Mittwoch, 27. Dezember 2023

Die Klimapolitik nährt längst nur noch Illusionen

Worüber niemand sprechen will. Die Begrenzung der Erderhitzung auf zwei Grad ist längst Illusion, sagt der US-amerikanische Schriftsteller Jonathan Franzen. Was schlägt er vor?

Interview von Peter Unfried mit Autor Jonathan Franzen, taz 19.12.2023


»WAS PASSIERT, WENN WIR UNS DARAUF EINIGEN, DASS DAS EH NICHT MEHR HINZUKRIEGEN IST?«

taz FUTURZWEI: Jonathan Franzen, seit Ihrem Klimaessay sind vier Jahre vergangen, die Emissionen steigen weiter, wir tun faktisch viel zu wenig, aber rhetorisch immer noch so, als seien wir auf dem Weg, das Paris-Abkommen – möglichst 1,5, mindestens unter zwei Grad – einzuhalten. Wie sehen Sie inzwischen die Lage?

Jonathan Franzen: Das ist für mich ein Problem des Klimaaktivismus. Auf der einen Seite muss man das düsterste drohende Szenario entwerfen, auf der anderen Seite muss man sagen: Wir haben noch etwas Zeit. Einer meiner beiden besten Freunde aus dem College ist Geologiephysiker an der Columbia, wie auch seine Frau. Wie die miteinander reden, hat überhaupt nichts mit dem zu tun, was offiziell gesagt wird.

Was ist denn offizieller Sprech?

Naja, fahrt mehr Fahrrad, dann wird das schon, und so ein Unsinn.

Wann haben Sie sich selbst denn eingestanden, dass die Klimakatastrophe nicht mehr zur verhindern ist?

Nach der Lektüre von Fachliteratur und basierend auf meinem Vertrauen in die Experten, mit denen ich gesprochen habe, vor allem aber auch durch viele Gespräche mit dem Umweltwissenschaftler Dale Jamieson und dessen Buch Reason in a Dark Time machte mich dieses schreckliche Spannungsfeld zwischen der Klimarealität und dem, was als Realität beschrieben wurde, total sauer. Das war unehrlich, selbstverständlich in den meisten Fällen gut gemeint, aber manchmal auch nur, um den eigenen Job zu retten. Dadurch existiert eben auch eine weniger sympathische, selbsterhaltende Kultur in diesen Instituten und NGOs, die einem erzählen, dass es noch nicht zu spät ist und wir das Klimaproblem immer noch lösen können.

Die Sorge ist, dass gar nichts mehr geht, wenn das Zwei-Grad-Ziel aufgegeben würde.

There you go.

Aber ich traue der Regierung nicht, denn ich weiß, wie der Hase läuft.

Wie denn?

Die Regierung, die Unternehmen und die Gewerkschaften in Kalifornien hassen Solarmodule auf Dächern. Ich frage Sie: Was würde hier denn mehr Sinn machen als Solardächer? Okay, schwierig für Arme, die die finanzielle Vorleistung nicht aufbringen können. Das müsste man also fördern, sodass es für alle funktioniert. Aber die Energieunternehmen wollen das nicht. Sie sagen: Moment mal, die Leute wollen das Produkt selbst herstellen, das wir verkaufen? Das ist aber gar nicht gut. Die wollen die Produktionsmittel kontrollieren, das bedeutet also gigantische Installationen. Im Moment sind Solarinstallateure in der Regel keine Gewerkschaftsmitglieder, weshalb die Gewerkschaften die Großprojekte in der südkalifornischen Mojave-Wüste lieben, weil das neue Jobs garantiert.

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Was ist mit der Politik?

Politisch steht die Biden-Regierung unter immensem Druck, dass schnell was passiert, und deshalb klüngeln Regierung und mächtige Gewerkschaften und die noch mächtigeren Energieunternehmen zusammen, um Umweltrestriktionen zu umgehen. Das empfinde ich als Zumutung, weil Leute ihre Energie lokal produzieren und irgendwann auch selbst verteilen und in manchen Fällen speichern könnten.

Kein gutes Wort?

Naja, ich schätze die These hinter dem Green New Deal. Dass dieser nicht zwangsläufig politisch auf verlorenem Posten steht, denn die Transformation zu erneuerbarer Energie sollte eine Menge neuer Arbeitsplätze schaffen, und zwar gute mittelständische Arbeitsplätze. So gewinnt man hier Wahlen.

»When I hear climate, I think jobs« – einen besseren Slogan als Joe Biden wird man schwer finden, um postfossile Wirtschaft mehrheitsfähig zu machen.

Der Slogan ist gut, aber nicht, wie er umgesetzt wird. Es ist nicht zu fassen, dass die grünen Organisationen auch gegen Solardächer sind, was sie damit rechtfertigen, dass diese nur für die Mittelschicht bezahlbar seien. Die Energieunternehmen sind ganz und gar nicht arm und total glücklich mit dieser Politik. Weil sie die Armen viel mehr lieben als ich? Das glaube ich nicht.

Die öffentliche Diskussion wird im Moment meist populistisch und an den großen Fragen vorbeigeführt. Wie entsteht eine Kultur, in der ernsthaft über die zentralen Probleme geredet wird?

Also für diese Art Perspektivblick bin ich nicht zuständig, schon gar nicht für positive Visionen.

That‘s a shame.

Für die immer katastrophaleren Klimaschocks kann ich ziemlich sicher neue Gefahren vorhersagen und auch, dass das Kommende die gegenwärtige Flüchtlingskrise aussehen lassen wird wie die gute alte Zeit.

Wir werden aktiv gegen Klimaflüchtlinge, aber nicht, um Solarmodule aufzustellen und andere Grundlagen dafür zu schaffen, dass Menschen nicht fliehen müssen?

Also, ich weiß nicht, wie das in Deutschland ist, aber wozu soll man in Kalifornien Kohle verbrennen, um Energie zu erzeugen, wenn es so viel Sonne gibt?

Das ist die herrschende Kultur und Machtstruktur, an die wir uns gewöhnt haben.

Nochmal: Ich bewerbe mich nicht um ein politisches Amt, und mein Publikum erwartet von mir auch nicht, gesagt zu bekommen, was es tun soll. Meine Stärke liegt vielmehr darin, die Situation zu erfassen, in der wir uns befinden. Ich pflege eine bestimmte Form von intuitiver politischer Analyse, etwa den Vormarsch nationalistischer Populisten, die den Leuten erzählen, dass ihnen die Einwanderer die Butter vom Brot nehmen. Das geht Hand in Hand mit den Rechten, von denen die meisten sehr genau über die Klimakrise Bescheid wissen und die ihre eigenen schrecklichen Gründe haben, so zu tun, als seien das alles Falschmeldungen. Und die in einer allgemeinverständlichen Sprache den Leuten erzählen, alles sei außer Kontrolle geraten, die Infrastrukturen brächen zusammen und Millionen und Abermillionen wollen in ihr Land rein ... haben Sie den Vogel gesehen?

