Gwinyai Machona
Die Leere aus der Geschichte. Warum es jetzt auf die letzten Verfassungspatrioten ankommt
Doch nachdem der Bundestag den von der CDU-Fraktion eingebrachten ‚Fünf-Punkte-Plan‘ (BT Drucksache 20/14698) in einem nicht rechtsverbindlichen Beschluss auch mit den entscheidenden Stimmen der AfD verabschiedet hat, muss man sich, so Thomas Groß, Professor für Öffentliches Recht, zurecht, „ernsthaft die Frage stellen, was es über den Zustand unseres demokratischen Rechtsstaates sagt, wenn im Deutschen Bundestag ein Beschluss eine Mehrheit findet, der die Vereinbarkeit seiner Forderungen mit dem geltenden Recht vollständig ausblendet.“ Geforderte Maßnahmen wie das „faktische Einreiseverbot“ samt Zurückweisungen an den Grenzen und „zeitlich unbefristete Abschiebungshaft“ für ausreisepflichtige Straftäter:innen und Gefährder:innen befinden sich derzeit offenkundig „jenseits geltenden Rechts“, wie mit Winfried Kluth ein weiterer Staatsrechtler erklärt. Auch Helmut Aust und Heike Krieger warnen in der FAZ: „Wer internationale Rechtspflichten ignoriert, wird auch nicht davor zurückschrecken, innerstaatliches Verfassungsrecht zu demontieren. Wer Völker- und Europarecht nicht achtet, dem wird früher oder später auch das Verfassungsrecht kein Maßstab mehr sein.“ Dass sich der aussichtsreichste Kanzlerkandidat jüngst auf juristische Scheinargumente des Historikers Heinrich August Winkler zur „deutschen Asyllegende“ bezog, die sowohl an der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts als auch an sämtlicher verfassungsrechtlicher Literatur vorbeigehen, schafft dabei wenig Abhilfe.
In allererster Linie ist es also der Inhalt der Forderungen, der Grund zur Sorge sein sollte, nicht so sehr das vielseits beklagte ‚Verfahren‘, das darauf angelegt war, den Beschluss notfalls mit den Stimmen der AfD zu fassen. Es gehört aber doch zum ganz besonderen Zynismus der Geschichte, dass ausgerechnet am 80. Internationalen Tag des Gedenkens an die Opfer der Shoah das erste Mal ein Antrag im Deutschen Bundestag mit den Stimmen einer zumindest in Teilen rechtsradikalen Partei angenommen wurde, deren Vertreter:innen nicht nur seit geraumer Zeit mit Aussprüchen wie „Vogelschiss in der Geschichte“ oder „Denkmal der Schande“ provozieren und eine „erinnerungspolitische Wende um 180 Grad“ fordern, sondern auch straffällig werden, wie etwa bei der wiederholten Nutzbarmachung des SA-Wahlspruchs „Alles für Deutschland“.
Was ist geworden aus der Rede von den ‚Lehren aus der Geschichte‘? Welchen Stellenwert haben diese noch in Deutschland, wenn sie selbst für die politische ‚Mitte‘ anscheinend nur noch Objekte eines Rituals sind? Und worauf zielte die Rede vom ‚Verfassungspatriotismus‘ ursprünglich ab?
Der Historikerstreit in der BRD
„Ohne Menschen in Politik und Gesellschaft, die die Werteordnung der Verfassung vor dem Hintergrund ihrer Geschichte in einem rationalen Diskurs verwirklichen wollen, wird aus vergegenwärtigter Geschichte geschichtslose Leere.“
Bekanntlich griff Jürgen Habermas den Begriff des Verfassungspatriotismus, wie ihn Dolf Sternberger verwendet hatte, im Kontext des sogenannten Historikerstreits auf. Unter dem Titel „Eine Art Schadensabwicklung“ befand Habermas am 11. Juli 1986 in Die Zeit: „Der einzige Patriotismus, der uns dem Westen nicht entfremdet, ist ein Verfassungspatriotismus.“ Dieser Ausspruch entwickelte ein Eigenleben. Doch während der dahinterstehende Gedanke nur in seinem historischen Kontext gänzlich verständlich ist, droht dieser Kontext im Laufe der Zeitgeschichten in Vergessenheit zu geraten. Die Erinnerung lohnt sich, denn auch wenn sich Geschichte nicht 1:1 wiederholt, holt uns, mit Reinhart Koselleck gesprochen, die Vergangenheit doch manchmal ein.
