Donnerstag, 25. August 2011

"Denn die Macht ist eine Geliebte, die ihre Jünger immer nur als Tote zurücklässt."
Ibrahim al-Koni

Samstag, 20. August 2011

mona hatoum




Krise und Verteilung


jens beckert und wolfgang streeck 
            Die nächste Stufe der Finanzkrise. Eine Verteilungsfrage
Welche Möglichkeiten hat die Politik noch, des Finanzsystems Herr zu werden? Die Lösung der Schuldenkrise ist eine Verteilungsfrage: Wer bezahlt, was längst ausgegeben wurde?
Von (FAZ) 20. August 2011

Die Finanzkrise ist mittlerweile in ihrer dritten Phase. In der ersten gerieten Banken wegen hoher Abschreibungen auf verbriefte Hypothekenanleihen in Schieflage und wurden, bis auf Lehman Brothers, durch Vergemeinschaftung ihrer Verluste gerettet. In der zweiten Phase wurden europäische Peripherieländer in einen Abwärtssog gezogen, weil das Niveau ihrer Verschuldung nicht mehr erwarten ließ, dass sie ihre Kredite würden zurückzahlen können. Eine Stabilisierung wurde durch Rettungspakete versucht, die von den jeweiligen Rentnern und anderen staatsabhängigen Gruppen sowie von den ökonomisch stärkeren Euroländern im Norden finanziert wurden und werden. In der dritten Phase haben sich nun die Zweifel an der staatlichen Solvenz auch auf Kernländer der Weltwirtschaft ausgeweitet, besonders die Vereinigten Staaten, aber auch Italien, zuletzt Frankreich. Damit geraten auch diese Länder in den Strudel.
Die verschiedenen Stufen der Krise lassen ein System des Vertrauensmanagements erkennen, in dem der Vertrauensverlust von Akteuren auf einer Ebene durch Garantien anderer Akteure höherer Vertrauensstufe ausgeglichen wird oder werden soll. Doch anstatt die Lage zu beruhigen, folgt den Garantien der Zweifel an der Vertrauenswürdigkeit der Helfer. Mittlerweile sind die Vertrauensreserven aufgebraucht.


