Mittwoch, 7. März 2018

Die Krise der Linken

Die Diagnose, dass die Linke in einer Krise sei, ist fast so alt wie alle heute lebenden Linken. Sie hat also eigentlich keinen großen Neuigkeitswert. Aber seien wir ehrlich: So desolat wie im Augenblick waren die politischen Kräfte links der Mitte noch nie in Europa.
Sozialdemokratien schrammen an der 20-Prozent-Marke herum – wenn sie nicht gleich völlig untergehen, wie die einstmals glorreichen französischen Sozialisten oder die niederländische Partij van de Arbeid, die zuletzt gerade noch 5,7 Prozent der Wählerstimmen holte. Die griechische Pasok besteht faktisch nicht mehr. Die österreichischen Sozialdemokraten könnten da auf ihre 27 Prozent bei der jüngsten Wahl noch stolz sein, wären sie nicht in die Opposition gefallen, was zur Bildung einer rechts-ultrarechten Koalition führte. Dagegen rangelt die SPD gerade mit der AfD um Platz zwei in den Umfragen.
Linke Parteien jenseits der Sozialdemokratie können dieses Vakuum nirgends auffüllen. Die deutsche Partei „Die Linke“ stagniert seit Jahren bei 10 Prozent und hat das Monopol der Opposition gegen das System an die extreme Rechte verloren. Allein im Sonderfall Griechenland gelang es der linken Syriza, zumindest für einige Jahre, zur neuen hegemonialen Kraft zu werden.
Konnte man vor ein paar Jahren noch auf die Möglichkeit einer neuen Allianz sozialdemokratischer und linker Regierungen von Portugal über Griechenland bis Schweden, Österreich und Frankreich setzen, ist heute von einer solchen Achse kaum noch etwas übrig.

Aber auch jenseits der blass- oder tiefroten Parteienformationen und einiger grüner Tupfer gibt es keine breiten gesellschaftskritischen Bewegungen, die sich auf einen Ton stimmen können. Insofern ist hämisches Fingerzeigen der Bewegungslinken auf die Parteilinken unangebracht, denn die Grass-Roots-Bewegungen sind selbst Teil des Problemkomplexes. Es sind ja im besten Falle lebendige Basisbewegungen, denen es gelingt, einen Zeitgeist zu prägen, die den Boden für Wahlerfolge von Mitte-links-Parteien bereiten. Aber auch da gibt es wenig Positives zu vermelden.

Diese Krise ist also eine fundamentale. Ihre Hauptursache ist die geistige und konzeptionelle Auszehrung des gesamten linken Milieus. Klar, es gibt immer eine endlos lange Liste von Konzepten: von Maschinen- und Robotersteuern bis zur Bürgerversicherung, von Bildungsreformen bis zu höheren Erbschaftsteuern und dem Austrocknen von Steueroasen – aber fügt sich das zu einem kongruenten Bild, einem Narrativ für eine bessere Gesellschaft, an die die politischen Anführer der Mitte-links-Parteien noch glauben? Und zwar im Sinne von: Wir haben hier eine Idee, und wenn wir diese umsetzen, dann werden wir unsere Gesellschaften auf einen eminent besseren Pfad setzen; und diese Umsetzung ist auch möglich.

Leider glaubt kaum ein Spitzenpolitiker, kaum eine Spitzenpolitikerin aus dem Spektrum der Linksparteien an so etwas. Man hat sich damit abgefunden, die schlimmsten Auswirkungen der neoliberalen Ordnung zu zügeln. Aber damit sendet man das Signal: „Wählt uns, denn mit uns wird es langsamer schlechter.“ Wen soll das begeistern?
Mit Hoffnung wählen
Es fehlt also nicht nur an fünfzehn oder fünfhundert guten Vorschlägen, von denen manche vielleicht gewagt genug wären, auch noch jemanden aufzuregen – es fehlt vor allem an einer Geschichte dazu. Es ist ein Irrglaube, anzunehmen, eine Handvoll guter Ideen würde sich schon von selbst zu einem Bild summieren, „wofür man steht“. Das tun sie nicht, besonders wenn sie sich um das Kleingedruckte der Sozialversicherungswirtschaft oder der Investitionsanreize drehen. Die Ideen müssen durch eine Geschichte zusammengehalten werden. Sie müssen von Personen verkörpert werden. Und all das muss glaubwürdig sein.

Die Linken bräuchten mehr Mut zum Konzept, um zu einer glaubwürdigen Alternative zu werden. Der Zeit-Redakteur Bernd Ulrich hat dafür die schöne Formel von der „besonnenen Radikalität“ geprägt. Radikal nicht im Sinne von Krawall schlagen, sondern im Sinne von Konzepten, die über die Bescheidenheit des Klein-Klein hinausgehen. Nur so kann der Nebel des Dauerdepressiven weggeblasen werden, der über unseren Gesellschaften hängt, dieses Klima der Angst, dass der Boden unter den Füßen schwankender wird. Linke Parteien müssen Parteien der Hoffnung sein und des Optimismus.