Deutsch: Wann hören wir auf, uns etwas vorzumachen? Gestehen wir uns ein, dass wir die Klimakatastrophe nicht verhindern können (Rowohlt 2020)

Hab ich verpasst.

Jetzt ist er da hinten, dieser gelbe.

Wie kann man verhindern, dass jeder die Klimakrise für seine Zwecke instrumentalisiert?

Wie gesagt, ich mache solche Vorhersagen nicht. Aber wenn Sie mir die Pistole auf die Brust setzen und mich fragen, was ich will: Ich will ein ehrliches Gespräch mit allen Interessenvertretern. Es wäre auch interessant, was AOC zu sagen hat ...


... die Abgeordnete des Repräsentantenhauses, Alexandria Ocasio-Cortez, Gesicht der links-emanzipatorischen Milieus ...

... zum Beispiel zu Einwanderung, wenn in 15 Jahren große Teile der lateinamerikanischen Länder in Äquatornähe unbewohnbar sind. Die Leute wollen darüber nicht reden und sagen deshalb ganz schnell: Deshalb brauchen wir den Green New Deal.

Geht das gegen mich?

Können wir mal aufhören so zu tun, als ob Dinge plötzlich wie durch ein Wunder besser werden, und zugeben, dass mit großer Wahrscheinlichkeit die Dinge ganz schnell viel schlechter werden? Was machen wir dann? Was ist als US-Bürger politisch und moralisch zu tun, wenn dieses Land noch einigermaßen klarkommt, aber ein großer Teil der Welt nicht mehr? Das ist eine Frage, über die niemand sprechen will. Die Rechte tut so, als hätten wir nur ein, zwei schlechte Sommer. Und die Linke tut so, als würde man das Problem los, wenn man nur schön Fahrrad fährt und mehr Bäume pflanzt.

Und Sie setzen auf ein ehrliches Gespräch aller Interessenvertreter?

Wenn wir diese Repräsentanten für zwei Wochen in einen Raum bekämen, dann wäre ich auf das Ergebnis gespannt. Die bittere Realität ist nicht nur das wachsende Klimaproblem, sondern die Erschöpfung von Ressourcen und ein ökonomisches Modell, das auf einer weiteren Ausschöpfung von Ressourcen beruht. Darüber will niemand sprechen. Und dann gibt es noch zwei, drei, die sagen: Und was ist mit der Natur?

Sie, zum Beispiel. Sie haben erfolgreiche Klimapolitik interessanterweise genau in dem Jahr abgeschrieben, als bei mir und vielen neue Hoffnung aufkam: 2015 als das völkerrechtliche Übereinkommen von Paris getroffen wurde. Wie das?


Das war das Jahr, in dem ich Dale Jamiesons Buch las. Danach wollte ich mehr wissen und begann damals auch mit Wissenschaftlern zu sprechen. Ich hörte von so vielen aus der Naturschutzszene, dass die Ressourcen zu Ende gingen und alles nur noch Klima, Klima, Klima sei. Und man konnte ja bei genauer Lektüre des Pariser Abkommens sehen, dass das hübsche Worte waren. Aber entscheidend war Dales Buch, das in fünf Aspekten beschreibt, dass der Klimawandel ein Problem ist, das Menschen nicht lösen können.

Weil es keine Weltgesellschaft gibt, die kollektiv handeln könnte?

Ja. Aber auch aus kognitiven und ökonomischen Gründen. Es ist das eine, zu sagen, dass Kapitalismus schlimm ist, aber es gibt keinen unmittelbaren Ersatz

Wir haben immer noch Kommunismus.

Genau, Kommunisten, diese Freunde der Umwelt.

Die Ironie trifft es, ist aber etwas billig.

Mag sein, aber China kehrt auf eine Weise zum Hardcore-Kommunismus zurück, entwickelt kontinuierlich Kohlekraftwerke, zeigt außerdem ideologisch gefärbte Unfähigkeit, mit den plötzlich auftretenden ökonomischen Problemen umzugehen. Aber klar, wir können immer auch auf den Kommunismus zurückgreifen.

Let‘s not do it.

Let‘s not do it. Ich bin allergisch gegen Ideologien jeder Art.

Die sind überall.

Ich weiß, die kommen in allen möglichen Ausführungen, und mir gefällt keine davon. Um aber auf Ihre Frage zurückzukommen, was wir kulturell tun können, ich weiß nicht, ob ich Ihnen hier wirklich helfen kann, Peter.

Ihr Essay „Wann hören wir auf, uns etwas vorzumachen?“ hat mich mehrfach durchgeschüttelt, aber nichtsdestotrotz führe ich nach Ende der Lektüre stets mein gewohntes Leben und Denken weiter.

Das wird bei Dale erklärt, warum das auch Vorteile hat: weil wir ein Leben und Beziehungen zu führen haben und es Dinge gibt, die wir lieben, die uns wichtig sind – und das ist auch gut. Das geht den meisten Leuten so. Die jungen Aktivisten kritisieren die Boomer oder eigentlich so ziemlich jeden außer sich selbst, dass sie nicht 24/7 daran denken, was zu tun ist, um den Planeten zu retten. Daran wollen die meisten nicht denken. Sie denken: Ich sollte vielleicht mehr mit meinem Sohn lesen, irgendwie liest der nicht.

Was ein echtes Problem ist.

Ja, aber eben ein anderes Problem. Oder ich fange an, darüber nachzudenken, dass wir vielleicht kein Rindfleisch mehr essen sollten. Das sind diese kleinen Sachen, die im täglichen Leben auftauchen und die sind wichtig. Wir würden gern in Zeiten leben, in denen es nur um diese Dinge geht, aber leider ist das nicht so. Und trotzdem wollen wir, dass es nur darum geht.

Wir haben eine neue Obsession in Deutschland: Frührente. Aber nicht um die Welt zu retten, sondern um endlich – das ist das treibende Gefühl des Mittelklassen-Individualismus – Zeit für uns selbst zu haben, um das eigene Leben durch noch mehr Ausstellungen, Theater, Bücher anzureichern ...

Oder endlich dieses Jahr in Italien zu verbringen.

Genau.

Es gibt die persönliche Ebene der kleinen Dinge, die einen Menschen bewegen und es gibt das große Ganze. Aber dazwischen gibt es noch etwas, was genau vor deinen Augen ist. Bei den schrecklichen Waldbränden haben wir vor drei Jahren hier in der Stadt etwa 1.500 Gebäude verloren. Daraufhin kam erst Trump und behauptete, das sei keine Folge des Klimawandels, sondern des schlechten Managements des Staates Kalifornien, was ziemlich dumm war, da er als Präsident zuständig für die Bundeswälder war, in denen die meisten Feuer brannten. Doch es wurde noch schlimmer, als Kaliforniens Gouverneur Gavin Newsom ankam und meinte: Der Klimawandel kommt und es wird schrecklich, wenn wir nichts dagegen tun, deshalb werden wir hier in Kalifornien bis 2035 nur noch Elektroautos haben.

