümlichkeiten deutscher Politik haben im eng zusammengerückten Europa externe Effekte der denkbar destruktivsten Art. Kernstück der neudeutschen Ideologie ist nämlich ein Selbstverständnis deutscher Politik als europäische, als Politik aus europäischer Identität für europäische Interessen, schon deshalb, weil es deutsche Identität und deutsche Interessen nicht mehr geben kann. Damit aber verbindet sich ein moralischer Anspruch auf die Gefolgschaft aller anderen Europäer, der nur Widerstand hervorrufen kann, noch gesteigert durch die Unberechenbarkeit einer als „One-Woman-Show“ (Roman Herzog und sein „Konvent für Deutschland“) betriebenen deutschen Regierungspolitik, die den Imperativen einer innenpolitischen Macht- und Parteipolitik folgt, die mindestens so exzeptionell ist wie die jedes anderen Landes. So schlagen dann die dem System Merkel eigenen, schon in Deutschland verwirrenden Positionswechsel auf die verbündeten Länder durch, und die faktische Inanspruchnahme europäischer und mitgliedstaatlicher Politik für deutsche Zwecke - die Eingemeindung der nationalen Identitäten und Souveränität anderer europäischer Länder im Zuge der Umetikettierung der deutschen Politik und Identität als europäische - wird zur internationalen Gefahrenquelle.
Ebenso wie an der Euro-Rettung lässt sich auch an der Flüchtlingspolitik die zerstörerische Dynamik des neudeutschen Sonderwegs illustrieren. Das beginnt mit der Befremdlichkeit der deutschen „Willkommenskultur“ nahezu überall außerhalb Deutschlands, die weit über das Normalmaß internationalen Fremdelns hinausgeht. Gesteigert wird sie durch eine von außen als unheimlich wahrgenommene nationale Konsenskultur, die die konformistische Hinnahme auch erstaunlichster Behauptungen kollektiv obligatorisch macht.
So ist in Deutschland zum Beispiel zu glauben oder doch zu bekennen und jedenfalls nur unter Gefahr des Ausschlusses aus der demokratischen Kommunikation öffentlich zu bezweifeln, dass zwischenstaatliche Grenzen sich im 21. Jahrhundert nicht mehr aufrechterhalten lassen; dass dennoch erfolgreiche Grenzsperrungen gegen Menschenrechte verstoßen, wenn sie in Ungarn oder Mazedonien, nicht aber unter deutscher Aufsicht zwischen der Türkei und Griechenland stattfinden; dass zwischen Asylsuchenden, Flüchtlingen und Migranten kein Unterschied zu machen ist; dass es bei Migration nur Push gibt und niemals Pull; dass Flüchtlinge Flüchtlinge sind, auch die entlassenen Dolmetscher der amerikanischen Armee in Afghanistan, die nicht in sein Land zu lassen ihr früherer Arbeitgeber Gründe zu haben scheint; dass die Hilfsbedürftigkeit eines Migranten und die humanitäre Pflicht ihm gegenüber sich danach bemessen, ob er genügend Geld für die Schlepper und Kraft für die Balkan-Route hat und wie weit er auf dieser kommt; dass es bei der Aufnahme von Migranten keine „Obergrenze“ geben darf; dass die gemeinsam mit dem türkischen Möchtegern-Diktator ergriffenen Maßnahmen zur Beendigung des Flüchtlingsstroms hierzu nicht in Widerspruch stehen; und dass dasselbe für die Bemessung der Zahl der zukünftig aus humanitären Gründen aufzunehmenden Syrer anhand der Zahl ihrer am maritimen Anfang der nunmehr freilich abgeriegelten Balkan-Route aufgegriffenen Landsleute gilt; dass die „Schließung der Balkanroute“ im Anschluss an die Kölner Silvesterfeiern durch „Europa“, unter Führung der deutschen Bundeskanzlerin, bewirkt wurde und nicht durch Österreich oder Slowenien, weshalb sie auch in Einklang mit „unseren Werten“ steht, was andernfalls anders wäre.
Keine Obergrenzen
Schließlich ist fest zu glauben, dass die Entscheidung, die deutschen Grenzen zu öffnen, nichts mit einem politischen Bedürfnis nach Imagekorrektur im Gefolge der Zerschlagung des griechischen Gesundheitssystems durch die deutsche Austeritätspolitik zu tun hatte, ebenso wenig wie mit vorgezogenen Koalitionsplanungen für 2017 oder auch mit dem unüberwindbaren Widerstand in Merkels eigenen Reihen gegen ein Einwanderungsgesetz und den absehbaren Folgen dieses Widerstands für die deutsche Arbeitsmarkt- und Rentenpolitik - sondern dass diese Entscheidung allein einem richtlinienbestimmenden moralischen Impuls der Kanzlerin als Person zu danken war und deshalb auch keines Kabinettsbeschlusses, keiner Regierungserklärung, keines Gesetzes und nicht einmal eines schriftlichen Erlasses an die zuständigen Behörden bedurfte.