Owen Jones, der britische Blogger, Aktivist und Guardian-Kolumnist, hat dazu unlängst gescheite Sachen gesagt. „Was haben Ronald Rea­gan und Spaniens radikale Podemos-Partei gemeinsam?“, schrieb er. „Wenig, mögen Sie annehmen. Ersterer war ein dogmatischer Ideologe, der die freien Märkte wüten lassen wollte; Letztere sind, teilweise, eine direkte Rebellion gegen dieses Dogma. Aber beide definierten ihre gegensätzlichen ­Philosophien auf ähnliche Weise: mit Hoffnung, Optimismus und Ermächtigung.“ Rea­gans Mantra war „Morning in America“. Der Podemos-Anführer Pablo Iglesias sagt: „Wir repräsentieren nicht nur die Stimme der Wütenden, sondern die Stimme der Hoffnung.“ Und er fügt hinzu: „Wann war das letzte Mal, dass Ihr mit Hoffnung gewählt habt?“


Die Menschen, die den Status quo satthaben, werden niemandem Vertrauen schenken, der nicht glaubwürdig für etwas Neues steht. Aber das wäre nur ein erster Schritt. Linke Parteien waren immer dann stark, wenn sie Fäden und Netzwerke geknüpft haben, wenn sie den Alltag in den Stadtvierteln strukturierten oder einfach nur vor Ort präsent waren. Wenn sie selbst als Netzwerke und Bewegungen funktioniert haben.
Sigmar Gabriel hat die unsägliche These aufgestellt, dass die Sozialdemokratien zu „postmodern“ geworden seien, also sich zu viel um ­Feminismus und Schwulenrechte gekümmert haben und zu wenig um den ausgebeuteten Postzusteller, die Verkäuferin oder den Kohlegrubenarbeiter. Unfug! Sozialdemokratien, die glaubwürdig sind, sind dies in beiden Milieus, in den liberal-urbanen und den (post-)proletarischen. Und wenn sie unglaubwürdig sind, sind sie es auch in beiden.

Im Lichte all dessen ist in mancher Hinsicht zumindest die Labour Party unserer Zeit ein echtes Erfolgsmodell. Mit Jeremy Corbyn hat sie einen Mann an der Spitze, der nicht gerade mit strahlendem Charisma beschenkt ist, der vom Blatt liest und langweilig erschien. Aber er verfügte über die Glaubwürdigkeit dessen, der sich nicht mit der Oberklasse und dem Mainstream arrangierte und seit rund dreißig Jahren das Gleiche sagt.
Koalition von Engagierten aus verschiedenen Milieus

Man sollte nun den Erfolg von Labour nicht übertreiben. In der Opposition ist es natürlich leichter, Glaubwürdigkeit zu erlangen, als sie in der Regierung zu behalten (wobei beides verdammt schwer ist). Labour steht heute in den Umfragen bei sagenhaften 40 Prozent – aber angesichts der unfähigen Theresa-May-Regierung hat Labour es da auch leichter. Zudem hilft das Mehrheitswahlrecht, da es zu einem Herdentrieb zu den großen Parteien der jeweiligen Lager führt. Die Umfragen bei der nächsten Wahl in Ergebnisse zu verwandeln kann noch schwer werden für Labour, besonders dann, wenn die Torys ­Theresa May durch eine unverbrauchte Spitzenfigur ersetzen.
Aber dennoch lässt sich bei Labour durchaus Modellhaftes abschauen. An der Basis, in den Stadtteilen und kleinen Städten, entstand dort wieder ein lebendiges Parteileben, in der dezentralen Parteiarbeit entwickelte sich das Bild, dass sich die Partei um die Menschen kümmert. Zudem formierte sich eine Bewegung junger Leute, die sich für Corbyn und seinen Kurs starkmachen, angeführt von der Bewegung „Momentum“. Genau diese Kombination aus Bewegung und Partei führte auch Syriza nach 2010 von der Kleinpartei zur 40-Prozent-Partei. So entwickelt sich eine Art Mitmachpartei, die der Falle „entweder Traditionspartei oder neue, linksliberale urbane Mittelschichten“ entgeht – indem sie alle Mi­lieus repräsentiert.

In Großbritannien entsteht gerade das, was große progressive Parteien immer ausgezeichnet hat: eine Koalition von Engagierten aus verschiedenen sozialen Milieus, von Menschen, die unterschiedliche Lebensarten pflegen, aber doch das Bewusstsein haben, gemeinsam an einem Strang zu ziehen. Ganz dem Wort von Bernie Sanders entsprechend, dass „Demokratie etwas anderes ist als ein Fußballspiel. Demokratie ist kein Zusehersport.“

Zuletzt noch ein Punkt, auf den der Gesellschaftsanalytiker Oliver Nachtwey („Die Abstiegsgesellschaft“) jüngst hinwies: Es ist ja nicht falsch, dass die linken politischen Eliten „selbst Teil des Establishments geworden“ sind. Nicht selten erwecken sie den Anschein, als wollten sie von den ökonomischen Machteliten akzeptiert werden. Oder sogar selbst Teil davon werden. Zum Teil ist das Ausdruck von schwachem Selbstbewusstsein: Man möchte von der ökonomischen Superklasse und deren Repräsentanten, diesen Verkörperungen der modernen Erfolgskultur, respektiert werden.

Es ist aber nicht die Aufgabe von Linken, sich der Macht anzubiedern. Es ist ihre Aufgabe, sie zu bekämpfen. Parteien der demokratischen Linken müssen immer in Opposition sein. Sogar wenn sie regieren, müssen sie so etwas wie „oppositionelle Regierende“ sein.
Verlieren Parteien diese Identität, untergräbt das jede Glaubwürdigkeit. Kein Mensch wird einer Anbiederungslinken glauben, dass sie noch die Energie hätte, gegen die Widerstände der herrschenden Eliten alternativ zum neoliberalen ­globalen Kapitalismus Entwicklungspfade durchzusetzen.

Isolde Charim
taz 25.2.2018

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