Vertrauensverluste verschärfen die Krise in ihrer dritten Phase. Besonders dramatisch ist der Zweifel an der Sicherheit amerikanischer Staatsanleihen
Besonders dramatisch ist der Zweifel an der Sicherheit amerikanischer Staatsanleihen, nicht nur, weil die Größe des amerikanischen Staatsschuldenmarkts diesen unentbehrlich macht, sondern auch wegen der durch sie ausgelösten Unsicherheit an den Finanzmärkten insgesamt. Erkennbar wird dies an den sofort nach der Herabstufung durch Ratingagenturen einsetzenden Spekulationen gegen Frankreich. Deutschland wird ebenfalls betroffen sein, wenn es weitere Garantien übernimmt, die zu zusätzlicher Verschuldung und einer Mithaftung für die Schulden der anderen europäischen Länder führen. Der Aufkauf von Staatsanleihen durch die europäische Zentralbank und die Diskussion um Eurobonds bereiten ein deutsches Einspringen bereits vor.
Vier Lösungen für die Bewältigung der Schuldenkrise
Vier Jahre nach Beginn der Krise scheint kein Instrument zu ihrer Eindämmung gefunden. Vielmehr weitet sie sich auf immer mehr Staaten aus, bei erschöpften Mitteln der Vertrauensbildung. Die Politik macht einen überforderten Eindruck. Eine Neuregulierung der Finanzmärkte ist weitgehend ausgeblieben, das Bankensystem ist nach wie vor anfällig, die konjunkturelle Entwicklung erlahmt. Dies wirft die Frage nach der nächste Stufe der Finanzkrise auf. Dabei teilen wir nicht die Hoffnung auf eine baldige Beendigung der Krise. Diese würde eine glaubwürdige Sanierung der Staatshaushalte im Sinne einer dauerhaften Privilegierung der Forderungen der Gläubiger sowie ein Wiedererstarken des Wachstums in den europäischen Ländern und den Vereinigten Staaten erfordern. Dies ist jedoch nicht abzusehen. Stattdessen muss ins Auge gefasst werden, dass aus der ungelösten Finanzkrise eine soziale und politische Krise entstehen wird.
Für die Bewältigung der Verschuldungskrise stehen im Prinzip vier Lösungen zur Verfügung. (1) Durch Verringerung der Staatsausgaben und Wirtschaftswachstum wird der Schuldenstand verringert und damit das Vertrauen der Anleger in die Bonität der staatlichen Schuldner langfristig wiederhergestellt. (2) Durch Steuererhöhungen wird die Einnahmesituation der Staatshaushalte verbessert und werden die Schulden reduziert. (3) Die staatlichen Schuldner stellen den Schuldendienst ein und verhandeln mit den Gläubigern über einen Zahlungserlass. (4) Die Staaten geben das Ziel der Geldwertstabilität auf und betreiben eine Inflationspolitik, durch die ihre Schulden entwertet werden. Es lässt sich nun zeigen, dass alle vier Strategien Konsequenzen haben würden, die nicht auf das Finanz- und Wirtschaftssystem zu begrenzen sind und sehr wahrscheinlich in der nächsten Stufe zu sozialer und politischer Destabilisierung führen werden.
Lösung eins, die Ankurbelung des Wirtschaftswachstums durch Senkung der Staatsausgaben, ist die derzeit präferierte Strategie. Ihr Erfolg ist unwahrscheinlich. Durch Sparpolitik, wie sie Ländern wie Irland, Griechenland und Portugal verordnet wurde, fallen wichtige Nachfrageimpulse aus. Die Folgen lassen sich in Griechenland an der sinkenden Wirtschaftsleistung ablesen. Da durch das Schrumpfen der Wirtschaft Steuereinnahmen ausbleiben, bleibt auch der Abbau der Staatsverschuldung aus.
Tiefe Einschnitte in den Sozialstaat
Bleibt die Hoffnung, durch Strukturreformen die wirtschaftliche Wettbewerbsfähigkeit der betroffenen Länder mittelfristig zu verbessern. Das Gelingen solcher Reformen erscheint mehr als zweifelhaft - man schaue sich nur das Scheitern der jahrzehntelangen, extrem kostspieligen Bemühungen des italienischen Staats um eine Modernisierung des Mezzogiorno an. Ohne eine Oberschicht, die bereit ist, zu Hause unternehmerische Risiken einzugehen, statt ihr Geld im Ausland zu investieren, kann ein Land sich nicht entwickeln. Irland hat Strukturreformen außerhalb seines Bankensystems nicht nötig. Großbritannien sowie die Vereinigten Staaten leiden an den Folgen ihrer langfristigen Deindustrialisierung und ihrer politisch gewollten Konzentration auf jene Dienstleistungen, an denen der Kapitalismus 2008 beinahe zusammengebrochen wäre. In beiden Ländern würde eine Wiederherstellung der industriellen Wettbewerbsfähigkeit umfangreiche langfristige öffentliche Investitionen in Ausbildung und Infrastruktur erfordern, für die aber kein Geld vorhanden ist.
In allen betroffenen Ländern geht es um tiefe Einschnitte in den Sozialstaat, um Kürzungen bei Bildungs- und Gesundheitsausgaben sowie bei öffentlichen Investitionen. Diese Politik trifft in den Vereinigten Staaten auf seit langem stagnierende Reallöhne und eine Situation, in der der Lebensstandard durch private Verschuldung und eine ständige Aufstockung der von den Familien erbrachten Arbeitsstunden verteidigt werden musste. In Griechenland, Spanien und jetzt auch in England lassen sich die sozialen Konflikte erahnen, die aus der Sparpolitik erwachsen werden. In den Ländern, die Rettungsmaßnahmen in Anspruch genommen haben, kommt es außerdem zu einer sehr weitgehenden Beschneidung ihrer staatlichen Souveränität. Zentrale demokratische Institutionen der Wirtschafts- und Fiskalpolitik werden auf lange Zeit neutralisiert. Als Folge ist nicht auszuschließen, dass immer größere Teile der Bevölkerung sich von den verfassungsmäßigen Wegen politischer und wirtschaftlicher Interessenartikulation abwenden.
Die zweite Lösung bestünde in einer Erhöhung der Steuereinnahmen. In der Tat wäre dies vielleicht der einzig noch gangbare Weg - wäre er nicht politisch verbaut. Die Auseinandersetzung um die amerikanischen Schuldengrenze hat deutlich gemacht, dass sich das Mantra „no new taxes“ so verfestigt hat, dass Steuererhöhungen politisch unmöglich geworden sind, auch wenn das amerikanische Steuerniveau immer noch relativ niedrig ist.
Vermeidungsstrategien der Betroffenen
