Der chinesische Kommunismus
Gerfried Münkler im Gespräch mit Arno Wiedmann
Herr Münkler, bei einer Diskussion in der katholischen Akademie in Berlin haben Sie kürzlich in einer Nebenbemerkung erklärt, wir seien Zeugen eines epochalen Wechsels. In Indien und China entstehe gerade ein Kapitalismus, ohne dass sich eine Arbeiterklasse bilde mit einem spezifischen Arbeitermilieu, wie wir es aus Europa kennen. Wie kommen Sie zu dieser Ansicht?
Wie wir Sozialwissenschaftler eben auf etwas kommen: durch vergleichende Betrachtung. Es geht dabei im Wesentlichen um die Frage: Wann sind Gesellschaften in der Lage, sich nicht nur entlang vertikaler Hierarchien sondern auch horizontal, solidarisch zu organisieren. Die meisten Gesellschaften bestehen aus Gruppen, in denen Kapos und Gangleader um die Herrschaft konkurrieren.
Horizontale Solidaritäten sind nicht die Regel, sondern die Ausnahme?
Für ganz kurze Zeit gab es das einmal im frühen Griechenland bei der Herausbildung der Demokratie. Dann wohl erst wieder im Europa des 18. und 19. Jahrhunderts. Damals begannen sich solche Solidaritäten langfristig herauszubilden. Wohl einmalig in der Weltgeschichte. Das ist der wahre Sonderweg! Ihn zu gehen war nur möglich, weil in Westeuropa Stammes-, Clan- und Familienstrukturen so geschwächt waren, dass sich ganz andere Verbindungen und dann auch politische Kampfbünde herausbilden konnten.
So kam es nicht nur zur Gründung der Arbeiterparteien, sondern auch zu der Herausbildung bürgerlicher Parteien?
Dass die Gesellschaft sich nicht aus Klientelstrukturen zusammensetzt, sondern sich die einzelnen Schichten organisieren und dann in Verhandlungen mit einander treten – das ist der Grundgedanke unserer Demokratie. Emmanuel Sieyès forderte 1789 die Umformung der Ständeversammlung in eine allgemeine Nationalversammlung. Die Schrift, in der er das tat, trug den Titel „Was ist der Dritte Stand?“. Ein Manifest horizontaler Solidarität. Die ist umständlicher als die vertikale Verbindung, die schnell zu Ergebnissen führen kann. Horizontale Verbindungen sind dagegen auf die Zukunft angewiesen. Darum ist Zukunft bei ihnen auch ein so großes Thema. Die Idee des Fortschritts von Condorcet bis zum Genossen Trend ist gewissermaßen der natürliche Begleiter horizontaler Solidarisierung, die davon ausgehen muss, dass die Träume ihrer Mitglieder womöglich erst Generationen später erfüllt werden.
Diese horizontalen Bündnisse schufen Milieus, in denen nicht nur die Bürger ihren Stolz auf die Bürgerlichkeit pflegten, sondern in denen es auch einen Arbeiterstolz gab, der von den anderen einforderte, ebenfalls ordentliche Arbeiter zu sein.
Das Milieu betrieb auch soziale Kontrolle. Die Arbeiter hatten in der Arbeit erfahren, dass sie sich aufeinander verlassen mussten. Ohne Not auf Kosten anderer zu leben, war geächtet. Der Anspruch auf Solidarität wurde durch die Solidarischen selbst kontrolliert. Es handelte sich eben nicht nur um Einkommensschichten, sondern auch um sozial-moralische Milieus. Man achtete auf den Nachbarn und der achtete auf einen.
Die sozial-moralischen Milieus haben sich aufgelöst.
Darum muss heute der Staat tun, was früher das Milieu, die Nachbarn, taten. Heute heißt es: „Du hast mir nichts zu sagen!“ Das gehört zu jenem Prozess, der modernisierungstheoretisch als Individualisierung beschrieben wird. Zu ihm gehört auch, dass der Staat eine immer wichtigere Rolle spielt. Nicht nur als Verteiler von Sozialleistungen, sondern auch als Kontrolleur und Überwacher. In einem vertikalen System kämpfen die Gangs – zum Beispiel die Medici und die Pazzi im Florenz des 15. Jahrhunderts – um den Staat, er ist ihr Widersacher oder ihre Beute. Horizontale Solidaritätssysteme dagegen laufen de facto auf Formen langfristiger Koexistenz hinaus. Im „Kommunistischen Manifest“ erklärte Marx, die moderne Staatsgewalt sei nur „ein Ausschuss, der die gemeinschaftlichen Geschäfte der ganzen Bourgeoisklasse verwaltet“. Er konstatiert also die horizontale Solidarität der Bourgeoisie. Inzwischen, haben wir, auch dank der Anstrengungen der Arbeiterbewegung, nicht etwa die Diktatur des Proletariats, sondern einen Staat, der versuchen muss, unser aller gemeinschaftlichen Geschäfte zu verwalten. Weil seine Exekutive auf Wiederwahl angewiesen ist.
Global ist das heute nicht gerade angesagt.
Wir sprachen bisher nur über China und Indien. Blickt man in die islamische Welt oder gar nach Afrika, werden die Aussichten noch trüber. Dort gelten Clanstrukturen und nicht das „weil auch Du ein Arbeiter bist“ aus Brechts und Eislers „Einheitsfrontlied“. Die Industrialisierung des Ruhrgebiets war eine Leistung auch Hunderttausender polnischer Arbeiter. Das Milieu nahm die damals auf. Nicht immer ohne Konflikte, aber das „weil Du auch ein Arbeiter bist“ war stärker als der Nationalismus. Das ist ein Ausnahmefall, vor dem man heute staunend steht.
