Mittwoch, 4. Mai 2011

Tod und Sterben

klaus heinrich Ich würde eine Unterscheidung machen zwischen Tod und Sterben, die mir für die letzten, sagen wir ruhig: hundert Jahre in unserer hochzivilisierten, hochindustrialisierten Gesellschaft wesentlich erscheint. Der Tod als Tod ist unwichtig, das Sterben als ein unter Umständen qualvoller letzter Lebensabschnitt ungeheuer wichtig geworden. Ich brauche nur zu erinnern an die Diskussion um Sterbehilfe und Sterbeverfügungen; daran, daß die Leute heute Angst davor haben, nicht mehr entscheiden zu können, wann die Apparate abgestellt werden, während sie früher fürchteten, scheintot begraben zu werden. Das heißt, die Verlagerung auf das Sterben als auf einen letzten Lebensabschnitt hat die metaphysische und religiöse Bedeutung des Todes auf den ersten Blick verdrängt. Auf den zweiten Blick, würde ich sagen, ist alles noch da, sind alle Uraltvorstellungen von Schamanismus und Animismus noch präsent, ist der Tod viel gegenwärtiger als in jenen Epochen, wo er fest in die Kultur eingebaut war und man sich seiner nicht ständig vergewissern mußte. Was mir, wenn ich von einer Stadt wie Berlin ausgehe, am meisten auffällt, ist, ich übertreibe jetzt einmal: Dem toten Hund setzt man einen Gedenkstein, der tote Angehörige wird verscharrt. Das Unwichtigwerden des Todes bedeutet, daß die Toten unwichtig geworden sind, und das hat diverse Gründe, die sich gegenseitig stützen: ökonomische Gründe – Bestattungen und die Pflege von Grabplätzen werden  teurer; betriebswirtschaftliche Gründe, wenn man so will –, die von allen eingeforderte Flexibilität erlaubt es nicht, die Toten mitzunehmen, fordert dazu auf, sich ihrer zu entledigen; und auch spirituell braucht man das Gedenken an die Toten zu bestimmten Zeiten und an einem Ort, wo man mit einem Nachbild von ihnen konfrontiert wird, nicht mehr. Also, die Toten werden als Ballast abgeworfen – das ist, wieder überspitzt gesagt, mein Eindruck heute. Das Sterben wird unendlich aufgeladen, als etwas, was eigentlich nicht sein sollte, und wenn es denn doch ist, so vernünftig, so schmerzlos wie möglich einherkommen soll. Und jeder Versuch, ein Leben zu führen, das aus Leben und Tod gemischt ist, und einen Tod zu sterben, der ein Abschied von den Lebenden ist, wird in diesem Zusammenhang ausgeblendet.

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