Dabei scheint es reichen Vermögensbesitzern wie den Brüdern Koch zu gelingen, populistische Bewegungen (Tea Party Movement) zu organisieren, die insbesondere die Republikaner daran hindern, sich auf höhere Steuern oder auch nur die Rücknahme von ursprünglich zeitlich befristeten Steuersenkungen einzulassen. In der Tat müssten Steuererhöhungen, wenn es einigermaßen gerecht zugehen sollte, wesentlich von obersten Einkommens- und Vermögensgruppen bezahlt werden. Diese Gruppe hat von den Steuersenkungen der letzten Jahrzehnte und nicht zuletzt von den Zinseinnahmen aus Investitionen in staatliche Rentenpapiere am meisten profitiert und sämtliche Einkommenszuwächse auf sich konzentriert.
Aber auch eine Erhöhung der Verbrauchssteuern erscheint des sinkenden Lebensstandards der großen Masse der Amerikaner halber unvorstellbar. Generell gilt, dass Steuererhöhungen zur Abzahlung von Schulden nie populär sein können, weil sie dazu dienen, bereits konsumierte Güter und Dienstleistungen zu bezahlen. Nicht zuletzt lassen sich angebotstheoretische Befürchtungen vorschieben, denen zufolge Steuererhöhungen insbesondere bei höheren Einkommen das Wirtschaftswachstum schädigen. Auch müsste mit Vermeidungsstrategien der Betroffenen gerechnet werden, insbesondere bei der Besteuerung von Vermögen.
Die dritte Lösung, Einstellung der Rückzahlung und teilweiser Schuldenerlass, wurde zuletzt von Argentinien verfolgt und führte dort zu einer vorübergehenden Entschuldung. Griechenland hat mit den letzten Beschlüssen der EU faktisch einen Teilerlass erhalten. Hierbei handelt es sich jedoch um eine relativ kleine Volkswirtschaft, bei der die Schulden zwar im Verhältnis zur Wirtschaftsleistung, nicht aber absolut hoch sind. Die Kosten des Schuldenschnitts können deshalb von anderen Staaten und, zu einem geringen Teil, den privaten Gläubigern getragen werden. Dies gilt nicht für die großen europäischen Volkswirtschaften oder die amerikanische. Eine Zahlungsunfähigkeit dieser Länder würde nicht nur deren Bankensystem, sondern auch das anderer Länder ruinieren. Eine Rettungsaktion wie die von 2008 würden die erschöpften Staatshaushalte wohl nicht mehr zulassen.
Abenteuerliche soziale Kosten
Auch wenn jedoch ein völliger Zusammenbruch der Weltwirtschaft infolge einer neuen Bankenkrise verhindert werden könnte, müsste mit einer sozialen Krise ungekannten Ausmaßes gerechnet werden. Große Teile der Staatsschulden werden nämlich von Pensionsfonds oder Versicherungen gehalten, die aus diesem Kapital Rentenzahlungen leisten und Lebensversicherungen auszahlen. Die Umorientierung hin zur kapitalbasierten Rente während der letzten Jahrzehnte hat eine wachsende Zahl von Rentenbeziehern in Abhängigkeit vom Kapitalmarkt gebracht. Nicht zuletzt hätte der Bankrott auch nur eines Staates zur sicheren Folge, dass die Refinanzierungskosten für die allermeisten Staaten steigen würden. Angesichts der enormen Höhe der gegenwärtigen Staatsverschuldung muss aber jede Erhöhung der Ausgaben für den Schuldendienst die Haushaltsdefizite weiter vergrößern und den Sparzwang verschärfen. Dies ist der Grund, warum die bislang weniger betroffenen Staaten alles tun, um Ländern wie Irland oder Griechenland den Staatsbankrott zu ersparen.
Viertens wäre denkbar, durch gewollte Inflation den realen Wert der Schulden zu senken. Zu diesem Zweck kann die Regierung Kredite bei der Zentralbank aufnehmen und so die Geldmenge über das Wachstum hinaus erhöhen. Auch diese Option ist jedoch mit abenteuerlichen sozialen Kosten verbunden. Eine Entwertung von Vermögen schmälert heute die Altersversorgung weiter Kreise der Bevölkerung. Hinzu kommt, dass durch Inflation die Realeinkommen all derer sinken, die ein fixes Einkommen als Beschäftigte oder als Empfänger von Transfereinkommen beziehen. Damit wäre fast die gesamte Bevölkerung betroffen. Zu rechnen wäre mit sozialen Protesten und mit Forderungen nach einer Indexierung von Löhnen und Sozialleistungen. Die Folge wäre eine möglicherweise „galoppierende“ Steigerung der Inflationsrate. Im Übrigen führt jede Geldentwertung zu höheren Refinanzierungskosten der Staatsschulden an den Märkten.
Eine Verteilungsfrage
Das bisherige Krisenmanagement war bemüht, Krisen durch Verlagerung der Probleme auf eine höhere Ebene mit größerem Vertrauensreservoir „aufzuheben“. Die Banken wurden von den Staaten gerettet; die kleinen Staaten von den großen. Diese Strategie kommt jetzt an ihr Ende. Der Vertrauensverlust ist mittlerweile überall angekommen. In der nächsten Stufe wird die Krise auf das soziale System übergreifen. Anzeichen finden sich bereits in steigender Arbeitslosigkeit, Auswanderung und Gewaltausbrüchen in besonders betroffenen Ländern. Egal, ob durch Sparpolitik, Schuldenschnitt oder Inflation, die bevorstehende massive Reduzierung von Vermögen und Einkommen wird Konflikte hervorrufen. Diese haben das Potential, auch das politische System zu erreichen, zunächst etwa durch stärkeren Zulauf zu populistischen Bewegungen wie dem Front National oder der Tea Party.
Es zeigt sich, dass die Lösung der Schuldenkrise wesentlich eine Verteilungsfrage ist. Wer zahlt für Ausgaben, die längst getätigt wurden, ohne je abgegolten worden zu sein, in einer Situation, in der die Gläubiger das Vertrauen verloren haben und ihr Geld zurückverlangen? Was da aussteht, ist die Wirtschaftsleistung eines ganzen Jahres, in einigen Ländern sogar weit mehr. Nachdem die Zuwächse des Sozialprodukts während der vergangenen dreißig Jahre vornehmlich den oberen Bevölkerungsschichten zugutekamen, stellt sich in der Schuldenkrise die Frage, ob und mit welchen Mitteln die Wohlhabenden versuchen werden, ihre Position auch um den Preis einer massiven sozialen und politischen Krise zu verteidigen. Wir können nicht ausschließen, dass sie die Schrift an der Wand auch weiterhin nicht verstehen wollen.