»ES GIBT ZWEI ARTEN VON LINKEN: DIE ALTMODISCHEN LYNDON-JOHNSON-LINKEN UND DIE SANTA-CRUZ-LINKEN.«

Was ist daran schlimm?

Warum sprach er nicht das eigentliche Problem an? Warum sprach er nicht davon, dass es künftig ein besseres Forstmanagement braucht, dass Programme aufgelegt werden müssen, um solche katastrophalen Brände zu vermeiden und die Menschen hier besser davor zu schützen? Das ist teuer, klar, aber es ist auch sehr teuer, aus Kalifornien in 15 Jahren ein hundertprozentiges Elektroautoland zu machen.

Warum tat er es nicht?

Das interessiert ihn nicht, weil er mit dem Klimawandel punkten will und die Waldbrände politisch benutzt, um diese Agenda voranzubringen. Und dann will er auch nicht zugeben, dass wir wirklich ein Problem mit dem Forstmanagement haben, weil Trump das ja gesagt hatte. Es stimmt selbstverständlich, dass Klimawandel diese Feuer noch begünstigt, aber das ist nicht das einzige Problem. Warum reden wir nicht über das, was wir jetzt in der Gegenwart brauchen? Eine bessere Forstwirtschaft.

Vermutlich, weil man damit keine Wahlen gewinnen und eines Tages Präsident werden kann?

Ich weiß es nicht. Wir hatten vor Newsom einen Gouverneur namens Jerry Brown. Ein großartiger Mann, problematisch, aber auch großartig. Ich würde gern glauben, dass Jerry Brown das Managementproblem nicht ignoriert hätte.

Wie kommen Sie darauf?

Er wurde Politiker, weil sein Vater Politiker war, okay. Aber er war auch immer einer, der dachte: Ich muss nicht nur politischen Bullshit machen.

Ihr Punkt ist jedenfalls, vom Abstrakten ins Konkrete zu kommen und die Gegenwart real zu gestalten, statt globale und abstrakte Ziele als Handlungsersatz zu verschärfen?

Es gibt das Globale und das Lokale. Unser Leben besteht zum Großteil aus Letzterem, und ich denke, dass hier die wichtigsten Dinge stattfinden, über die wir nachdenken sollten. Wie ich sagte: Solarmodule auf dem Dach sind zumindest in Kalifornien einfach sinnvoll. Der einzige Grund, warum man es nicht will: Es ist politisch schwieriger umzusetzen. Was auch der Grund ist, warum ich kein Politiker bin.

Es ist bei unsereins kulturell eingeübter, darüber zu reden, was Politiker tun müssten, als selbst zu handeln.

Stimmt. Das ist der Grund dafür, dass ich Sie hierher in das Homeless Garden Project gebeten habe: Das ist ein lokales Projekt und das schätze ich an Darrie Ganzhorn, der Leiterin hier: Sie redet nicht nur, sondern sorgt genau an diesem Ort, an dem wir jetzt sitzen, für eine Veränderung.

Wird das als politisch links verstanden?

Es gibt zwei Arten von Linken: die altmodischen Lyndon-Johnson-Linken, die sagen, wir brauchen ein Regierungsprogramm und müssen Billiarden dafür ausgeben. Und die Santa-Cruz-Linken, die finden, dass alles lokal passieren sollte.

Das ist konkret, aber als Weltverbesserungstheoretiker kommt uns so ein lokales Gartenprojekt einfach mickrig vor.

Mag sein, aber es gibt nun mal keine globale Community. Nordkorea gehört zu keiner Community, zu der ich gehöre. China ehrlicherweise auch nicht. Man muss kleiner werden, wenn man eine Community sucht, in der die Leute sich wirklich gegenseitig respektieren und versuchen, die Vision eines besseren Ortes zu leben.

Womit ich intellektuell beim Fokussieren auf das Lokale nicht klarkomme: Menschen, die sich auf eine überschaubare geografische Heimat beziehen, kritisieren wir Weltbürger gern als nationalistisch und selbstbezogen.

Das ist nicht selbstbezogen. Anders herum: Wem ich überhaupt nicht traue, sind Leute, die die ganze Menschheit lieben. Die ständig sagen: Ich liebe den, ich liebe den und den liebe ich auch.

Sie sagen, nicht nur die Rechte lügt, wenn sie den Klimawandel leugnet, sondern auch die Linke, wenn sie behauptet, dass das Problem noch zu lösen sei. Klimaaktivisten haben Sie dafür gehasst.

Naja, drei Tage lang auf Social Media. Aber ja, manche Leute haben das als bedrohlich empfunden und mich ganz schnell als privilegierten weißen Mann gelabelt.

Das ist eine identitäre Denkreduzierung und außerdem in Ihrem Fall richtig.

Ja, es ist richtig. Aber insgesamt habe ich immens positive Reaktionen bekommen, und bekomme sie immer noch. Wissen Sie eigentlich, dass ich den Essay, über den wir reden, ursprünglich als Rede geschrieben habe, die ich an diesem Ort hier gehalten habe?

Nee.

Zehn Meter von wo wir sitzen, stellen sie jedes Jahr ein Zelt auf und machen ein Fundraising-Dinner, wirklich gutes Bio-Essen. Darry fragte regelmäßig, ob ich dafür eine Rede halten könne und irgendwann sagte ich zu und schrieb diesen Essay. Und hinterher kamen die Leute und sagten: Danke, dass Sie das gesagt haben. Die Leute sind nicht dumm. Wenn man ihnen im Jahr 2000 sagt, dass wir noch zehn Jahre haben und dann 2010 erneut und 2020 ein weiteres Mal, dann werden sie nachdenklich.

Sie rechnen nach?

Ja. Hatten wir im Jahr 2000 noch dreißig Jahre oder haben wir jetzt eben keine zehn Jahre mehr, um alles zu ändern – was denn nun? Das ist das Problem, wenn man nicht die Wahrheit sagt. Es macht die Leute erst skeptisch und dann zynisch. Obwohl du ihnen die Lüge eigentlich erzählst, um sie zum Handeln zu bringen, fällt dir die Unehrlichkeit auf die Füße und führt dazu, dass die Wahrscheinlichkeit noch geringer wird, dass sie handeln.

»DAS IST DAS PROBLEM, WENN MAN NICHT DIE WAHRHEIT SAGT.«

Sie vergleichen das mit einer Religion, bei der die Botschaft lautet: Hört auf zu sündigen und wir vermeiden alle die Hölle. Aufklärung ernst nehmen, hieße zu sagen, es gibt keine Hölle, aber auch kein Paradies. Wir kommen mit Ratio voran, im Deutschen: Vernunft?