Es ist vorbei?
Mit der weitgehenden De-Industrialisierung – bei uns deutlich weniger als zum Beispiel in Großbritannien – und dem durch die fortschreitende Diversifizierung der Arbeitsprozesse verschwindenden Massenarbeiter, lässt sich das so nicht mehr sagen und schon gar nicht praktizieren. Die Gewerkschaften haben heute in immer mehr Zweigen immer größere Mühe damit, den Leuten zu erklären, warum sie gemeinsamen Kooperationsentzug – wenn ich Streik mal so definieren darf – betreiben sollen.
Bei uns herrscht De-Industrialisierung und das Arbeitermilieu verschwindet. In China und Indien werden gerade aus Hunderten Millionen Bauern Städter. Es gibt zwar jede Menge Streiks, Aufstände auch, aber eine Arbeiterbewegung ist nicht in Sicht. Wir haben Marx-Jahr. Irrte er?
Er wurde am 5. Mai 1818 in Trier geboren. Zu erwarten, dass er uns aufklären könnte über das, was zweihundert Jahre später in China passiert, scheint mir etwas vermessen. Er betrachtete die Arbeiter Westeuropas und kam zu dem Schluss, dass da kein modernes Plebejertum entstand, das wechselnden Volkstribunen nachrennt, sondern dass sich bei ihnen ein gemeinsames Bewusstsein von gemeinsamen Interessen herausbildete, aus dem auch politische Handlungsfähigkeit erwuchs. Das nannte er die Arbeiterklasse. Daraus eine globale Gesetzlichkeit entwickeln konnte man nur, wenn man die spezifischen westeuropäischen soziokulturellen Voraussetzungen ihrer Entstehung übersah. Marx selbst tat das nicht.
Welche spezifischen Besonderheiten?
China hat sich innerhalb weniger Jahre in einem Prozess industrialisiert, für den Europa mehr als zwei Jahrhunderte brauchte. Es gab keine Zeit für die Herausbildung horizontaler Solidarisierung. Weder auf der Seite der Arbeit noch auf der des Kapitals. Die Industrialisierung war auch in Europa oft und immer wieder eine Sache des Staates. Aber das, was sich derzeit in China abspielt, gab es in der Weltgeschichte noch nicht. Kein Wunder, das überall auf dieses Entwicklungsmodell geschaut wird.
Noch eine europäische Besonderheit?
August Bebel war gelernter Drechsler, Friedrich Ebert Sattler. Die frühe europäische Arbeiterbewegung ist aus Handwerkerbünden hervorgegangen. Das half bei der Entwicklung horizontaler Solidarität. Diese Zwischenstadien fehlen in Indien und China. Es ist nicht davon auszugehen, dass Vergleichbares sich derzeit dort herausbildet. So spielen Gefolgschaftsvorstellungen, also die Frage danach, wem ordne ich mich klugerweise unter, dort weiter eine wesentliche Rolle. Das ist ein völlig anderer Kapitalismus als der, auf den hin wir denken – pro- wie antikapitalistisch.
Am Marxismus hatte mir immer die Idee gefallen, dass ein System nicht nur sich selbst reproduziert, sondern auch seinen Totengräber.
Marx knüpfte an den „Verfassungskreislauf“ an, wie ihn Polybios schon im zweiten vorchristlichen Jahrhundert entwickelt hatte. Wenn die sozial-moralischen Ressourcen der Bürger, die „Tugenden“ also, verfallen und die Orientierung am Gemeinwohl nachlässt – dann schlägt die Stunde der Despoten. Die werden endlich gestürzt und es erblühen wieder die Tugenden – sei es durch Krieg oder Bürgerkrieg – und mit ihnen die „Republik“. Marx bringt diese Idee einer sich zyklisch vollziehenden Selbstdestruktion von Systemen zusammen mit der Idee des Fortschritts. Das zum einen. Andererseits: Der Ökonom Joseph Schumpeter betrachtete die Krisen des Kapitalismus als Mittel seiner Selbsterhaltung. Kreative Zerstörung, um Veraltetes loszuwerden und Neues aufzubauen. Sicher ist nicht jede Krise ein Schritt zur Selbstheilung. Aber wenn man sich den Zustand der DDR-Wirtschaft an ihrem Ende anschaute, konnte man schon auf die Idee kommen: Was ihr fehlte, waren Krisen des kapitalistischen Typs.
Und die sozial-moralischen Ressourcen?
Es gibt Krisen, die sind Gelegenheit zur Revitalisierung von Tugend. Als 2015 die Flüchtlinge kamen, da sprang die Zivilgesellschaft ein. Tausende halfen. Nicht weil Geld oder andere Vorteile lockten. Sie halfen, weil sie helfen wollten. Auf solches Engagement ist ein freier Staat angewiesen.
Im Jahr 2015 war ein Handlungsfenster entstanden, um die Flüchtlingsfrage ins Positive zu wenden. Dieses Fenster ist jetzt geschlossen.
Es gehört zu den wirklichen Versäumnissen der damaligen Bundesregierung, dass diese Gelegenheit zu einer großen Mobilisierung dieser Gesellschaft nicht genutzt wurde. Administration und Verwaltung haben über weite Strecken neben-einander-her gearbeitet. Das Handeln der Zivilgesellschaft wurde nicht politisch, sondern rein humanitär betrachtet. Die Politiker aller Ebenen und in allen Parteien haben da zu kurzfristig gedacht. Vor allem aber: Sie hatten keinen republikanischen Geist.
Frankfurter Rundschau 27.3.2018
Keine Kommentare:
Kommentar veröffentlichen