Freitag, 12. August 2011

Gier und Angst

christina von braun         ,Gier der Spekulanten' heißt es immer. Gier ist eine Sünde, die man beherrschen kann. Sie gehört zu den 7 Todsünden. Aber ich glaube, ,Gier' ist das falsche Wort. Ich meine, der Begriff ,Angst' ist viel besser geeignet, zu erklären, weshalb diese Menschen derart die Nullen zu vermehren versuchen. Wir sind ja konfrontiert mit einem Geld, das gar keinen materiellen Bezug mehr hat. Und es gibt einfach Grenzen, wie man diese vielen Millionen auf dem Konto umsetzen kann in materielle Werte. Also sind diese Menschen permanent bedroht von dieser Nichtigkeit - oder von diesem Nichtsein des Geldes. Sie löst diese Angst aus. Durch Multiplikation der Nullen auf dem Konto kann man sie nicht überwinden. Man kann sie nur strukturell überwinden. Man muss aus diesem System aussteigen.
Aber die Hoffnung auf Veränderbarkeit ist eigentlich gering. Das Einzige, worauf wir hoffen können, ist, sagen wir mal, das Geld sozusagen zu domestizieren. Gut wäre, wenn es uns gelingt, wenigstens eine gewisse Skepsis, Zweifel, Glaubenszweifel gegenüber dem Geld zu haben. Ich kann nur sagen, im Namen der Utopie und der utopischen Entwürfe sind viele Kriege geführt worden. Im Namen der Skepsis noch nie."

