Samstag, 21. Mai 2011

Das Ende des sexuellen Zeitalters?

volkmar sigusch     Menschen, die weder sexuelles Verlangen spüren noch sich sexuell betätigen, gab es immer. Der grosse amerikanische Sexualforscher Alfred C. Kinsey hat vor mehr als fünfzig Jahren auf das Phänomen hingewiesen, und nach ihm haben es einzelne Wissenschafter mehr oder weniger direkt ebenfalls getan. Als eine eigene, selbstbewusst und öffentlich vertretene sexuelle Orientierung aber gibt es Asexualität erst seit der dritten sexuellen Revolution, die ich die «neosexuelle Revolution» genannt habe. Zuvor, auch zu Zeiten der zweiten sexuellen Revolution – der der 1960er Jahre –, wurden Menschen, die Sexualität weder praktizierten noch sich für sie interessierten, einfach ignoriert, sofern sie nicht zu den zölibatär Lebenden gehörten. Die Betroffenen suchten die «Schuld» bei sich selbst oder in der Beziehung, in der sie lebten. Asexualität als Kulturform war undenkbar. Heute jedoch gibt es zum ersten Mal Sexuelle und Asexuelle – eine Dissoziation, die an die Substanz des «sexuellen Zeitalters» geht.
In den 1990er Jahren waren im Internet die ersten privaten Seiten zu bestaunen, auf denen Menschen bekannten, kein sexuelles Verlangen zu haben oder nur ein sehr geringes. (…) Inzwischen bezeichnen sich immer mehr öffentlich als asexuell, stellen ihre Eigenart als vierte sexuelle Orientierung neben die hetero-, die homo- und die bisexuelle und kämpfen wie einst verpönte Minderheiten um Anerkennung. Sie haben eine neue Lebensform ausgeprägt, die eine «Neosexualität» und ein «Neogeschlecht» markiert. Die Asexuellen gehen nicht nur zu den drei kulturell wie sozial ausgestanzten und anerkannten Sexualformen Heterosexualität, Homosexualität und Perversion auf Distanz, sie machen sich auch in puncto Geschlechtsidentität selbständig, indem sie sich weder gegengeschlechtlich noch gleichgeschlechtlich, noch auch zweigeschlechtlich orientieren wie die Bisexuellen. (…) Es wurde Zeit, dass sich diese Menschengruppe endlich selbst zu Wort meldet. Die traditionellen Medien allerdings nahmen die Asexuellen erst vor wenigen Jahren wahr. Offenbar hat erst 2004 ein Bericht im «New Scientist» unter dem Titel «Glad to be asexual» viele Zeitgenossen regelrecht vor den Kopf gestossen. Man gab sich jedenfalls ganz irritiert: Gibt es das wirklich? Und wie äussert sich das denn? – Warum erregten sich so viele Zeitgenossen? Vielleicht, weil sich das sexuelle Zeitalter unaufhaltsam seinem Ende zuneigt wie das soziale Zeitalter auch?

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