1981: Die an der sozialliberalen Koalition unter Kanzler Helmut Schmidt (SPD) beteiligte FDP wendet sich in dem sogenannten „Scheide-Papier“ zur „Überwindung der Wachstumsschwäche“ gegen die sozialliberale Wirtschaftspolitik. Es kommt zum Koalitionsbruch. Durch ein konstruktives Misstrauensvotum wird Helmut Kohl (CDU) 1982 mit den Stimmen der FDP Kanzler. Kohl fordert nicht nur eine wirtschaftspolitische ‚Wende‘, sondern gleich eine „geistig-moralische Wende“. Schluss mit dem links-liberalen Nachhall der 68er-Bewegung, klare Abgrenzung zu den grünen ‚Ökospinnern‘, die ab 1983 im Bundestag sitzen, und weg mit dem deutschen ‚Schuldkult‘. Vor dem Hintergrund aufkommender rechtsextremer Kräfte wie der Deutschen Volksunion (DVU) spricht Helmut Kohl 1984 in Israel von der „Gnade der späten Geburt“, ein Ausspruch, der wohl beruhigen soll, aber leicht als Schuldabwehr (miss?)verstanden werden konnte. Nachdem Bundespräsident Richard von Weizsäcker (CDU) 1985 den 8. Mai als „Tag der Befreiung“ bezeichnete, widerspricht Franz Joseph Strauß (CSU) und fordert, dass die Vergangenheit „in der Versenkung“ verschwinden solle, eine „ewige Vergangenheitsbewältigung als gesellschaftliche Dauerbüßeraufgabe“ würde ein „Volk“ nur lähmen.
In diesem gesellschaftspolitischen Kontext soll im Sommer 1986 zunächst der renommierte Historiker und ausgewiesene Faschismusexperte Ernst Nolte einen Vortrag bei den Frankfurter Römerberggesprächen halten. Dieser wurde jedoch kurzfristig – wohl wegen inhaltlicher Bedenken – durch Wolfgang J. Momsen, damals Direktor des Deutschen Historischen Instituts in London ersetzt. Nolte sagt daraufhin seine Teilnahme gänzlich ab und spricht von einem „Frageverbot“.
Doch am 6. Juni 1986 bringt die FAZ das Redemanuskript mit dem Titel, „Die Vergangenheit, die nicht vergehen will: Ein Vortrag der geschrieben, aber nicht gehalten werden konnte“ und verschafft Noltes Thesen so bundesweite Aufmerksamkeit. Der Text beginnt mit einigen Klarstellungen. Es habe „gute Gründe“ gegeben, dass sich die nationalsozialistische Vergangenheit „als Schreckensbild […] geradezu als Gegenwart etabliert.“ Doch weiter meint Nolte, dass die „Rede von der ‚Schuld der Deutschen‘ […] allzu beflissen die Ähnlichkeit mit der Rede von der ‚Schuld der Juden‘“ übersehe. Angesichts des zeitlich vor dem NS liegenden Völkermordes an den Armeniern und des sowjetischen Zwangsarbeiter- und Internierungslagersystems (GULag) stellte Nolte die folgenden berühmt gewordenen Fragen:
„Vollbrachten die Nationalsozialisten, vollbrachte Hitler eine ‚asiatische‘ Tat vielleicht nur deshalb, weil sie sich und ihresgleichen als potentielle oder wirkliche Opfer einer ‚asiatischen‘ Tat betrachteten? War nicht der ‚Archipel Gulag‘ ursprünglicher als Auschwitz? War nicht der ‚Klassenmord‘ der Bolschewiki das logische und faktische Prius des ‚Rassenmords‘ der Nationalsozialisten? […] Rührte Auschwitz vielleicht in seinen Ursprüngen aus einer Vergangenheit her, die nicht vergehen wollte?“
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Dass ein analytisch denkender und arbeitender Intellektueller wie Ernst Nolte sich der gesellschaftspolitischen Natur seiner Thesen und ihrer Sprengkraft bewusst gewesen war, kann wohl angenommen werden, auch wenn er stets sein rein historisches (und grundsätzlich wohlberechtigtes) Erkenntnisinteresse betonte. Schnell wurde der sich selbst vormals als links beschreibende Nolte in eine ‚rechte Ecke‘ gestellt, in der er verharrte. Auch in späteren Veröffentlichungen, wie in dem Sammelband ‚Schatten der Vergangenheit‘, hielt er an seiner Deutung fest und versuchte darzulegen, warum das nationalsozialistische Feindbild des „jüdischen Bolschewismus“ zwar grob vereinfacht war, aber doch auf sachlicher Grundlage beruht habe. Schließlich hätten sich jüdische „Vorkämpfer“ des Sozialismus wie Max Horkheimer, Ernst Bloch und Georg Lukács anti-deutsch geäußert und wer (wie Bloch) „eine gesellschaftliche Realität, die von Millionen Menschen trotz all ihrer Schwächen als ‚liebenswert‘, als ‚Vaterland‘ empfunden wird, auf eine so enthemmte, so dämonisierende, so mythisierende Weise angreift, der darf sich nicht wundern, wenn aus dieser Realität ein Gegenschlag hervorgeht, der nicht minder enthemmt und mythisierend ist“. Spätestens hier fiel Ernst Nolte selbst in das von ihm formal beklagte „kollektivistische Denken“ und bediente normative Kategorien der Schuld und Verantwortung, die bereits in seinem FAZ-Aufsatz für alle hörbar mitschwangen.
Neben der Kritik, dass seine Thesen ‚revisionistisch‘ seien und Anleihen nehmen würden bei (neu-)rechten Versuchen der Täter-Opfer-Umkehr und Schuldabwehr, behauptete Jürgen Habermas in seiner Replik zudem, dass es Ernst Nolte und den anderen Historikern in Wahrheit um eine Erneuerung der deutschen Identität ginge:
„Wer uns mit einer Floskel wie ‚Schuldbesessenheit‘ (Stürmer und Oppenheimer) die Schamröte über dieses Faktum [einer ‚postkonventionellen Identität‘ in Deutschland] austreiben will, wer die Deutschen zu einer konventionellen Form ihrer nationalen Identität zurückrufen will, zerstört die einzige verläßliche Basis unserer Bindung an den Westen.“
Elemente dieser „postkonventionellen Identität“ sah Habermas darin, dass etwa die „nationalen Symbole ihre Prägekraft verloren haben“, „die naiven Identifikationen mit der eigenen Herkunft einem eher tentativen Umgang mit Geschichte gewichen sind“, „Kontinuitäten nicht um jeden Preis gefeiert werden“ und „nationaler Stolz und kollektives Selbstwertgefühl durch den Filter universalistischer Wertorientierung hindurchgetrieben werden“. In diesem Kontext griff Habermas den Begriff des Verfassungspatriotismus auf, er sei der einzige Patriotismus, „der uns dem Westen nicht entfremdet“. Die „in Überzeugungen verankerte Bindung an universalistische Verfassungsprinzipien“ habe sich „leider in der Kulturnation der Deutschen erst nach – und durch – Auschwitz bilden können.“ Ein solcher Verfassungspatriotismus war gedacht als Lehre aus der Geschichte, um diese zu überwinden, ohne sie zu vergessen.
Der Verfassungspatriotismus im vereinten Deutschland
Inwieweit Habermas’ Befund vom „Faktum“ der postkonventionellen Identität indes empirisch überzeugen konnte, kann wohl in Frage gestellt werden. Ein Jahr nach Beginn der Debatte gründete sich die rechtsextreme Deutsche Volksunion (DVU) als Partei. In den frühen 1990er Jahren kam es zu unzähligen Angriffen auf Unterkünfte von Geflüchteten (siehe Listen hier oder hier). Als Reaktion auf die Angriffe wurde unter anderem das Grundrecht auf Asyl im Grundgesetz entscheidend beschränkt – um rechten Parteien Wählerstimmen abzunehmen, so das aus politikwissenschaftlicher Sicht selten erfolgreiche Kalkül. So erhielt die DVU 1998 bei den Landtagswahlen in Sachsen-Anhalt 12,9 % der Stimmen, das lange Zeit beste Wahlergebnis einer rechtsextremen Partei in Deutschland. Rechtsextremismus, Antisemitismus und Rassismus waren in Deutschland immer ein Stück Normalität und der Verfassungspatriotismus nach Habermas wohl immer auch ein Stück Wunschdenken.