(Franzen wechselt ins Deutsche.)

Wir hätten das Gespräch auch auf Deutsch führen können.

Darauf hatte ich eigentlich gehofft.

Für ein Interview wie dieses aber lieber doch nicht.

(Wechselt ins Englische zurück.)

Es gibt Vernunft, und dann gibt es ein Wort, für das ich keine genaue deutsche Übersetzung kenne: kindness.

Nettigkeit, Freundlichkeit, Zugewandtheit, Sanftheit, Hilfsbereitschaft, Fürsorglichkeit?

Das trifft es alles nicht genau.

Was ist Ihr Punkt?

Selbst wenn man zu dem Schluss kommt, das Problem nicht lösen zu können, kann man doch versuchen, kind zu sein, die Leute gut und respektvoll zu behandeln und denen zu helfen, die Hilfe brauchen, wenn es in der eigenen Macht liegt. Das betrifft die menschliche Community, die Tierwelt, die Natur.

In „Wann hören wir auf, uns etwas vorzumachen?“ sagen Sie: Wir müssen Hoffnung neu definieren. Ist das jetzt Ihr Weg?

Seit ich den Essay schrieb, denke ich über kindness nach, weil es die Antithese ist zu dem, was auf Social Media passiert: Dort regiert das Gegenteil. Wassili Grossman hat sein Buch Leben und Schicksal nach den schlimmsten Jahren Europas geschrieben: dem Nationalsozialismus und dem Stalinismus. Er hat alles erlebt und alles überlebt. Kommunismus, ein Alptraum, Faschismus, ein noch größerer Alptraum.

Was war seine Erkenntnis?

Grossman hatte keine politische Lösung, deshalb schrieb er dieses gewaltige Buch, dessen Kern lautet: Was können wir tun? Wir können versuchen, kind zueinander zu sein.

Wohlwollend nachsichtig?

Das klingt verrückt und etwas christlich, aber das würde ich auf die Liste der Dinge nehmen, die wir immer noch tun können: kind miteinander umzugehen.

Gütig?

Donnerstag, 30. November 2023

Grundsätze der Solidarität

Die derzeitige Situation, die durch den an Grausamkeit nicht zu überbietenden Angriff der Hamas und Israels Reaktion darauf geschaffen wurde, hat zu einer Kaskade von moralisch-politischen Stellungnahmen und Demonstrationen geführt. Wir sind der Auffassung, dass bei all den widerstreitenden Sichtweisen, die geäußert werden, einige Grundsätze festzuhalten sind, die nicht bestritten werden sollten. Sie liegen der recht verstandenen Solidarität mit Israel und Jüdinnen und Juden in Deutschland zugrunde.

Das Massaker der Hamas in der erklärten Absicht, jüdisches Leben generell zu vernichten, hat Israel zu einem Gegenschlag veranlasst. Wie dieser prinzipiell gerechtfertigte Gegenschlag geführt wird, wird kontrovers diskutiert; Grundsätze der Verhältnismäßigkeit, der Vermeidung ziviler Opfer und der Führung eines Krieges mit der Aussicht auf künftigen Frieden müssen dabei leitend sein. Bei aller Sorge um das Schicksal der palästinensischen Bevölkerung verrutschen die Maßstäbe der Beurteilung jedoch vollends, wenn dem israelischen Vorgehen genozidale Absichten zugeschrieben werden.

Insbesondere rechtfertigt das Vorgehen Israels in keiner Weise antisemitische Reaktionen, erst recht nicht in Deutschland. Es ist unerträglich, dass Jüdinnen und Juden in Deutschland wieder Drohungen gegen Leib und Leben ausgesetzt sind und vor physischer Gewalt auf der Straße Angst haben müssen. Mit dem demokratischen, an der Verpflichtung zur Achtung der Menschenwürde orientierten Selbstverständnis der Bundesrepublik verbindet sich eine politische Kultur, für die im Lichte der Massenverbrechen der NS-Zeit jüdisches Leben und das Existenzrecht Israels zentrale, besonders schützenswerte Elemente sind. Das Bekenntnis dazu ist für unser politisches Zusammenleben fundamental. Die elementaren Rechte auf Freiheit und körperliche Unversehrtheit sowie auf Schutz vor rassistischer Diffamierung sind unteilbar und gelten gleichermaßen für alle. Daran müssen sich auch diejenigen in unserem Land halten, die antisemitische Affekte und Überzeugungen hinter allerlei Vorwänden kultiviert haben und jetzt eine willkommene Gelegenheit sehen, sie ungehemmt auszusprechen.

Nicole Deitelhoff, Rainer Forst, Klaus Günther und Jürgen Habermas

7. Oktober ist nicht der Beginn der Geschichte der Gewalt

Philosophin Judith Butler spricht im Interview mit der Frankfurter Rundschau über moralische Argumente in Bezug auf den Nahost-Konflikt und warum die Hamas bestraft und Israels Krieg verurteilt werden muss.

Judith Butler ist weltweit eine der bekanntesten Persönlichkeiten im Feld der Philosophie. In Deutschland gibt es eine breite Anhängerschaft besonders unter Studierenden, das belegt der Zuspruch bei ihren Auftritten an deutschen Universitäten. Aufgrund ihrer Haltung zu Israel ist Judith Butler aber in den letzten Jahren in die Kritik geraten, besonders in Deutschland. Gestern erklärte sie daher in einigen kurzen Statements für die Wochenzeitung „Die Zeit“, dass sie Angst habe, sich in Deutschland öffentlich zu zeigen, da sie massiv bedroht werde.

Sie ist Mitunterzeichnerin des Briefes „Philosophy for Palestine“, der aufgrund einer mangelnden Inblicknahme des Terroranschlags der Hamas am 7. Oktober kritisiert worden ist. Unter anderem kritisierte die Politologin Sheyla Benhabib den offenen Brief in scharfer Form. Wir hatten die Gelegenheit, Judith Butler einige Fragen zu stellen, um ihre Position, die genau wie die der anderen Interviewpartner:innen nicht die Position der Frankfurter Rundschau wiedergibt, darzustellen, so dass die Leserschaft sich selbst ein Urteil über den komplexen Sachverhalt bilden kann.

Philosophin Judith Butler im Interview – „7. Oktober ist nicht der Beginn der Geschichte der Gewalt“

Professor Butler, wie bewerten Sie den Terrorangriff der Hamas auf Israel und die israelische Reaktion im Gazastreifen?