In den Mitgliedsländern der Europäischen Union muss die Engführung der deutschen politischen Öffentlichkeit umso bedrohlicher erscheinen, als von ihnen verlangt wird, sich ihr widerspruchslos auszuliefern. Zwar neigt jede nationale Verständigungsgemeinschaft dazu, sich ihre Außenwelt als Verlängerung ihrer Innenwelt vorzustellen. Die deutsche Politik verbindet ihre europäische Selbstdefinition aber mit dem Anspruch, dass ihre kleineren Nachbarn ihr bizarres Hin und Her laufend nachvollziehen - etwa wenn Deutschland nach „europäischen Lösungen“ für Probleme sucht, die für alle anderen deutsche sind. So bestand die deutsch-europäische Antwort auf den Migrationsdruck zunächst bekanntlich in der Forderung, Einwanderung „ohne Obergrenze“ zuzulassen und die Eingewanderten in nach oben offenen „Kontingenten“ auf alle Mitgliedstaaten der Union zu verteilen.
Ein halbes Jahr später dagegen enthielt sie die ursprünglich für unmöglich erklärte Absperrung der europäischen Außengrenzen mit Hilfe der Türkei, der im Gegenzug von der deutschen Regierungschefin im Namen „Europas“ die von ihr selbst bis dahin für unerwünscht erklärte Aufnahme in die Union sowie die Abschaffung der Visumpflicht für türkische Bürger durch deren Mitgliedstaaten in Aussicht gestellt wurde. Oberstes Prinzip war das Verbot von „nationalen Alleingängen“, allerdings mit der Ausnahme von Deutschland, das, ähnlich wie seinerzeit bei der „Energiewende“, das Dublin-Regime ohne Konsultation der anderen europäischen Länder außer Kraft gesetzt hatte und nur wegen der „Alleingänge“ anderer Staaten - zunächst moralisch verurteilt, dann „europäisch“ vereinnahmt - das Kunststück fertigbringen konnte, seine Grenzen „ohne Obergrenze“ offen zu halten und zugleich den Zustrom der Einwanderer nach Deutschland zu beenden.
Einheitsparteilicher Konformitätsdruck
Nur den an das System Merkel gewöhnten Deutschen wird dabei nicht schwindlig. Im Ausland freilich entsteht der verheerende Eindruck einer schweigenden Hinnahme beliebiger politischer und intellektueller Zumutungen durch eine bedingungslos folgebereite deutsche Öffentlichkeit, in der das sacrificium intellectus längst Pflicht geworden ist. Zu dem geradezu einheitsparteilichen Konformitätsdruck, der den deutschen Flüchtlingsdiskurs bis vor kurzem zusammenhielt, trug neben dem Regierungsapparat auch das sonst sich so kritisch gebende linke und linksliberale Milieu bei, das sich zur Aufrechterhaltung der nationalen Disziplin routinemäßig der Drohung bedient, Abweichler, die die neuen Kleider „der Kanzlerin“ partout nicht sehen konnten, in die rechte, bräunliche bis braune Ecke zu verweisen.
So eingeschüchtert, wollte dann niemand wissen, was genau gemeint gewesen sein könnte, als Merkel verlauten ließ, die Flüchtlinge würden „unser Land verändern“, und zwar „zum Guten“, gefolgt ein paar Wochen später von der euphorischen Ankündigung ihrer künftigen Vizekanzlerin, durch die Einwanderung werde „unser Land religiöser werden“.
Anderswo wären Umbaupläne dieser Art mindestens eine parlamentarische Fragestunde wert gewesen - in Deutschland blieb das Thema „der Rechten“ überlassen beziehungsweise wurde, wer es für ein Thema hielt, derselben zugerechnet. Dasselbe gilt für Rechtsform und Rechtsgrundlage der Grenzöffnung; für die Folgen der von der Regierung betriebenen Einwanderung „unserer künftigen Mitbürger“ für deren Herkunftsländer; und für das Rätsel, warum die Regierung nicht die Bedürftigsten mit Flugzeugen aus den Lagern holt, für die anderen dort Schulen und Krankenhäuser baut und diejenigen, die die deutsche Wirtschaft als Arbeitskräfte braucht - angeblich 500.000 pro Jahr für 25 Jahre (Prognose vom April 2016) - wie in Kanada nach einem Punktsystem aussucht und einfliegt.
