Georg Diez
Die deutsche Krankheit
Das sind keine normalen Wahlen in Deutschland. Was bricht hier auf? Wie konnte das Land in diese Lage geraten?
Republik 17.02.2025
Die deutsche Krankheit ist die Angst. Sie hat sich in die Gesichter der Menschen gefressen, sie schaut aus ihren Augen, wenn sie einem mit eingezogenem Kopf auf dem Bürgersteig entgegenkommen und beharrlich geradeaus schauen, geradeaus gehen, geradeaus denken. Sie durchzieht ihre Körper und macht sie hart und unnahbar und auf eine gewisse Art grausam, die ich als Kind fast physisch gespürt habe und vor der ich immer wieder zu längeren Aufenthalten ins Ausland geflüchtet bin und mit der ich nun täglich konfrontiert bin, je länger, desto Merz.
Es ist eine Angst, die sich im Verhalten äussert und im Denken. Es ist die Angst vor anderen Menschen, die Angst vor sich selbst, die Angst davor, aufzufallen, die Angst vor neuen Gedanken, die Angst vor der Welt, die Angst vor Eleganz, Schönheit, vor allem, was man nicht kennt. Sie ist nicht immer sichtbar, diese Angst, und sie ist nicht bei allen Deutschen da. Aber sie kommt hervor, wenn die Zeiten härter werden, und sie wird dann umso unheimlicher.
Es ist eine Angst, die sich im Lauf der Geschichte oft in Aggression verwandelt hat. Sie liegt im Ursprung des deutschen Komplexes als Land, das zu gross ist in der Mitte Europas und zugleich so unsicher, was Rolle und Identität angeht. Die beiden Weltkriege des 20. Jahrhunderts lassen sich so teilweise erklären, eine geopolitische Unwucht, die sich entweder in deutscher Dominanz oder deutscher Expansion äusserte. Nach 1945 war die Spaltung des Landes Garant für geopolitische Vernunft. Seit 1990 ist das Land wieder in Bewegung. Es ist wieder zu gross und zu klein zugleich. Das schafft Spannungen.
Ich glaube nicht, dass sich Geschichte wiederholt. Ich glaube aber auch nicht, dass sich Völker so schnell und grundlegend ändern, dass Strukturen von Gewalt verschwinden, die in der Erinnerung der Täter lange Teil der deutschen Gesellschaft waren und an die Kinder und die Enkel weitergegeben wurden. Die deutsche Angst und Geschichte reichen allerdings tiefer als bis zu Adolf Hitler. Wenn ich über dieses Land nachdenke, heute, dann sehe ich ein Land voller Bruchlinien, die nicht direkt sichtbar sind. Ein Land, das sich in der Völkerwanderung geformt hat, ein Land, das immer noch vom römischen Limes zerteilt ist, die Grenze der Zivilisation – man merkt immer noch, wo die Römer waren und wo nicht.
In diesen Tagen scheint all das präsenter zu sein als je zuvor in der Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg. Wir sehen, wie sich in Europa und in den USA ein neuer Faschismus formt, der nur wenig mit dem alten Faschismus zu tun hat. Dennoch greift er auf bestimmte historische Formen zurück: bislang vor allem auf das Freund-Feind-Schema der politischen Auseinandersetzung, die Gedankenkontrolle und massive Säuberungen im Staatsapparat, Einschüchterung der freien Medien, exekutive Dominanz, rassistische Ausgrenzung, persönliche Interessen und Bereicherung, Anbiederung der Eliten und der Industrie, Gewalt gegen die Schwächsten.
Jedes Land hat dabei seine bestimmte Form des Faschismus. In Deutschland sind die Rechtsextremen von der AfD in Ton und im Auftreten, in den Biografien und in den Netzwerken brutaler als etwa in Frankreich oder Italien. Es hat sich in diesem Land etwas von der exterminatorischen Verachtung der Zeit zwischen 1933 und 1945 bewahrt – zum Teil haben die Leute in der AfD durch ihre Familiengeschichte direkte Verbindungen zum Nationalsozialismus: Beatrix von Storch etwa, deren Grossvater Reichsfinanzminister unter Adolf Hitler war und 1949 als Kriegsverbrecher zu zehn Jahren Haft verurteilt wurde.
