Dienstag, 26. Juli 2016
Terror und/oder Amok
Isolde Charim
Die wiederkehrende Frage dieses Sommers lautet: Amoklauf oder Terroranschlag? Die Frage also: Sind die Horrorszenarien, die diesen Sommer takten, „politische Aktionen“ oder psychische Störungen? Bei einem Amoklauf tötet ein psychisch entgleister Einzelner blindlings und wahllos. Ein politischer Terrorakt hingegen reklamiert für sein Tun, so schrecklich dieses auch sein mag, einen Sinn, ein Ziel und eine Erzählung.
Der sogenannte „Islamische Staat“ streicht dieses „oder“ durch. Er „bietet“ die Möglichkeit, gerade den Amoklauf zu einer „politischen Aktion“ zu machen. Der IS „bietet“ also die Möglichkeit, einzelne Pathologien, private Störungen in sein System einzuordnen.
Wir denken irgendwie immer noch im Prinzip des Heroismus – selbst dort, wo er negative Vorzeichen hat. Also im Prinzip eines exemplarischen Handelns, einer ungewöhnlichen Leistung, die einen Einzelnen zu einem herausragenden Subjekt macht. Dem IS hingegen ist es gelungen, auch das gegenteilige Prinzip zu verwerten: Er ermöglicht Einzelnen, sich über ihre Defekte, über ihr Versagen, über ihre Verhinderungen mit einem größeren Ganzen kurzzuschließen. Der psychische Defekt ersetzt bei diesen Attentaten eigentlich alles: die politische Motivation, die gefestigte Ideologie, die politische Organisation, das technische, das organisatorische, das physische „Können“.
Der IS übersetzt die Verlorenheit, die Entwurzelung, die psychische Labilität des Einzelnen, die sich in einem sinnlosen Tötungsakt entlädt. Er verwandelt die Entladung in eine „Artikulation“ – als ob sich da etwas äußern würde.
Wie macht der IS das? Kommt er hinterher und reklamiert die Taten für sich? Adoptiert er die Täter nachträglich? Sicher auch. Aber die reine Instrumentalisierung alleine greift zu kurz.
Das, was dem vorausgeht, ist eine Anrufung. Anrufung ist, laut Louis Althusser, der Mechanismus der Subjektbildung. In jeder Institution – in den Familien, in Schulen, Kirchen, am Arbeitsplatz, in den Parteien überall werden die Individuen angerufen. Es ergeht also ein Ruf an sie, ein Appell, der ihnen eine Identität verleiht, der sie zu eindeutigen Subjekten macht. Diese Anrufung ist nicht einfach ein Satz. Sie funktioniert vielmehr über eine Vielzahl materieller Anordnungen: Der Ruf erreicht den Einzelnen in und durch kollektive Rituale, Gewohnheiten, Versammlungen. Er ist physisch, ja sogar räumlich verankert. Der Ruf wird also über ein institutionelles Ganzes transportiert.
Vom IS geht nun genau das aus: eine Anrufung. Ein Ruf, der die Einzelnen mit einer Identität versorgt. Der sie in ein größeres Ganzes einbindet, als dessen Stellvertreter sie sich fühlen können, in dessen Namen sie agieren. Er gibt ihnen eine Position („Soldat“), ein Ziel („Kalifat“) und er liefert ihnen eine „Ordnung“ – also eine Unterscheidung zwischen Gut und Böse, zwischen „erlaubt“ und „verboten“. Und die zentrale Bestimmung: Wer sind die Freunde, wer sind die Feinde. Kurzum – der IS liefert den Einzelnen „Bedeutung“ in jeder Hinsicht.
Das Besondere daran ist, dass diese Anrufung scheint’s auch ohne materielle Anordnung funktionieren kann. Er ist das Paradoxon einer archaischen Institution, die auch virtuell funktioniert: eine Long-distance-Anrufung ohne physische Verankerung. Eine entmaterialisierte Anrufung, die nur das Schnittmuster zum Selberbasteln der Identität bereitstellt. Ein Albtraum für jeden Geheimdienst.
Und der IS „ermöglicht“ es pathologisierten Jugendlichen, ihr Verlangen nach Zugehörigkeit durch Morde auszuleben. Damit wird der psychische Defekt zu einer Produktivkraft des IS. Eine Produktivkraft, die reine Destruktion „ermöglicht“. Die psychopolitische Voraussetzung zu solchen Taten scheint nicht eine gefestigte Ideologie zu sein. Sie morden nicht aus Überzeugung wahllos in der Menge. Es sind vielmehr Leute, die sich selbst als überflüssig erleben, denen ihr Leben sinnlos erscheint, die solche überflüssigen, sinnlosen Gewalttaten begehen. So viel Sinnlosigkeit. Und einzig der IS erwirtschaftet einen Mehrwert daraus.
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