Volker Weiß
Rechte Geschichtspolitik. Kampf um die Begriffe
FAZ 9. Februar 2025
Hitler war links, Lenin ein Liberaler: Welche Rolle spielt Geschichtspolitik in den Strategien der Neuen Rechten? Mit der Überschreibung der Vergangenheit beginnt der Angriff auf demokratische Gegenwart. Ein Interview.
Herr Weiß, als neulich in einem öffentlichen Gespräch mit Elon Musk die AfD-Politikerin Alice Weidel Hitler als politisch „links“ bezeichnete, hielten das viele für völlig durchgedreht. Hat es Sie erstaunt?
Nein, das war ja auch keineswegs der erste geschichtspolitische Ausfall von Frau Weidel. Sie hat vor einigen Jahren die NSDAP als Prekariatspartei bezeichnet, was ja in die gleiche Richtung geht: Der Nationalsozialismus wird zum Unterschichtenphänomen erklärt, was historisch und soziologisch falsch ist. Die NSDAP war weder links noch eine Unterschichtspartei. Letztendlich stellen diese Behauptungen nur eine Verlängerung von NS-Propaganda dar.
Inwiefern?
Es gibt Aussagen von Hitler und Goebbels, dass man ganz bewusst Symbole und Ästhetik der Arbeiterbewegung übernommen habe, um diese zu zerstören. Bei dieser Selbstdarstellung als Partei des einfachen Volkes gilt es zu vergegenwärtigen, dass die politische Rechte historisch erst mit dem 1. Weltkrieg die Notwendigkeit verstanden hatte, die Massen zu integrieren. Das war im Gegensatz zum alten Konservatismus das eigentlich Neue. Durch die Kriegsniederlage hatte man gelernt, dass eine Gesellschaft vor allem im Krieg nur dann funktioniert, wenn allen ein Angebot gemacht wird. Dieses Element der Massenintegration und die damit einhergehende Dynamik war zunächst ein Monopol der Linken, die Rechte lernte das jetzt. Das bessere Beispiel ist eigentlich Mussolini in Italien, der den Wechsel in Person vollzog.
Warum aber bedient sich Alice Weidel dieser Narrative? Das historische Wissen kann sie beim Publikum nicht voraussetzen. Worum geht es, um die provokante Formulierung?
Allein die Tatsache, dass wir jetzt darüber reden, zeigt bereits, wie gut diese Strategie aufgeht. Die Erzählung kann immer wieder aufgerufen werden, da sie in rechtskonservativen Kreisen längst verfestigt ist. Man schafft sich damit ein historisches Argument des Gegners vom Leib, und man erklärt den Gegner selbst zum Nazi. Wenn ich sage, die Nazis waren links, dann werden im Umkehrschluss die Linken zu Nazis, und der gesamte Antifaschismus, der der AfD ja seit der Gründung entgegenschlägt, wird damit ad absurdum geführt und langfristig auch entwertet. Dabei ist es ein doppeltes Spiel, weil man selbst mit bestimmten Elementen des Nationalsozialismus kokettiert: Schauen wir den Wahlkampfslogan an: „Alice für Deutschland“. Er ist eine Verballhornung und spielt mit dem Motto, das auf die Dienstdolche der SA eingraviert war: „Alles für Deutschland“. Ein Spiel, das man bewusst aufnimmt, bis hin zu diesem freakigen Gruß von Elon Musk.
Das war ein Hitler-Gruß?
Ja, aber er wird ihn wahrscheinlich als römischen Gruß bezeichnen – als eine imperiale Geste. Vielleicht will er, dass die Geste am Ende nicht mehr als Hitlergruß, sondern als Musk-Gruß gilt. Wir haben es mit permanenten Überschreibungen zu tun.
Diesen Überschreibungen, den Umdeutungen von Geschichte, haben Sie Ihr neues Buch gewidmet. Es heißt „Das deutsche demokratische Reich – Wie die extreme Rechte Geschichte und Demokratie zerstört“. Sie warnen darin auch davor, dass unter dem Motto der „Disruption“, ein Begriff, der jetzt in aller Munde ist, historische Gewissheiten zerstört werden, die in den vergangenen Jahrzehnten aufgebaut wurden. Warum ist es besonders jetzt, auch vor der Bundestagswahl, so wichtig, sich diese Umdeutungen von Geschichte vor Augen zu führen?