Dennoch legten Ideen wie Verfassungspatriotismus und Vergangenheitsbewältigung nach 1990 einen bemerkenswerten Gang vom links-intellektuellen Rand bis in die Mitte des vereinten Deutschlands zurück. Das Grundgesetz wurde zu dem zentralen „Identifikationsfaktor“ für das vereinte Nachkriegsdeutschland, wie Dieter Grimm nachzeichnet. Vor dem Hintergrund der eigenen Geschichte befand das Bundesverfassungsgericht bekanntlich, dass das Grundgesetz eine „wertgebundene Ordnung“ (BVerfG, SRP-Verbot) beziehungsweise eine „objektive Werteordnung“ (BVerfG, Lüth) konstituiere. Die Verfassung hielt gewissermaßen den „Filter universalistischer Werteorientierungen“ bereit, von dem Habermas geschrieben hatte. Sie gilt als Schutz vor der Erosion der freiheitlich-demokratischen Grundordnung. Denn die konstitutionelle Ordnung Weimars ist nicht allein an ihren juristischen Konstruktionsfehlern gescheitert, sondern „am eklatanten Versagen“ der Politik und Gesellschaft, die, so der ehemalige Bundesverfassungsrichter Udo Di Fabio in seinem Buch zur Weimarer Verfassung, „die Spielregeln des parlamentarischen Betriebs nie richtig gewollt und verstanden haben“.
Dahinter steht auch die Einsicht, dass eine demokratische Verfassungsordnung mehr verlangt als Beschlussfassungen durch Mehrheiten. Die international geläufige Kritik an Verfassungsgerichten, diese seien undemokratisch und nicht legitimiert, Gesetze des demokratisch gewählten Parlamentes als verfassungswidrig aufzuheben, hat (bislang) in Deutschland kaum Wurzeln geschlagen. ‚Karlsruhe‘ wurde fester Bestandteil einer deutschen Verfassungskultur, die populistische Mehrheitsbildung traditionell skeptisch betrachtet und grundsätzlich kein demokratietheoretisches Problem in einem starken Verfassungsgericht sieht. Auch dies war eine Lehre aus der Machtübertragung an die Nationalsozialisten, die stets in Erinnerung ruft, dass Mehrheiten nicht immer im Sinne der Demokratie handeln. Diese Erinnerung trug dazu bei, dass das Bundesverfassungsgericht die starke Stellung einnahm, die es heute innehat. ‚Verfassungspatriotismus‘ bedeutet in Deutschland traditionell auch ‚Verfassungsgerichtspatriotismus‘ und steht damit einem formalen, im analytischen Sinne populistischen Demokratieverständnis entgegen.
Der Stolz auf die eigene Verfassungsordnung geht jedoch von Beginn an mit einer Tendenz zur unkritischen Selbstsicherheit und Selbstgefälligkeit einher. So weist der US-amerikanische Rechtswissenschaftler Justin Collings darauf hin, dass man in Deutschland meint, „gewisse Dinge besser als andere Verfassungsordnungen“ zu verstehen, weil die eigene Verfassung „besser aus einer düsteren Vergangenheit gelernt hat.“ Zurecht kritisiert auch Max Czollek mit Desintegriert Euch! den Duktus der ‚Integration‘ und der Vereinnahmung jüdischer Identitäten seit den 1980er Jahren für ein „Versöhnungstheater“. Der Habermas’sche Zugriff auf die Geschichte und damit auch auf ihre Opfer, welcher in die Idee des ‚Verfassungspatriotismus‘ einging, war analytisch betrachtet stets auch ein instrumenteller. Bald wurde der ‚Verfassungspatriotismus‘ ein wenig verdächtiges, da nicht rassistisch vorbelastetes Konzept, um Menschen aus anderen „Kulturkreisen“ zur Integration aufzufordern. Auch die Kulturwissenschaftlerin Safiye Yıldız kritisiert in diesem Kontext eine „kulturelle Andersmachung“ von migrantisierten Menschen in Deutschland.