Donnerstag, 11. August 2011


Schuldenkult


walter benjamin    Der Kapitalismus ist vermutlich der erste Fall eines nicht entsühnenden, sondern verschuldenden Kultes. 

Mittwoch, 10. August 2011

London / Revolte

saskia sassen im interview  
STANDARD: Wie würden Sie das nennen, was in London gerade passiert? Sind das Plünderungen oder Demonstrationen?
Sassen: Das sind Aufstände der unterprivilegiertesten Menschen, deren einzige politische Ausdrucksmöglichkeit die Gewalt ist. Am Rand dieser Phänomene finden Sie Kriminalität, aber im Zentrum arme Menschen, die keine Möglichkeit haben, sich auszudrücken. Die Mittelklasse, die am Tahir-Platz demonstriert hat, hatte die schon, genauso wie die Protestierenden in Tel Aviv. Es ist spannend zu sehen, wie verschiedene Klassen verschiedene Instrumente haben, sich zu melden.

STANDARD: Man kann also Laptops stehlen und gleichzeitig eine politische Agenda haben?
Sassen: Nein, das meine ich nicht. Manches, was in London passiert, ist pure Kriminalität, aber: Diese Leute leben in einer der reichsten Städte der Welt mit unglaublicher Ungleichheit. Sie haben das Gefühl: Plündern ist ein Weg zu bekommen, was ihnen ohnehin zusteht und was sie sich nicht leisten können. Steine schmeißen, Autos anzünden, städtische Gewalt, das ist eine Art der Sprache. Menschen zerbrechen, was sie erwischen können. Wenn in Südamerika die Preise der Bustickets erhöht werden, attackieren die Leute den Busfahrer, nicht denVerkehrsminister. Sie können ihm nicht sagen: "Das trifft mich wirklich hart!" Es ist ein sehr tragischer Teil unserer Demokratie, dass die, die es am meisten brauchen, keine Ausdrucksmöglichkeit haben.
STANDARD: Was meinen Sie mit Ausdrucksmöglichkeit?
Sassen: Wie haben Politiker auf die Aufstände geantwortet? Was war die Sprache Camerons? "Ihr seid alt genug, zu wissen, dass das falsch ist und ihr bestraft werden müsst." Das ist die Sprache dessen, was die Griechen Tyrannei nennen. Die Führer sprechen zu ihren Untertanen, als wären sie kleine Kinder. Sie werden behandelt, als würden ihre Worte nicht zählen, als würde ihre Sprache nicht existieren.
STANDARD: Warum greifen diese Leute hauptsächlich kleine Shops in ihrer Nachbarschaft an?
Sassen: Das ist einerseits ein Zeichen extremer Entfremdung unter den Menschen, die in diesen Vierteln leben. Andererseits haben diese Leute keinen Zugang zu Londons Mittelschichtbezirken.
STANDARD: Wie sehr ist das ein britisches Problem?
Sassen: Es gibt eine Art systemische Korruption in unserem System. Die erfolgreiche Mittelklasse setzt die politische Agenda und lässt wenig Raum für die Probleme anderer. Wenn Angela Merkel und Nicolas Sarkozy entscheiden können, 700 Milliarden Euro vom Steuerzahler den Banken zu geben, ohne die Steuerzahler fragen zu müssen - dann hat das System ernsthafte Fehler. Der durchschnittliche EU-Bürger hat zu wenig politische Ausdrucksmöglichkeit.
STANDARD: Was haben diese Ausschreitungen mit anderen aktuellen Protestformen gemeinsam?
Sassen: Drei Punkte, erstens: Die Aufstände in der arabischen Welt, die täglichen Revolten in chinesischen Städte, die Proteste in Europa - sie alle finden auf der Straße statt. Das Zweite: Überall, in Tel Aviv, London, Syrien gibt es die Forderung nach Arbeit. Das ist nicht wie in anderen Jahrhunderten, bei Revolten gegen die Monarchie. Hier geht es nicht nur um Politik, sondern um Soziales. Das Dritte sind die sozialen Medien wie Twitter oder Facebook. Sie verleiht benachteiligten, armen Leuten, die Fähigkeit, andere zusammenzurufen. (Tobias Müller, DER STANDARD Printausgabe, 11.8.2011)