In diesen Wochen vor der Bundestagswahl am 23. Februar nun ist das Land von dramatischen Konvulsionen durchzogen. Die beiden Abstimmungen vom 29. und 31. Januar, bei denen die CDU auf die Stimmen und die Unterstützung der AfD gesetzt hat, um eine massive Verschärfung im Zuwanderungsrecht zu erreichen, die gegen das deutsche Grundgesetz und gegen europapolitische Grundsätze verstösst, haben das Land verändert, haben vor allem die aggressive Art der deutschen Angst wieder sichtbar gemacht: Es ist ein rücksichtsloser Egoismus, der in der Sprache eine Rohheit erzeugt, die das Ende liberaler Politik bedeutet, die auf Verhandlungen und Kompromiss setzt.
Ich weiss von vielen, die darüber nachdenken, was sie tun würden, wohin sie gehen würden, wenn die AfD an die Macht kommt. Ich auch. Ich denke auch darüber nach, was es heisst: «an die Macht kommen», und ob die Macht der AfD nicht schon gross genug ist, gefährlich gross. Wann ist also der Augenblick zu gehen? Wann weiss man, dass es nicht mehr geht? Und was macht man davor? Hunderttausende sind in Deutschland auf die Strasse gegangen, um gegen Friedrich Merz und seinen Pakt mit der AfD zu demonstrieren. Das ist wunderbar. Aber reicht es?
Es sind schwierige und einigermassen deprimierende Tage in Deutschland, unterbrochen von diesen wichtigen Momenten, vom Auflehnen der Zivilgesellschaft, vom Widerstand von Freunden. Manche lesen in diesen Tagen Stefan Zweigs «Die Welt von Gestern», weil darin erzählt wird, wie eine Gesellschaft, wie eine Welt wegkippt. Andere lesen Heinrich Manns «Der Untertan», weil hier so präzise wie nirgends sonst der deutsche Geist beschrieben wird, der sich in aggressiver Unterwürfigkeit zeigt: «Wer treten wollte», so heisst ein Schlüsselzitat für den deutschen Faschismus, «muss sich treten lassen.»
Auch Heinrich Mann erzählt von der deutschen Krankheit – davon, wie Angst und Provinzialismus zusammenhängen und Angst und Irrationalität, die sich individuell und gesellschaftlich äussert. Das eine ist ein Problem, das andere ein Pogrom. Heinrich Manns Bruder Thomas erfasste die doppelte deutsche Dunkelheit von Irrationalität und Grössenwahn in seinen Romanen und Reden – sie lesen sich historisch, sie scheinen weit weg, «Doktor Faustus» etwa, wo die Dunkelheit der Avantgarden verhandelt wird. Aber noch mal: Wie vergeht Geschichte, wie ändern sich Menschen, was bleibt von Grausamkeiten in Gesellschaften?
Es bricht gerade vieles auf und einiges bricht zusammen. Die Wahl von Donald Trump hat das alles beschleunigt, was latent vorhanden war. Der Einfluss von Elon Musk ist dabei besonders mächtig. In Deutschland ist diese Veränderung deutlich zu spüren. Es scheint etwas wie einen Nachahmungseffekt zu geben, eine Mischung aus speziell deutschem Ressentiment etwa in der Migrationsdebatte und einem generellen Zeitgeist, der hin zu mehr nationalem Egoismus geht und zu mehr Härte zwischen Staaten und zwischen Menschen. Die deutsche Gesellschaft und Politik, fürchte ich, sind darauf nicht gut vorbereitet.
Der Wahlkampf ist bisher ein Spektakel der Ideenlosigkeit. Es fehlen der Wille und die Energie, sich eine Zukunft für das Land vorzustellen, ausser vielleicht bei der innovativen und interessanten Partei Volt, die als europaweite Partei eine andere Vorstellung etwa von Migration vertritt. Ansonsten sind ausser der Partei Die Linken und mit Abstrichen den Grünen wiederum so gut wie alle Parteien in der Rhetorik von rechts gefangen und reagieren auf die Forderungen nach andauernder Verschärfung von Zuwanderung – obwohl es gravierende andere Fragen gibt in diesem Land, die zuerst oder wenigstens im Zusammenhang angegangen werden müssten.
Zuwanderung etwa, die nur als Gefahr diskutiert wird, ist notwendig als Einwanderung für ein alterndes Land – die deutsche Wirtschaft, eh schon angeschlagen und teilweise abgeschlagen im Weltmassstab, droht durch den Fachkräftemangel weitere Probleme zu bekommen. Industriepolitisch ist die Rücknahme des Verbots von Verbrennermotoren ein Zeichen für die Retro-Sehnsucht, die diese Gesellschaft durchzieht. Die Klimakrise wird weitgehend verschwiegen, die KI-Revolution auch. Es ist in vielen Bereichen diese Angst vor der Zukunft, die zu Regression und reaktionärer Politik führt.
