Wir leben bereits in der Maschine
Norbert Bolz
Der Mensch verschmilzt mit dem digitalen Medium und tritt ein ins Zeitalter der Sozialpornografie. Das Herumschnüffeln im Privatleben anderer Leute hat schon immer Spass gemacht, und heute macht uns die Überwachungstechnologie alle zu Voyeuren.
Wenn heute das Allermundewort Digitalisierung fällt, denken die meisten an Smartphones, Laptops und Glasfaserkabel. Es geht jedoch um etwas ganz anderes: Menschen und Medien verschmelzen. Schon heute gibt es Computer, die man am und im Leib trägt. Die Nanotechnologie arbeitet daran, dass der Computer nicht mehr als Werkzeug, sondern als eine Art Kleidung oder gar Haut erfahren wird. Sensoren im Körper kontrollieren Gesundheit und Stresslevel. An das Global Positioning System haben wir uns als Autofahrer längst gewöhnt. Heute arbeitet man an seinem medizinischen Äquivalent: der permanenten Überwachung des biomedizinischen Status. Das ist übrigens ein Nebenprodukt der Weltraumforschung, die schon seit Jahrzehnten an mikroskopisch kleinen Sensoren arbeitet, mit denen der Gesundheitszustand der Astronauten permanent überwacht werden kann.
An die Stelle der Lebensführung tritt also zunehmend die Bereitschaft, sich von Medientechniken zu einem besseren Leben führen zu lassen. Die Menschen tragen Informationen über sich und ihre Arbeit, ihre Interessen und Vorlieben mit sich, die dann in Gruppensituationen ganz automatisch mit den anderen ausgetauscht werden können. Die wie Kleider tragbaren Computer, die als Informationsassistenten funktionieren, zeigen sehr schön den Paradigmenwechsel an, der die fortschreitende Digitalisierung unserer Lebensverhältnisse bestimmt. Der Computer wird von der Blackbox zum Kleidungsstück und schliesslich zum Implantat. Nicht die Grenzen meines Körpers, sondern die Grenzen meiner Geräte sind die Grenzen meiner Welt.
Die Maschinen reden zu uns
Medientechnologen sind immer auch Sozialingenieure. Die Koevolution von Technik und Gesellschaft führt heute zu sozial intelligenten und geselligen Maschinen. So gewinnen Computer als Roboter eine Art Leben, d. h., sie treten zunehmend als sozial Handelnde auf. Und ganz entsprechend entwickeln die Nutzer ein soziales Verhalten gegenüber den Verkörperungen der Technologien. Es geht dabei um einen vom allzu Menschlichen entlasteten Beziehungskonsum, den die Soziologin Karin Knorr-Cetina «sociality with objects» genannt hat.
Das weltweite Netz ist allgegenwärtig – eine das ganze Leben umhüllende digitale Wolke.
Nicht nur der Mensch, sondern auch seine Umwelt wird heute computerisiert. Das ist unter dem Stichwort Internet der Dinge in den letzten Jahren ausführlich diskutiert worden. Im Klartext heisst das: Maschinen kommunizieren mit Maschinen. Wir leben seither in intelligenten Umwelten. Mikrocomputer dringen in alle unsere Alltagsgegenstände ein: Schuhe, Kleider, Kühlschränke, Zimmerwände. Und man arbeitet daran, alle Alltagsobjekte zu vernetzen, um sie ständig unter Kontrolle zu haben. Nicht nur die Menschen sind dann online, sondern auch ihre Dinge. Unsere gesamte Umwelt ist heute schon von Relais-Stationen durchdrungen. Das weltweite Netz ist allgegenwärtig – eine das ganze Leben umhüllende digitale Wolke.
Die Digitalisierung der Lebensführung macht das Private öffentlich: Amazon Look, die Datendauerübertragung aus der eigenen Wohnung, ist dafür das aktuellste Beispiel. Es ist nur der logische Schlusspunkt einer Entwicklung, die man mindestens zwanzig Jahre zurückverfolgen kann. Das Leben als ununterbrochene Sendung – das war ja schon das Thema des Films «Die Truman-Show» von Peter Weir aus dem Jahre 1998. Doch dort war der Held noch naiv und bediente in aller Unschuld die voyeuristischen Bedürfnisse des Publikums. Ein Jahr später tritt in «Big Brother» zum Voyeurismus der Exhibitionismus hinzu: Ich werde gesendet, also bin ich. Es gibt eine förmliche Lust, sich zu «outen». Selbstdarstellung und Selbstmitteilung sind zur Droge geworden.
Die Linse verlangt Selbstdarstellung
Dem entspricht passgenau, dass wir in einer Kultur leben, die vor allem die jungen Menschen zur Selbstdarstellung, ja zur Selbstvermarktung animiert. Jeder soll und will auffallen. Prämiert wird die expressive Kompetenz, das heisst, ob man «gut rüberkommt». Die Kamera hat ihren Schrecken verloren und ist zum Medium der Selbstdarstellung geworden. Das ist ein interessanter dialektischer Effekt: Videoüberwachung bedeutet ja, dass man sich nicht mehr begrenzt auf Beobachtung einstellen kann – daraus resultiert ein permanenter Darstellungszwang.