Ein Grund, warum es für mich schwierig ist, der deutschen Presse Interviews zu geben, ist, dass es nicht viele gemeinsame Annahmen zwischen dem deutschen Diskurs und dem Rest der internationalen Gemeinschaft gibt. Viele Deutsche reagieren reflexartig, indem sie Israel bedingungslos unterstützen, aus Angst, dass jede Kritik ein Zeichen von Antisemitismus sein könnte. Weil es wichtig ist, seine Unterstützung für Israel zu signalisieren, stellt man sich die Frage: Wer ist schuld? Und dann muss die Antwort lauten: die eine oder die andere Partei. Wenn man sich für die eine Seite entscheidet, ist man ein Antisemit, wenn man sich für die andere Seite entscheidet, hat man sich erfolgreich gegen den Vorwurf des Antisemitismus gewehrt.

Bei allem Respekt möchte ich also darauf hinweisen, dass wir, wenn wir fragen, wer die Schuld trägt, alle Schäden und alle Akteure benennen müssen, auch wenn die Schäden nicht alle gleich sind, auch wenn nicht alle Akteure die gleiche Macht ausüben.

Das heißt?

Die an der israelischen Zivilbevölkerung begangenen Gräueltaten waren entsetzlich und können weder hingenommen noch rationalisiert werden. Aber wenn wir uns für die Gründe interessieren, warum es zu dieser Gewalt kam, sollten wir in der Lage sein, die Geschichte zu rekonstruieren, um sie besser zu verstehen. Historisch zu verstehen, warum es zu dieser Gewalt kam, ist nicht gleichbedeutend mit der Billigung von Gewalt. Eine Geschichte darzustellen und ein moralisches Urteil zu fällen, ist nicht dasselbe.

Wenn wir aber sagen, dass wir nur ein moralisches Urteil wollen und dass die Geschichte in dieser Angelegenheit nicht wichtig ist, dann haben wir eine Entscheidung getroffen, unsere Welt und ihre Entstehung nicht zu verstehen. Das ist eine gefährliche Entscheidung, wenn Unwissenheit und Slogans an die Stelle von historischen Untersuchungen und klaren moralischen Argumenten treten. So wie Sie diese Frage stellen, beginnt das Ereignis am 7. Oktober. Aber der 7. Oktober ist nicht der Beginn der Geschichte der Gewalt.

Sondern?

Wenn wir nur daran interessiert sind, zu klären, wer für die Anschläge am 7. Oktober verantwortlich ist, dann beginnen wir die Geschichte an diesem Tag. Wenn wir aber verstehen wollen, wie es zu diesen Anschlägen kam, dann müssen wir viel früher mit der historischen Erklärung beginnen. In der Tat müssten wir die letzten 75 Jahre verstehen, die Nakba, den Verrat an den Palästinensern durch das Oslo-Abkommen, die Geschichte der Bombardierungen des Gazastreifens und die Gewalt der Siedler gegen palästinensische Dörfer. Jetzt, wo ich diese Liste anbiete, könnte man sagen: Siehst du, Butler rechtfertigt die Gewalt, aber nein, ich versuche, eine Geschichte zu kontextualisieren, die nicht am 7. Oktober beginnt. Wenn wir wissen wollen, wer für den 7. Oktober verantwortlich ist, dann nennen wir die Hamas.

Wenn wir wissen wollen, was die Gewalt in der Region reproduziert, um der Gewalt endgültig Einhalt zu gebieten, dann müssen wir mit den Historikern zusammenarbeiten, um die selbsternannte Kolonisierung dieser Länder durch die politischen Zionisten, die Bedingungen, unter denen der Staat Israel gegründet wurde, und die Geschichte der Enteignung, Entrechtung, Inhaftierung, Belagerung und Bombardierung zu verstehen. Wenn wir Frieden für die Region und eine Zukunft anstreben, in der alle Bewohner des Landes unter Bedingungen der Gleichheit und Freiheit leben, dann müssen wir gemeinsam neu darüber nachdenken, wie sich Staatsgebilde im Laufe der Zeit verändern können und sollten.

Hysterische Debatte

 Als Mitunterzeichnerin des Manifests "Philosophy for Palestine" ist die US-Philosophin Nancy Fraser jüngst in die Kritik geraten: Verhindert das Eintreten für die palästinensische Sache die Empathie mit den israelischen Opfern der beispiellosen Terrorattacke vom 7. Oktober? Israels Eingreifen in Gaza wird von Fraser, Judith Butler und rund 200 anderen Mitunterschreibenden als "sich entfaltender Genozid" bezeichnet. Anstatt Empathie mit den Opfern des Anschlags zu bekunden, wird Israels Rolle als "Aggressor" hervorgehoben und ihm gegenüber ein kulturell-akademischer Boykott heraufbeschworen.

STANDARD: Verstehen Sie Einwände gegen "Philosophy for Palestine" wie denjenigen von Seyla Benhabib? Solcher, die das Leid der Palästinenser sehen und zu beendigen wünschen und dennoch die beispiellose Barbarei des Massakers vom 7. Oktober nicht einfach beiseitewischen?

Fraser: Die türkischstämmige US-Philosophin Seyla Benhabib ist eine langjährige Freundin von mir. Ihre Antwort auf "Philosophy for Palestine" hat mich aus einer Reihe von Gründen enttäuscht. Zunächst halte ich die Art und Weise für sehr unangebracht, in der sie das Manifest wiedergibt. Unser Statement verkleinert in keiner Weise die Brutalität und abstoßende Gewalt des Anschlags, den Hamas-Attentäter am 7. Oktober begangen haben. Benhabib stellt fälschlich fest, wir würden die Hamas unterstützen – als hätte diese Organisation die Vorreiterrolle bei der Befreiung Palästinas inne. Nichts dergleichen wird von uns behauptet.

STANDARD: Wie kann es dann zu solchen Auffassungsunterschieden kommen?

Fraser: Das Ganze erscheint mir als Symptom einer Hysterie. Das erschwert die Führung einer angemessenen Debatte. Statements wie dasjenige von Benhabib zerstören die Hoffnung auf einen sofortigen Waffenstillstand. Nur ein solcher könnte aber den Auftakt bilden zu politischen Verhandlungen. Es muss das Ziel sein, eine Form der Autonomie und politischen Selbstbestimmung für Palästina zu finden. Ob das nun einen selbstständigen Staat meint, der an der Seite Israels existiert, oder eine Zweistaatenlösung in Form einer Föderation: Ich halte eine ganze Reihe von Modellen für denkmöglich. Wir, die Unterzeichner, lehnen kein einziges von ihnen von vornherein ab. Trotzdem bedarf es eines Waffenstillstands und des sehr ernsthaften Willens, einen solchen Prozess unverzüglich in die Wege zu leiten.

STANDARD: Auf welcher Grundlage soll das geschehen?

Fraser: Nicht auf derjenigen der Abrahams Accords Declaration von 2020. Eine Normalisierung der Beziehungen zwischen Israel und Saudi-Arabien, die die Frage nach der Zukunft Palästinas komplett vernachlässigt, hat eine tickende Zeitbombe hinterlassen. Diese ist soeben mit verheerenden Auswirkungen explodiert. Ich persönlich möchte die Hamas nicht im Geringsten als führende Vertreter der palästinensischen Sache sehen. Mich wird nur niemand fragen.