Weil das schon lange ein zentrales Mittel der Agitation ist.
Vonseiten der extremen Rechten und der AfD.
Ich wollte zeigen, dass es diese permanenten Überschreibungen, die wir im Moment erleben – Weidels Hitler-Spruch ist nur ein Beispiel dafür – im Segment der extremen Rechten, teilweise auch in konservativen Kreisen, seit Jahrzehnten gibt. Aber jetzt brechen sie aus diesem abgezirkelten Diskursraum aus und erreichen die Gesamtgesellschaft.
Zugleich haben wir es, wo es um Geschichte geht, immer mit Überschreibungen und Interpretationen zu tun. Das könnte man auch als einen normalen Vorgang bezeichnen. Worin liegt die Grenzüberschreitung?
Es gibt Regeln der Angemessenheit und Überprüfbarkeit, die gebrochen werden. So wird das Grundprinzip der rechten Propaganda, alles auf den Kopf zu stellen und Verwirrung zu stiften, auf dem Feld der Geschichtspolitik umgesetzt. Der nächste Schritt wird eine Rekonstruktion sein, also das, was man zerschlagen hat, in einer neuen Deutung wieder zusammenzuführen.
Wie kommt es zu diesem Prozess, dass die Umdeutungen der Rechten jetzt in die gesamte Gesellschaft hinüberdriften?
Sie treffen auf ein Bedürfnis, da die traditionellen politischen Gefüge ins Rutschen gekommen sind. In vielen Ländern, von Frankreich bis Skandinavien, hat sich die Parteilandschaft erneuert, und es sind neue Akteure aufgetreten, Gewissheiten verschwinden oder müssen neu ausgehandelt werden. Das ist die Stunde, in der die Rechten ihre Chance sehen. Die AfD ist dann angetreten, überwundene Inhalte in neuer Verpackung in die Gesellschaft einzubringen, sie haben verstanden, dass wir in einer Zeit leben, in der die alten Abwehrmechanismen nicht mehr funktionieren.
In Ihrem Buch beschreiben Sie, wie solche Umdeutungen funktionieren – nicht ohne Paradoxien. Besonders eindrücklich ist das bei der Russlandfreundlichkeit, die man bei den Rechten findet und die historisch erst mal gar nicht logisch ist.
Ich fand es sehr auffällig, dass sich Wladimir Putin in seinen Reden längst an eine Neuinterpretation des 2. Weltkriegs gemacht hat. In seiner Erzählung von der Sowjetunion bleibt nur das imperiale Element übrig.
Vom großrussischen, eurasischen Reich sprach Putin schon 2014.
Es gab diese imperiale Deutung früher auch innerhalb der Sowjetunion. Es ist interessant, wenn man an diesen letzten Putschversuch zurückdenkt, 1991, als Gorbatschow gestürzt werden sollte und sich Jelzin dann wie Lenin auf einen Panzer gestellt hat. Da wurde im Westen von „konservativen“ Kräften gesprochen, die versuchten, die KPdSU zu retten. Das waren genau die Kräfte, die vor allem den machtpolitischen Blick hatten und nicht wollten, dass ihr Großraum zerfällt. Heute hält man Stalin in Ehren und entsorgt Lenin in den Westen, Putin hat ihn zum westlichen Liberalen gemacht.
Die Sowjetunion wurde also umgedeutet in ein rein nationales, imperiales Projekt.
Das korrespondiert dann mit der Erzählung der Rechten in Deutschland, die den Nationalsozialismus nach links schieben. Beide Seiten definieren ihre Vergangenheit völlig neu, auf dieser Basis kann man sich dann wunderbar treffen.
Verstehe ich Sie dabei richtig, dass es bei diesen geschichtsphilosophischen, nationalistischen Überlegungen gar nicht immer um die Wirklichkeit geht, darum, ob das jetzt tatsächlich stattfinden wird, sondern vielmehr darum, das erst einmal zu sagen und durch diese Verschiebung neue Dynamiken freizusetzen?
Ja, und entsprechende Milieus anzufüttern und in Wallung zu bringen.
Offenbar gibt es da aber Akteure, die ihre Energie in diese historischen Verschiebungen stecken?