Wie sehr sich unsere Gesellschaft in dieser Hinsicht gewandelt hat, kann man an einem nun fast 25 Jahre alten «Spiegel»-Artikel ablesen, Botho Strauss' «Anschwellendem Bocksgesang». Dort heisst es: «Wer sich bei einer privaten Unterhaltung von Millionen Unbeteiligter begaffen lässt, verletzt die Würde und das Wunder des Zwiegesprächs, der Rede von Angesicht zu Angesicht und sollte mit einem lebenslangen Entzug der Intimsphäre bestraft werden.» Was Botho Strauss sich nicht vorstellen konnte: dass diese Strafe für viele Menschen heute gar keine Strafe mehr wäre.
Botho Strauss ging noch ganz selbstverständlich von der strengen Gegenüberstellung von Privatem und Öffentlichem aus. Und das entspricht ja auch dem bürgerlichen Selbstverständnis der Epoche der Gutenberg-Galaxis. Das war die Welt der stillen Lektüre und eines Charakters, den der amerikanische Soziologe David Riesman einmal als «inner-directed» definiert hat. Heute wird die Differenz von öffentlich und privat, von Intimität und Selbstdarstellung nicht mehr respektiert.
Die menschliche Lust am Gaffen
Wir leben in einem modernen Panoptikum, d. h. einer Welt der permanenten Beobachtung – nicht nur durch Fernsehkameras, sondern auch durch Webcams. Eigentlich gibt es keinen unbeobachteten Ort mehr. Und damit erfüllen die neuen Medien einen unserer tiefsten Wünsche: lustvoll Leute anzustarren, zu gaffen, also unbeobachtet beobachten zu wollen, wie andere beobachten. Man könnte das Sozialpornografie nennen. Wir beobachten Leute, die sich beobachtet wissen – und zwar in Situationen, die normalerweise der Beobachtung entzogen sind. Das Herumschnüffeln im Privatleben anderer Leute hat schon immer Spass gemacht, und heute macht uns die Überwachungstechnologie alle zu Voyeuren. Der Paläoanthropologe Rudolf Bilz spricht sehr schön von der «Zuschauer-Göttlichkeit» und der «Überwachungs-Stimulation».
Statt nun kulturkritisch zu lamentieren, sollte man nüchtern sehen, wohin die Reise geht. Auch hier müssen wir einen vertrauten Begriff konsequenter denken: Virtual Reality. Sie inszeniert die Welt der grossen Gefühle, in der wir Simulation und Realität nicht mehr unterscheiden können. Seit der Revolution der Pop-Art wissen wir ja, dass Gefühle ihre wahre Intensität nicht im Leben, sondern in den Medien haben. Wer wirklich etwas erleben will, sucht dieses Erlebnis nicht mehr im Alltag, sondern in der virtuellen Realität der Medien, die gestaltbar und weniger störanfällig ist. Sie ist die äusserste Konsequenz des modernen Wirklichkeitsbegriffs: die Welt als Simulation. Virtuelle Realität und Computersimulation bieten uns die Wirklichkeit als Gesamtkunstwerk, eine erlebbare Philosophie des Als-ob.
Der Screen ersetzt die hässliche Welt
Simulation ist das massendemokratische Erlebnis. Man kann den berechtigten Anspruch aller Menschen auf authentische Erfüllung nämlich nicht in der Realität befriedigen. Die Teilhabe aller würde zerstören, woran alle teilhaben wollen. Heute stehen wir deshalb vor einem weiteren entscheidenden Schritt in der Evolution der Medien. Nach den Phasen der Information, der Kommunikation und der Partizipation kommt jetzt die Immersion. Was ist damit gemeint? Ich vergesse, dass ich vor einem Bildschirm sitze. Ich bin kein Zuschauer mehr, sondern ich tauche in eine neue Lebenswelt ein. Es geht um das Gefühl der auch körperlichen Präsenz in einer virtuellen Welt.
Die Fiktion als einzig lebenswerte Lebenswelt.
Können wir in Zukunft also unbeengt in kleinen Räumen leben, weil die Wände Bildschirme sind, die uns virtuelle Welten eröffnen? Schon heute ermöglichen sie uns ja ein Vergnügen, das man gehegte Soziallust nennen könnte. Es geht hier um ein medientechnisches Sicheinhausen, das die Trendforscherin Faith Popcorn einmal Cocooning genannt hat – wobei uns der Bildschirm zugleich gegen die hässliche Realität abschirmt. So bekommt auch der alte Begriff Cyberspace eine neue Bedeutung: die Fiktion als einzig lebenswerte Lebenswelt.
Das schmeckt nicht jedem. Und so formiert sich heute auch eine Romantik der analogen Erfahrungsräume. Man hat Lust, den Stecker zu ziehen und auf der unverstärkten Gitarre zu spielen – zurück zur Kultur. So meint der Kultautor von «Generation X», Douglas Coupland, sich aus der Medienwirklichkeit zurückzuziehen, sei der ultimative radikale Akt. Das klingt attraktiv und anspruchsvoll: die Freiheit des Einzelnen durch Medienenthaltsamkeit zu retten. Doch ist das auch gut gedacht? Die Geschichte des Sokrates lehrt etwas anderes. Er ging auf den Marktplatz. Und der liegt heute in der digitalen Wolke.
NZZ 25.03.2018
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