STANDARD: Wo bleibt in diesen Überlegungen die israelische Perspektive? Die eines Landes, das von lauter Todfeinden umgeben ist?


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Fraser: Das palästinensische Anliegen ist von höchster, drängender Bedeutung. Umgekehrt ist es richtig, dass sich die Gründungsgeschichte Israels in vielfacher Weise von der Geschichte anderer Siedlungskolonisatoren unterscheidet. Es wurde von Flüchtlingen gegründet, die der Vernichtung durch den Holocaust entronnen waren. Es ist weiters richtig, dass Juden durch ihre Überlieferung eine außerordentliche enge Beziehung zum Heiligen Land unterhalten. In der Geschichte der jüdischen Diaspora spielt folgender Satz eine ausschlaggebende Rolle: "Nächstes Jahr in Jerusalem!" Ich betone: Das lässt sich zum Beispiel nicht mit den Buren vergleichen, die sich einen Teil Afrikas aneigneten.

STANDARD: Aber damit beglaubigen Sie die berechtigten Ansprüche Israels.

Fraser: Es ist fortlaufend zu Enteignungen durch Israel gekommen, zu einem Verdrängungsprozess. Von ihm betroffen war die Mehrzahl der Bewohner Palästinas. Ich halte, mit Blick auf die aktuelle Situation, den Begriff Apartheid für angemessen.

STANDARD: Weckt er nicht völlig unangebrachte Assoziationen? Israel ist eine Demokratie.

Fraser: Sobald man darüber diskutiert, setzt man sich dem Antisemitismusvorwurf aus. Susan Neiman hat den vor allem in Deutschland wirksam werdenden Mechanismus in der New York Review of Books unlängst recht eindrucksvoll beschrieben. Sie bezeichnet ihn als eine Art von "philosemitischen McCarthyismus". Künstler und Intellektuelle, die Kritik an Israel üben, werden antisemitischer Umtriebe in ähnlicher Weise beschuldigt, wie es in den 1950ern der republikanische Senator McCarthy mit seiner antikommunistischen Hexenjagd – unter dem Vorwand "unamerikanischer Umtriebe" – tat.

STANDARD: Hinkt dieser Vergleich nicht?

Fraser: Die Idee lautet: Die Deutschen müssen, um sich von ihrer Holocaust-Schuld frei zu wissen, die Juden in die Rolle unschuldiger Opfer drängen. Mir geht es um den Mechanismus, der dabei wirksam wird, ein "McCarthy-haftes" Abwürgen jeglicher Debatte. Würde man unser "Philosophy for Palestine"-Manifest im STANDARD zum Wiederabdruck bringen, es würde allen Leserinnen und Lesern schlagartig klar: Der Text enthält nichts Anstößiges. Unter seinen Unterzeichnern finden sich zahlreiche jüdische Menschen. Das Manifest wird durch eine stark verzerrende Linse gelesen. Das wirft ein trauriges Licht auf die Beschaffenheit heutiger Öffentlichkeit.

STANDARD: Stößt Philosophie zu solchen Gelegenheiten nicht an ihre Grenzen? Gerade dann, wenn sie glaubt, Unrecht anprangern zu müssen?

Fraser: Viele palästinensische Stimmen artikulieren sich zum ersten Mal in den USA. Dazu kommt, dass viele jüngere Juden sich von der Politik der israelischen Regierung distanzieren. Es verläuft ein Riss durch die jüdische US-Bevölkerung. Es entstehen neue Allianzen, etwa zwischen Black Lives Matter und palästinensischen Gruppen. Solche Bündnisse gründen auf geteilten Erfahrungen, zum Beispiel durch Polizeigewalt. Aktuell entstehen neue Räume, und eine Vielzahl von Meinungsbekundungen dringt an die Öffentlichkeit. Viele von ihnen werden mit dem Antisemitismusvorwurf konfrontiert. Mir scheint durch die aufgeheizte Debatte der Beweis erbracht: Etwas am Diskurs steht im Begriff, sich zu verändern.

STANDARD: Nochmals: Woher beziehen Philosophinnen und Philosophen ihr Wissen über Unrecht?

Fraser: Philosophen besitzen keine spezielle "Expertise", wir sprechen als Staatsbürger. Für Intellektuelle ist es nichts Ungewöhnliches, Verantwortungsgefühl zu verspüren. Speziell beeindruckt hat mich dieser Tage ein Protest jüdischer Aktivisten, die plakatierten: "Nicht in unserem Namen!" Das verstehe ich unter einem kraftvollen Eintreten für jüdische Identität. Das hat nichts zu tun mit der aktuellen israelischen Regierungspolitik. Wer glaubt, ein Angriff auf diese Politik ist ein Angriff auf die Juden schlechthin, befindet sich im Irrtum.

Interviewer Ronald Pohl, 14.11.2023 Der Standard

Mittwoch, 29. November 2023

The Compass of Mourning

 Judith Butler: The Compass of Mourning

The matters most in need of public discussion, the ones that most urgently need to be discussed, are those that are difficult to discuss within the frameworks now available to us. Although one wishes to go directly to the matter at hand, one bumps up against the limits of a framework that makes it nearly impossible to say what one has to say. I want to speak about the violence, the present violence, the history of violence and its many forms. But if one wishes to document violence, which means understanding the massive bombardment and killings in Israel by Hamas as part of that history, one can be accused of ‘relativising’ or ‘contextualisation’. We are to condemn or approve, and that makes sense, but is that all that is ethically required of us? In fact, I do condemn without qualification the violence committed by Hamas. This was a terrifying and revolting massacre. That was my primary reaction, and it endures. But there are other reactions as well.
 

Almost immediately, people want to know what ‘side’ you are on, and clearly the only possible response to such killings is unequivocal condemnation. But why is it we sometimes think that asking whether we are using the right language or if we have a good understanding of the historical situation would stand in the way of strong moral condemnation? Is it really relativising to ask what precisely we are condemning, what the reach of that condemnation should be, and how best to describe the political formation, or formations, we oppose? It would be odd to oppose something without understanding it or without describing it well. It would be especially odd to believe that condemnation requires a refusal to understand, for fear that knowledge can only serve a relativising function and undermine our capacity to judge. And what if it is morally imperative to extend our condemnation to crimes just as appalling as the ones repeatedly foregrounded by the media? When and where does our condemnation begin and end? Do we not need a critical and informed assessment of the situation to accompany moral and political condemnation, without fearing that to become knowledgeable will turn us, in the eyes of others, into moral failures complicitous in hideous crimes?
 