Es geht ihnen nicht darum, dass das gesamte Milieu der AfD über die historischen Hintergründe informiert ist. Es reicht, wenn es eine kleine Schicht Intellektueller in der AfD gibt, die die Strategien entwickeln und die Reden schreiben. Deren Konzeption wird dann in Schlagwörtern nach unten durchgereicht. Wie überall woanders auch kommen unten immer nur die Versatzstücke an.
Ein anderes geschichtspolitisches Feld der Umdeutung ist in Ihrem Buch Ostdeutschland. Sie führen eine Rede des Identitären Götz Kubitschek an, der 2015 in Leipzig das Volk zunächst als Souverän einführt, um den Inhalt dann Schritt für Schritt zur Blut- und Schicksalsgemeinschaft zu verschieben. 2019 war im brandenburgischen Wahlkampf auf AfD-Plakaten zu lesen: „Damals wie heute: Wir sind das Volk!“ Was ist das? Das Paradox einer antikommunistischen DDR-Nostalgie?
Auch hier gibt es Widersprüche, aber solange das funktioniert, sind sie kein Problem. Die DDR wird nostalgisch als intakte Gesellschaft mit bestimmten Sicherheiten und vor allem mit wenig Migration erinnert, als Ordnungsstaat, gleichzeitig beruft man sich auch auf die Bürgerrechtsbewegung. Und obwohl die Bürgerrechtsbewegung auch eine ökologische war, was die Rolle der damaligen Umweltbibliotheken zeigt, sind heute die Grünen das zentrale Feindbild. Da wird ein altes DDR-Ressentiment tradiert.
Und aus den Montagsdemonstrationen des Neuen Forums werden so die Demonstration für das „Deutsche Demokratische Reich“?
Das haben allerdings andere auch schon gemacht, der Montag war nach der Wende immer ein beliebter Demonstrationstag. Wirklich eskaliert ist es in meinen Augen nach der Krimbesetzung 2014. Damals stiegen Akteure wie Jürgen Elsässer in die sogenannten Friedensmahnwachen ein. Hier wurden Symbole und Parolen der alten Friedensbewegungen wiederverwertet, die in Westdeutschland relevant waren, die aber auch in die Oppositionsgeschichte der DDR gehörten. Das Resultat war schließlich dieser abstruse Ruf nach einem „Deutschen Demokratischen Reich“ als Synthese aus DDR und Nationalsozialismus.
„Sammlung im Osten“ heißt Ihr Kapitel. Ist der Osten für die extreme Rechte ein Modell, das ausgeweitet werden soll auf das ganze Land, also auf den Westen?
Es gibt Martin Sellners Idee, dass man sich erst mal sammelt, regeneriert, stabilisiert und dann in eine neue Offensive kommt. Entweder dadurch, dass man das Leben für alle, die nicht ins Raster passen, entsprechend ungemütlich macht. Das findet bereits statt, in Ostdeutschland ist inzwischen der Typus des Hooligan-Nazis aus den Neunzigerjahren wieder präsent. Und damit andere gar nicht erst kommen, wird Druck auf die bürgerlichen Parteien ausgeübt, Migration unmöglich zu machen. Wenn die Lage konsolidiert ist, will man sich dann selbst sukzessive auch im Westen weiter ausbreiten.
„Remigration“ ist ein Wort, das man jetzt auch in Österreich hört. Alice Weidel hat es auf dem AfD-Parteitag offensiv benutzt. So verwenden Akteure ein bestimmtes Vokabular, schreiben es durch Wiederholung fest und sagen gleichzeitig: Es sei ja nur ein Wort. Dann wird das Wort noch mal vorgeführt, in seine Bestandteile zerlegt und als Kampfbegriff verharmlost. Ist das die Strategie?
Das ist die klassische Strategie, wobei jede politische Strömung versucht, ihre Schlüsselwörter, die ja an die Inhalte gekoppelt sind, durchzusetzen. Sobald die Inhalte unter Druck geraten, kann man sich darauf zurückziehen, man habe lediglich einen ganz normalen Begriff benutzen wollen. Nach diesem Muster versuchte Frauke Petry in der Anfangsphase der AfD den Begriff des Völkischen zu rehabilitieren, der historisch eindeutig definiert und belastet ist. Sie argumentierte: Das Völkische habe ja mit Volk zu tun, das gehöre doch zusammen, sie verstehe gar nicht, wo das Problem sei. Es hat damals noch nicht funktioniert, aber heute geht es mit Begriffen wie „Remigration“, die nicht ganz so bekannt sind, leichter.