Kitsch und Nicht-Kitsch
Auch nachträglich steht man staunend vor einer öffentlichen Diskussion, der es unmöglich war und noch ist, Humanitätspflichten von Wirtschaftsinteressen und die eigenen Bedürfnisse von denen der Flüchtlinge zu unterscheiden, um damit beiden besser gerecht zu werden, wie von George Soros (!) kürzlich in einem klugen Artikel in der „New York Review of Books“ detailliert vorgeschlagen. Stattdessen erklärt man demokratischen common sense für rechtsradikal und handelt sich damit die Gefahr ein, die rechtsradikalen als privilegierte oder gar einzige Vertreter desselben erscheinen zu lassen.
Auch große Teile der deutschen Qualitätspresse, von den öffentlich-rechtlichen Medien nicht zu reden, haben vergessen, dass es zu den Aufgaben politischer Kommentierung gehört, die von den politischen Maschinen produzierten „Narrative“ auf ihre Lokalisierung in den in ihnen unterliegenden Geflechten kollektiver und partikularer Interessen hin zu untersuchen, anstatt sich als Cheerleader einer karitativen Begeisterungswelle zu betätigen, von der jeder wissen konnte, dass sie nicht lange anhalten würde. Statt kritischer Analyse erleben wir allzu oft eine psychologisierende Hofberichterstattung, vor- und postmodern zugleich, über die Damaskus-Erlebnisse einer Parteiführerin, die zu solchen, anders als der zum Paulus gewordene Saulus, immer wieder von neuem, sobald es die Lage erfordert, fähig zu sein scheint, von Fukushima über Budapest bis Istanbul.
Man wünscht sich, wohl vergebens, einen Shakespeareschen Sinn für Irrsinn oder auch nur die einfache Fähigkeit zur Unterscheidung von Kitsch und Nicht-Kitsch - etwa wenn der grüne Ministerpräsident Baden-Württembergs, Winfried Kretschmann, mitteilt, dass er vor dem Schlafengehen für die Vorsitzende der Partei betet, deren Koalitionspartner er zu werden wünscht; oder wenn die „im Bundestag vertretenen Parteien“ nach dem Debakel der Landtagswahlen vom 13. März gemeinsam verlautbaren, alles sei in bester Ordnung, schließlich hätten achtzig Prozent für „Angela Merkels Flüchtlingspolitik“ gestimmt; oder wenn die Regierungschefin einer Demokratie in monarchischem Ton verlauten lässt, dass das Land, dessen Bürger sie auf Zeit gewählt haben, nicht mehr „mein Land“ sein könne, wenn sie nicht weiterhin „ein freundliches Gesicht zeigen“ dürfe.
Das muss uns Europa wert sein
Angeblich gewöhnt man sich ja an alles. Die letzte Wendung der deutsch-europäischen Flüchtlingspolitik scheint zu sein, dass die Mitgliedstaaten die deutsche Regierungschefin, den Ratspräsidenten im Schlepptau, „europäische“ Verträge mit wem auch immer aushandeln lassen, ohne die Absicht, sich hinterher an diese gebunden zu fühlen. Das ist allemal besser als die fortschreitende Ausbreitung der gewachsenen Feindseligkeit gegen einen als solchen wahrgenommenen deutschen Imperialismus, ökonomisch, moralisch oder beides zugleich. Vielleicht bereitet dies ja die Lockerung der lateralen Kopplung der Mitgliedstaaten an die Flatterhaftigkeit der deutschen Politik vor, indem sie sie vorwegnimmt.
Am Ende stünde dann möglicherweise eine der realen sozialen Verfassung Europas gerecht werdende politische Verfassung, in deren Rahmen die Deutschen nach ihrer Façon selig werden könnten, ohne dass alle anderen dabei mitmachen müssten. Auch hierfür ist es freilich unerlässlich, im Interesse guter Nachbarschaft an einer nachhaltigen Erweiterung des thematischen und argumentativen Spektrums der deutschen politischen Öffentlichkeit zu arbeiten, unter entschiedener Missachtung der von den Hoflieferanten der Milch der frommen Denkungsart verhängten Denkverbote und der zu ihrer Verteidigung eingesetzten Diffamierungen. Das Risiko, das man sich damit einhandelt - von Leuten, die nie aus Deutschland herausgekommen sind, als „Anti-Europäer“ oder gar „Sozialnationalist“ aus der politischen Legitimitätszone ausgebürgert zu werden -, muss uns Europa wert sein.
FAZ 03.05.2016
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