Viel kommt da nicht von der SPD, die auf ihren Plakaten Olaf Scholz zeigt und eine Deutschlandfahne. Und auch die Grünen plakatieren vor allem Worte oder Wünsche statt Programme und Ideen: «Zuversicht» etwa oder «Zusammen». Die Konservativen der CDU und CSU waren schon vorher ratlos, aber sie konnten es ganz gut verstecken, weil sie in der Opposition waren. Nun sind sie auf dem Weg, den Kanzler zu stellen, und sie merken, dass sie etwas brauchen, das sie den Wählerinnen anbieten – es reicht nicht, einfach nicht die SPD oder die Grünen zu sein und sich mehr oder weniger gegen eine AfD zu stellen, die die CDU als Hauptgegner ausgemacht hat.
In dieser Situation wirkt das, was sich gerade in den ersten Wochen von Donald Trumps schicksalhafter Präsidentschaft vollzieht, wie eine Richtungsangabe: Entgegen aller Vernunft und allen Beispielen, aus den USA, Frankreich, Italien, Grossbritannien, gehen auch die deutschen Konservativen den Weg nach rechts, weil sie denken, dass sie hier Schärfe und Profil gewinnen könnten und Stimmen noch dazu. Das war das Fanal vom 29. Januar 2025, als die CDU zum ersten Mal in der deutschen Nachkriegsgeschichte einen Bundestagsbeschluss mit Unterstützung der Rechtsextremen durchbrachte.
Die Beispiele aus der jüngeren Zeit zeigen relativ eindeutig, dass konservative Parteien, die sich nach rechts bewegen, im Fall der CDU durch eine harte Migrationspolitik, die gegen das deutsche Grundgesetz verstösst und gegen europäisches Recht, ihren Wesenskern verlieren und von den Rechtsextremen an die Wand gespielt werden, ausgehöhlt, verspeist. Es ist nicht der Weg von Weimar, aber es ist das, was in Washington, Rom und London passiert ist und sich in Paris ankündigt, wo Marine Le Pen 2027 Präsidentin werden könnte.
Das speziell Deutsche an dieser Situation wurde in den vergangenen Tagen deutlich: So haltlos sind die deutschen Konservativen, so amateurhaft agiert das Personal, besonders Friedrich Merz, der eigentlich seine Kanzlerkandidatur verzockt hat, und sein eifriger Generalsekretär Carsten Linnemann, der, so gehen die Gerüchte, gern Merz noch in der kommenden Legislaturperiode stürzen würde, Merz ist 69, Linnemann ist 48. Es ist ein Generationenunterschied, und der Eindruck ist, dass sehr rechts ein Zukunftsversprechen existiert, das es sonst gerade nicht gibt.
Dieses Zukunftsversprechen formt sich aus Angst und Aggression. Die CDU traut sich nicht, «Make Germany Great Again» zu tapezieren, aber ihr Slogan «Ein Deutschland, auf das wir wieder stolz sein können» geht schon in diese Richtung. Gegen die Angst vor der Zukunft, so scheint es, hilft zurzeit das Versprechen einer Zukunft, die frei von Veränderung ist: «Wir können ein starkes Land sein», so erklärt es Friedrich Merz, «wenn wir die Tugenden wieder wertschätzen, die Grundlage für unseren heutigen Wohlstand waren: Leistungsbereitschaft, Fleiss, Anstand, Gerechtigkeit und Gemeinwohlorientierung.»
Was die Deutschen immer suchen, ist das, was sie zusammenhält, gegen andere. Das hat meistens etwas Ausgrenzendes. Die Angst ist das Verbindende in diesem Land, und solange sie sich anderweitig binden liess, etwa in engen Campingsiedlungen oder Kleingartenanlagen oder dem alltäglichen Kontrollwahn, den jeder kennt, der schon mal bei Rot eine deutsche Ampel ignoriert hat, solange sie anderweitig und demokratisch gebunden war, blieb sie wie ein bleierner Bodensatz in diesem Land, das beharrlich überschätzt wird, von sich selbst und von anderen.
Nun aber ist es anders. Nun ist die Demokratie ins Wanken geraten, und die handelnden Personen, allen voran Friedrich Merz, lassen einen nicht darauf vertrauen, dass sie Rechtsstaatlichkeit vor ihre eigenen Interessen stellen. Ein Problem ist dabei die Energie- und Ideenlosigkeit der progressiven Seite, die sich zu sehr auf den Angstdiskurs einlässt.
Es sind dunkle Tage in Deutschland. Ich arbeite dagegen an. Aber ich muss auch zum ersten Mal in meinem Leben sagen: Ich habe Angst vor der deutschen Angst.