There are those who do use the history of Israeli violence in the region to exonerate Hamas, but they use a corrupt form of moral reasoning to accomplish that goal. Let’s be clear, Israeli violence against Palestinians is overwhelming: relentless bombing, the killing of people of every age in their homes and on the streets, torture in their prisons, techniques of starvation in Gaza and the dispossession of homes. And this violence, in its many forms, is waged against a people who are subject to apartheid rules, colonial rule and statelessness. When, however, the Harvard Palestine Solidarity Committee issues a statement claiming that ‘the apartheid regime is the only one to blame’ for the deadly attacks by Hamas on Israeli targets, it makes an error. It is wrong to apportion responsibility in that way, and nothing should exonerate Hamas from responsibility for the hideous killings they have perpetrated. At the same time, this group and its members do not deserve to be blacklisted or threatened. They are surely right to point to the history of violence in the region: ‘From systematised land seizures to routine airstrikes, arbitrary detentions to military checkpoints, and enforced family separations to targeted killings, Palestinians have been forced to live in a state of death, both slow and sudden.’
 

This is an accurate description, and it must be said, but it does not mean that Hamas’s violence is only Israeli violence by another name. It is true that we should develop some understanding of why groups like Hamas gained strength in light of the broken promises of Oslo and the ‘state of death, both slow and sudden’ that describes the lived existence of many Palestinians living under occupation, whether the constant surveillance and threat of administrative detention without due process, or the intensifying siege that denies Gazans medication, food and water. However, we do not gain a moral or political justification for Hamas’s actions through reference to their history. If we are asked to understand Palestinian violence as a continuation of Israeli violence, as the Harvard Palestine Solidarity Committee asks us to do, then there is only one source of moral culpability, and even Palestinians do not own their violent acts as their own. That is no way to recognise the autonomy of Palestinian action. The necessity of separating an understanding of the pervasive and relentless violence of the Israeli state from any justification of violence is crucial if we are to consider what other ways there are to throw off colonial rule, stop arbitrary arrest and torture in Israeli prisons, and bring an end to the siege of Gaza, where water and food is rationed by the nation-state that controls its borders. In other words, the question of what world is still possible for all the inhabitants of that region depends on ways to end settler-colonial rule. Hamas has one terrifying and appalling answer to that question, but there are many others. If, however, we are forbidden to refer to ‘the occupation’ (which is part of contemporary German Denkverbot), if we cannot even stage the debate over whether Israeli military rule of the region is racial apartheid or colonialism, then we have no hope of understanding the past, the present or the future. So many people watching the carnage via the media feel so hopeless. But one reason they are hopeless is precisely that they are watching via the media, living within the sensational and transient world of hopeless moral outrage. A different political morality takes time, a patient and courageous way of learning and naming, so that we can accompany moral condemnation with moral vision.
I oppose the violence that Hamas has inflicted and have no alibi to offer. When I say that, I am making clear a moral and political position. I do not equivocate when I reflect on what that condemnation presupposes and implies. Anyone who joins me in this condemnation might want to ask whether moral condemnation should be based on some understanding of what is being opposed. One might say, no, I don’t need to know anything about Palestine or Hamas to know that what they have done is wrong, and to condemn it. And if one stops there, relying on contemporary media representations, without ever asking whether they are actually right and useful, whether they let the histories be told, then one accepts a certain ignorance and trusts in the framework presented. After all, we are all busy, and we cannot all be historians or sociologists. That is a possible way to think and live, and well-intentioned people do live that way. But at what cost?
 

What if our morality and our politics did not end with the act of condemnation? What if we insisted on asking what form of life would release the region from violence such as this? What if, in addition to condemning wanton crimes, we wanted to create a future in which violence of this sort came to an end? That is a normative aspiration that goes beyond momentary condemnation. To achieve it, we have to know the history of the situation, the growth of Hamas as a militant group in the devastation of the post-Oslo moment for those in Gaza to whom promises of self-governance were never made good; the formation of other groups of Palestinians with other tactics and goals; and the history of the Palestinian people and their aspirations for freedom and the right of political self-determination, for release from colonial rule and pervasive military and carceral violence. Then we might be part of the struggle for a free Palestine in which Hamas would be dissolved, or superseded by groups with non-violent aspirations for cohabitation.
For those whose moral position is restricted to condemnation alone, understanding the situation is not the goal. Moral outrage of this sort is arguably both anti-intellectual and presentist. Yet outrage could also drive a person to the history books to find out how events such as these could happen and whether conditions might change such that a future of violence isn’t all that is possible. It should not be the case that ‘contextualisation’ is considered a morally problematic activity, even though there are forms of contextualisation that can be used to shift the blame or to exonerate. Can we distinguish between those two forms of contextualisation? Just because some think that contextualising hideous violence deflects from or, worse, rationalises the violence, that doesn’t mean we should capitulate to the claim that all forms of contextualisation are morally relativising in that way. When the Harvard Palestine Solidarity Committee claims that ‘the apartheid regime is the only one to blame’ for the attacks by Hamas, it is subscribing to an unacceptable version of moral accountability. It seems that to understand how an event has come about, or what meaning it has, we have to learn some history. That means we have to widen the lens beyond the appalling present moment, without denying its horror, at the same time as refusing to let that horror represent all the horror there is to represent, to know, and to oppose. The contemporary media, for the most part, does not detail the horrors that Palestinian people have lived through for decades in the form of bombings, arbitrary attacks, arrests and killings. If the horrors of the last days assume a greater moral importance for the media than the horrors of the last seventy years, then the moral response of the moment threatens to eclipse an understanding of the radical injustices endured by occupied Palestine and forcibly displaced Palestinians – as well as the humanitarian disaster and loss of life happening at this moment in Gaza.
 