Doch gerade in der Rechtswissenschaft finden Viele (durchaus zurecht) positive Worte für den ‚Verfassungspatriotismus‘. Die mit ihm in Verbindung gebrachte „demokratische Politik“, so Tim Wihl, „inspiriert sich, argumentiert, entscheidet und kontrolliert auf der Grundlage der Rechtssätze der Verfassung.“ Dies gelte „gerade auch für den lange vernachlässigten Verweis in Art. 1 II GG auf die globalen Menschenrechte sowie den Bezug in Art. 23 GG und der Präambel auf die EU-Integration mit dem Ziel [und der Pflicht, GM] einer stetig engeren Union der europäischen Staaten.“ Ein solcher Verfassungspatriotismus zielte dabei auf mehr als auf formal rechtmäßig zustande gekommene Beschlüsse und einen gefühlten oder informell erfragten Mehrheitswillen ab. Verfassungspatriotismus war einmal die Hoffnung auf eine wertegeleitete Politik und Gesellschaft in einem freiheitlich-demokratischen Rechtsstaat.
Das Ende des Verfassungspatriotismus im populistischen Zeitalter
Wenn aber der ‚Verfassungspatriotismus‘ vor allem von „Zugezogenen“ eine manifeste Integration in die von der Verfassung konstituierte Werteordnung fordert, fragt sich, welche (partei-)politische Kraft diese Forderung der konstitutionalisierten ‚Leitkultur‘ noch glaubhaft formulieren kann. Es mag überzogen klingen, doch wenn CDU-Politiker mit Aussagen zitiert werden, nach denen man sich von „irgendeinem Scheiß-Gericht“, dem Europarecht oder der Genfer Flüchtlingskonvention nicht mehr von populären migrationspolitischen Maßnahmen abhalten lasse, wenn auch die Grünen in einen Sicherheitspaketüberbietungswettbewerb einsteigen, dann kann wohl vom ‚Verfassungspatriotismus‘ nach Jürgen Habermas an dieser Stelle keine Rede mehr sein.
Wenn (nach heutigem Stand) offensichtlich rechtswidrige Maßnahmen im Namen von ‚Law and Order‘ und einem ‚starken Rechtsstaat‘ gefordert werden, wie es nicht nur Markus Söder tut, dann hat dieses Rechtsstaatsverständnis nur noch wenig mit dem des Bundesverfassungsgerichts gemein, nach dem das Rechtsstaatsprinzip bekanntlich vor allem „auf die Bindung und Begrenzung öffentlicher Gewalt zum Schutz individueller Freiheit“ abzielt (BVerfG, NPD II Rn. 547). Ein Staat, der Schutzsuchende entgegen EU-Recht ohne rechtliche Prüfung abweisen und straffällig gewordene oder als „gefährlich“ eingestufte Migrant:innen in zeitlich unbegrenzte Abschiebehaft nehmen will, demonstriert vielleicht ‚Stärke‘, aber ist sicher kein Rechtsstaat. „Nicht die angeblich fehlende ‚Härte‘ ist die Gefahr für den Rechtsstaat,“ wie Maximilian Pichl treffend beobachtet, „sondern die galoppierende Erosion seines ursprünglichen auf den Schutz des Einzelnen zielenden Gehalts.“ Ruft man in Erinnerung, dass Opfer der deutschen Geschichte wie Walter Benjamin sich auf der Flucht vor NS-Verfolgung in den Pyrenäen das Leben nahmen, weil Spanien die Grenzen geschlossen hatte, während Boote mit jüdischen Geflüchteten auf dem Mittelmeer umherirrten, weil niemand die Grenzen für sie öffnen wollte, dann muss man fragen, von welchen ‚Lehren aus der Geschichte‘ an Shoah-Gedenktagen gesprochen wird, wenn Grund- und Menschenrechte, die zurecht als eine der zentralen Lehren aus der Shoah und dem Zweiten Weltkrieg gelten, im politischen Diskurs drohen irrelevant zu werden. Ohne die „in Überzeugungen verankerte Bindung an universalistische Verfassungsprinzipien“ (Habermas) droht die Rede von der ‚Lehre aus der Geschichte‘ zur leeren Worthülse zu verkümmern. Ohne Menschen in Politik und Gesellschaft, die die Werteordnung der Verfassung vor dem Hintergrund ihrer Geschichte in einem rationalen Diskurs verwirklichen wollen, wird aus vergegenwärtigter Geschichte geschichtslose Leere. Erstaunlicherweise sind es dieser Tage auch selbst ernannte Verfassungspatrioten, die man offenbar daran erinnern muss.
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