Montag, 10. Februar 2025

Haben wir es den Faschisten zu leicht gemacht?

Robert Menasse


Haben wir es den Faschisten zu leicht gemacht?

Haben wir es den Faschisten zu leicht gemacht?
von Robert Menasse
Achtzig Jahre nach der Befreiung von Auschwitz erinnern wir uns wieder einmal in Feierstunden an den Schwur, dass dies nie wieder geschehen darf und wir den Anfängen, die schließlich zu diesem grauenhaften Zivilisationsbruch geführt hatten, wehren müssen.
Aber wir sollten uns endlich auch fragen, was nie wieder geschehen dürfe? Auschwitz? Bedeutet der Schwur wirklich nur, dass noch nichts geschehen ist, solang es nicht wieder Vernichtungslager gibt? „Wehret den Anfängen“ ist eine griffige Aufforderung, zu der wir aufgeklärten Schüler der Geschichte nicken, aber haben wir auch begriffen, was wir zu tun haben, wenn es längst nicht mehr bloß Anfänge sind? Jedem Anfang des Faschismus wohnt eine Verzauberung inne. Wenn der Faschismus auftritt, sehen viele darin die Befreiung, selbst treten zu können. Das ist Magie: Den Schwachen den Eindruck vermitteln zu können, dass ihnen geholfen werde, zulasten der Schwächsten, zum Vorteil der Stärksten, und diese doppelte Spaltung als Volkssolidarität zu verkaufen. Dazu kommt das mathematische Schamanentum, die knapp 30 % der Wähler, die das wollen, als Mehrheit zu bezeichnen. Wie können 20 bis 30 % die Mehrheit sein? Der Trick ist einfach: Wer nicht zustimmt, gehört nicht zum Volk, denn wer zum Volk gehört, bestimmen die Faschisten. Faschisten glauben immer, dass sie die Mehrheit sind, das Wahre, das Echte, und alle anderen sind Feinde, wesensfremd, dekadent, minderwertig. (...)
Aber diese Anfänge haben wir hinter uns, der faule Zauber ist längst von einem gesellschaftlichen Rumoren zu einer herrischen Bewegung angewachsen, der keine Wehrhaftigkeit entgegengesetzt wurde, sondern die durch trübe Nachahmung durch Vertreter der Parteien der Mitte geradezu eskortiert wurde und jetzt die Schalthebel des politischen Systems zu erobern droht. Das ist die Mitte, die ÖVP und FPÖ für sich beanspruchen, die Mitte zum Zweck.
„Wehret den Anfängen“ wurde also versäumt. Und was jetzt? Wie können wir entzaubern, was, buchstäblich blendend, zu funktionieren scheint?
Freiheitliche sind keine Nazis
Wir müssen uns zunächst die Frage stellen, ob wir es den Faschisten nicht zu leicht gemacht haben, indem wir sie immer mit den Nationalsozialisten verglichen, sie letztlich an den Nationalsozialisten gemessen haben. Der Faschismus, dessen Wiedergängertum wir erleben, ist kein Nationalsozialismus, auch wenn einige Funktionäre der FPÖ sozusagen folkloristisch mit der Nazi-Ideologie sympathisieren.
Aber die FPÖ plant keine Vernichtungslager, sie träumt nicht von Angriffskriegen zur Eroberung von „Lebensraum“ und so weiter. Sie sind keine Nazis, sie sind „bloß“ Faschisten. Das ist schlimm genug. Immer wenn die Freiheitlichen (und ihre Wähler) von besorgten Bürgern und engagierten Künstlern als Nazis bezeichnet wurden, waren sie entrüstet. Ich fürchte: zu Recht. Denn sie sind keine Nazis. Sie sind Faschisten. Das sollte ausreichend sein, um sie kompromisslos zu bekämpfen.
Österreich hat zwei Faschismen erlebt, vor dem sogenannten Anschluss den hausgemachten, den Austrofaschismus. Weil der Austrofaschismus aber die Souveränität Österreichs gegen Hitler zu verteidigen versucht hatte, galten die Austrofaschisten nach 1945 plötzlich als Widerständige. Das ist einmalig, das gab es nur in Österreich: dass Faschisten als Widerstandskämpfer angesehen wurden, weil sie gegen einen konkurrierenden Faschismus waren. Und ihr Faschismus wurde zum Synonym von Patriotismus.