Könnten Sie sich vorstellen, dass etwa Mitglieder der CDU/CSU diesen Begriff bald auch verwenden, weil er so oft genannt worden ist, dass er sagbar wird, auch für Demokraten?
Durchaus, wir haben ja schon vor einigen Jahren erlebt, dass Dobrindt aus der CSU plötzlich von einer „Konservativen Revolution“ sprach.
Welche Möglichkeiten sehen Sie überhaupt, die politische Mitte zu stärken? Wir haben zum Teil einen großen Zuwachs von Leuten, die AfD wählen, wie lässt sich dem entgegenwirken?
Zunächst gilt es zu rekapitulieren, was passiert ist. Das versuche ich mit der Analyse der Agitationsmechanismen, um die notwendige Abgrenzung von der AfD zu stärken. Dann müssen wir sehen, wer wo mit welchem Ziel agiert.
Es geht also darum, zu beobachten, wo die Akteure sitzen, die die geschichtspolitischen Strategien in die Partei und ins politische Geschehen einspeisen?
Ja, aber das ist nicht immer sichtbar, da es sich hier mehr um die Referentenebene handelt, weniger um die Abgeordneten. Es geht ihnen darum, wie wir es schon bei Carl Schmitt lernen können, die Vorzimmer der Macht zu besetzen, um Kontrolle des Zugangs zur Macht zu haben. Hier kommen Strukturen wie das Schnellroda-Netzwerk um Kubitschek oder die Bibliothek des Konservatismus als Rekrutierungsfelder für Personal ins Spiel. Auch Erika Steinbach ist nicht zu unterschätzen, weil sie schon so lange im Geschäft ist. Als Präsidentin des Bundes der Vertriebenen in Deutschland zählte sie zum rechten Flügel der CDU, ehe sie schließlich zur AfD wechselte. Mittlerweile ist Steinbach Vorsitzende der AfD-nahen Desiderius-Erasmus-Stiftung, die wachsen und über viel Geld verfügen wird. Von hier aus können Schlüsselpositionen besetzt werden.
Alice Weidel sitzt nicht im Vorzimmer, sie betreibt die geschichtspolitischen Umdeutungen auf offener Bühne, von Parteitagen bis hin zu ihren Auftritten in Talkshows.
Weidel wurde lange für ein domestizierendes Element gehalten, weil sie aus der Wirtschaft kommt. Sie beruft sich auf Maggie Thatcher und Friedrich Hayek, spricht angeblich Mandarin, lebt in einer homosexuellen Beziehung. Doch all das ist kein Widerspruch zum Rechtsextremismus. Tatsächlich radikalisiert sie das wirtschaftsfreundliche Lager der Partei mit den gewollten Grausamkeiten gegenüber den Sozialsystemen, gegenüber dem Arbeitsrecht, gegenüber den Gewerkschaften. Sie hat überhaupt keine Probleme damit, die Rhetoriken des völkischen Flügels selbst zu verwenden, und passt hervorragend in das neue Bild des modernisierten Rechtsextremismus.
Und findet schützende Hilfe von Elon Musk. Das ist ja eine neue Ebene und eine Verbindung mit dem Hyperkapital.
Ironischerweise ist das Gerede von der nationalen Souveränität das Letzte, was einen Elon Musk interessiert. Daher fungieren Leute wie Kubitschek am Ende als nützliche Idioten, die hierzulande die letzten Reste des Liberalismus einreißen und das Feld frei machen für Akteure wie Musk. Intern wird das auch diskutiert, der Rechtsextreme Martin Sellner hat beispielsweise Bedenken, dass es mit einer völligen Zerstörung des Staates auch keinen Grenzschutz mehr geben wird. Doch gibt es in den USA bereits Debatten, ob sich nicht eine private Abschiebeindustrie aufbauen ließe.
Was bedeutet das?
Nach dem Ende der liberalen Ära des Kapitalismus soll eine autoritäre beginnen, in der Staaten durch Konzerne abgelöst werden. Und bei dieser Entwicklung leistet die extreme Rechte gerade Geburtshilfe.
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