Sie waren für Österreich. Sie waren gegen Hitler. Sie waren Patrioten. Dass sie Faschisten waren, verschwand in dieser Umwortung. Und dieser „Patriotismus“ wurde in der Zweiten Republik zum Fundament eines mehr oder weniger folkloristischen, mehr oder weniger gemütlichen Alltagsfaschismus, der nie infrage gestellt wurde, weil er sich von den Nazis und überhaupt von den Deutschen distanzierte, sich also nie als faschistisch empfand, weil es ja Patriotismus war und ist und man doch nichts gegen Patriotismus sagen könne. Das ist eine Erfahrung, die Menschen meines Alters die längste Zeit immer wieder machten: Man konnte in der Zweiten Republik immer ein bissl Faschist sein, und es war oft nicht einmal böse gemeint. Man war Patriot.
Das ist der Grund, und er ist in Wahrheit ein Abgrund.
Man hat sich daran gewöhnt. Und, noch schlimmer, gewöhnte man sich bekanntlich an die Radikalisierung des Gemütlichen, an die Ausweitung der rhetorischen Kampfzone. Das begann mit Haider. Die einen sahen sich in ihrem Gemüt und ihrem Patriotismus angesprochen, die Kritiker kamen mit der „Nazi-Keule“. Aber Haider war kein Nazi, er war ein extremer rechter Abenteurer. Er brauchte bloß auf dem österreichischen Patriotismus aufbauen, der war faschistisch genug. Die Patrioten, die als Nazis bezeichnet wurden, waren entrüstet, sie waren keine Nazis, die Kritiker waren hilflos, denn sie verstanden nicht, dass sie mit Faschisten zu tun hatten, die keine Nazis waren und sein wollten, diese Hilflosigkeit führte zur Gewöhnung. Die Medien blickten geil nach rechts und nach links und nach rechts und nach links, das statistische Mittel war das Nicken.
Kickl, ihn muss man stoppen
Österreich wurde so nie mit seiner faschistischen Tradition fertig, hat sie gekannt, aber nie erkannt. Dann Strache. Haider war ein Abenteurer, Strache ein Parvenu. Solche Menschen stolzieren ihrem Scheitern entgegen. Jetzt Kickl. Er ist ein asketischer Gesinnungstäter. Das ist ein großer Unterschied. Solche Menschen machen keine Fehler, oder erst, wenn sie im Bunker sitzen infolge des Irrsinns ihrer Politik, wenn es zu spät und zu viel zerstört ist. Aber zunächst ist von ihm kein Knittelfeld und kein Ibiza zu erwarten. Ihn muss man stoppen. Nicht nur ihn, auch seine Steigbügelhalter.
Dazu ist es erforderlich, klarzumachen: Es geht nicht um „Nie wieder Auschwitz“, es geht nicht gegen Nazis, es geht hier in Österreich gegen Faschisten mit ihrer langen Herzwurzel in der Geschichte der Zweiten Republik, es geht darum, endlich klarzumachen, dass Faschismus nicht durch Patriotismus entschuldigt oder als verhandelbar angesehen werden darf, als „nicht so schlimm“, weil es ja kein Nationalsozialismus ist.
Es geht darum, klarzumachen, dass wir den Anspruch, den Anfängen zu wehren, lang versäumt haben, dass wir nicht mit Anfängen zu tun haben und schon lang nicht mehr mit Anfängern, sondern uns gegen ein bedrohliches Ende wehren müssen, das heißt, dass wir die Einsicht in Kompromisslosigkeit durchsetzen und diese Kompromisslosigkeit von allen anderen Parteien einfordern müssen. Und das heißt, dass es keine Toleranz gegenüber Intoleranten, keine demokratischen Kompromisse mit Feinden der Demokratie geben darf, im Namen eines Patriotismus, der in der Ersten Republik die Demokratie zerstört hatte, statt sie wehrhaft zu machen.
Und das heißt, dass wir die sogenannte Wirtschaft, ihre Verbände und ihre Gunmen in den Medien daran erinnern müssen, dass es ein verheerender Irrtum ist, Faschisten als nützliche Marionetten für die Durchsetzung ihrer Interessen zu halten.
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Der Autor:
Robert Menasse (* 1954), Autor, Essayist, lebt in Wien. Er erhielt zahlreiche Preise und Auszeichnungen, u. a. den Deutschen Buchpreis für „Die Hauptstadt“ und den Prix Littéraire des Lycées Français d’Europe.

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