Some people justifiably fear that any contextualisation of the violent acts committed by Hamas will be used to exonerate Hamas, or that the contextualisation will take attention away from the horror of what they did. But what if it is the horror itself that leads us to contextualise? Where does this horror begin, and where does it end? When the press talks about a ‘war’ between Hamas and Israel, it offers a framework for understanding the situation. It has, in effect, understood the situation in advance. If Gaza is understood as under occupation, or if it is referred to as an ‘open-air prison’, then a different interpretation is conveyed. It seems like a description, but the language constricts or facilitates what we can say, how we can describe and what can be known. Yes, the language can describe, but it gains the power to do so only if it conforms to the limits imposed on what is sayable. If it is decided that we don’t need to know how many Palestinian children and adolescents have been killed in both the West Bank and in Gaza this year or over the years of occupation, that this information is not important for knowing or assessing the attacks on Israel and the killings of Israelis, then we have decided that we do not want to know the history of violence, mourning and outrage as it is lived by Palestinians. We only want to know the history of violence, mourning and outrage as it is lived by Israelis. An Israeli friend, a self-described ‘anti-Zionist’, writes online that she is terrified for her family and friends, that she has lost people. And our hearts should go out to her, as mine surely does. It is unequivocally terrible. And yet, is there no moment where her own experience of horror and loss over her friends and family is imagined to be what a Palestinian might be feeling on the other side, or has felt after the years of bombardment, incarceration and military violence? I am also a Jew who lives with transgenerational trauma in the wake of atrocities committed against people like me. But they were also committed against people not like me. I do not have to identify with this face or that name in order to name the atrocity I see. Or, at least, I struggle not to.
In the end, though, the problem is not simply a failure of empathy. For empathy mainly takes form within a framework that allows for identification to be accomplished, or for a translation between another’s experience and my own. And if the dominant frame considers some lives to be more grievable than others, then it follows that one set of losses is more horrifying than another set of losses. The question of whose lives are worth grieving is an integral part of the question of whose lives are worth valuing. And here racism enters in a decisive way. If Palestinians are ‘animals’, as Israel’s defence minister insists, and if Israelis now represent ‘the Jewish people’ as Biden insists (collapsing the Jewish diaspora into Israel, as reactionaries demand), then the only grievable people in the scene, the only ones who present as eligible for grief, are the Israelis, for the scene of ‘war’ is now staged between the Jewish people and the animals who seek to kill them. This is surely not the first time that a group of people seeking release from colonial shackles has been figured as animals by the coloniser. Are the Israelis ‘animals’ when they kill? This racist framing of contemporary violence recapitulates the colonial opposition between the ‘civilised ones’ and the ‘animals’ who must be routed or destroyed so as to preserve ‘civilisation’. If we adopt this framework in the course of declaring our moral opposition, we find ourselves implicated in a form of racism that extends beyond the utterance to the structure of everyday life in Palestine. And for that a radical reparation is surely in order.
 

If we think that moral condemnation must be a clear, punctual act without reference to any context or knowledge, then we inevitably accept the terms in which that condemnation is made, the stage on which the alternatives are orchestrated. In this most recent context, to accept those terms means recapitulating forms of colonial racism which are part of the structural problem to be solved, the abiding injustice to be overcome. Thus, we cannot afford to look away from the history of injustice in the name of moral certitude, for that is to risk committing further injustice, and at some point our certitude will falter on that less than firm ground. Why can’t we condemn morally heinous acts without losing our powers to think, to know and to judge? Surely we can, and must, do both.
The acts of violence we are witnessing in the media are horrible. And in this moment of heightened media attention, the violence that we see is the only violence we know. To repeat: we are right to deplore that violence and to express our horror. I have been sick to my stomach for days. Everyone I know lives in fear of what the Israeli military machine will do next, whether Netanyahu’s genocidal rhetoric will materialise in the mass killing of Palestinians. I ask myself whether we can mourn, without qualification, for the lives lost in Israel as well as those lost in Gaza without getting bogged down in debates about relativism and equivalence. Perhaps the wider compass of mourning serves a more substantial ideal of equality, one that acknowledges the equal grievability of lives, and gives rise to an outrage that these lives should not have been lost, that the dead deserved more life and equal recognition for their lives. How can we even imagine a future equality of the living without knowing, as the United Nations Office for the Coordination of Humanitarian Affairs has documented, that Israeli forces and settlers had killed nearly 3800 Palestinian civilians since 2008 in the West Bank and Gaza even before the current actions began. Where is the world’s mourning for them? Hundreds of Palestinian children have died since Israel began its ‘revenge’ military actions against Hamas, and many more will die in the days and weeks to come.
It need not threaten our moral positions to take some time to learn about the history of colonial violence and to examine the language, narratives and frameworks now operating to report and explain – and interpret in advance – what is happening in this region. That kind of knowledge is critical, but not for the purposes of rationalising existing violence or authorising further violence. Its aim is to furnish a truer understanding of the situation than an uncontested framing of the present alone can provide. Indeed, there may be further positions of moral opposition to add to the ones we have already accepted, including an opposition to military and police violence saturating Palestinian lives in the region, taking away their rights to mourn, to know and express their outrage and solidarity, and to find their own way towards a future of freedom.
 

Personally, I defend a politics of non-violence, in the knowledge that it cannot possibly operate as an absolute principle to be applied on all occasions. I maintain that liberation struggles that practise non-violence help to create the non-violent world in which we all want to live. I deplore the violence unequivocally at the same time as I, like so many others, want to be part of imagining and struggling for true equality and justice in the region, the kind that would compel groups like Hamas to disappear, the occupation to end, and new forms of political freedom and justice to flourish. Without equality and justice, without an end to the state violence conducted by a state, Israel, that was itself founded in violence, no future can be imagined, no future of true peace – not, that is, ‘peace’ as a euphemism for normalisation, which means keeping structures of inequality, rightlessness and racism in place. But such a future cannot come about without remaining free to name, describe and oppose all the violence, including Israeli state violence in all its forms, and to do so without fear of censorship, criminalisation, or of being maliciously accused of antisemitism. The world I want is one that would oppose the normalisation of colonial rule and support Palestinian self-determination and freedom, a world that would, in fact, realise the deepest desires of all the inhabitants of those lands to live together in freedom, non-violence, equality and justice. This hope no doubt seems naive, even impossible, to many. Nevertheless, some of us must rather wildly hold to it, refusing to believe that the structures that now exist will exist for ever. For this, we need our poets and our dreamers, the untamed fools, the kind who know how to organise.
 

13 October 2023

Montag, 30. Oktober 2023

Klimawandel

Ende Oktober 2023

Die Welt brennt scheinbar an allen Ecken und Enden, in der Ukraine, in Berg-Karabach, im Nahen Osten. Wenig Aufmerksamkeit bleibt da für ein Lodern, das keine akuten Probleme bereitet. Auch wenn wir wissen, dass es unausweichlich einen Grossbrand entfachen wird.

Das ist, was gerade in der West­antarktis geschieht. Hier ist das komplette Abschmelzen des Schelf­eises in der Amundsensee wohl nicht mehr zu verhindern, wie Meeres­forscherinnen diese Woche berichteten.

Das hat gravierende Folgen für den gesamten Eisschild der West­antarktis. Das Schelf­eis, das auf der Wasser­oberfläche aufliegt und aufgrund der höheren Temperatur des Meerwassers von unten abschmilzt, ist mit den ganzen Eismassen der Gletscher und Schilde landeinwärts verbunden und stabilisiert diese. Ohne diese Stabilisierung ist der westantarktische Eisschild in Gefahr. Er gilt als Kipp­punkt im Klima­system: Sein komplettes Abschmelzen würde den globalen Meeres­spiegel um vier bis fünf Meter ansteigen lassen. Laut Meeres­forscher Tiago Segabinazzi Dotto ist dieser Kipppunkt wohl überschritten.

Dennoch betonen Experten, dass die CO2-Emissionen trotzdem zurückgehen müssen. Einerseits, um das Schmelzen zu verlangsamen und mehr Zeit für Anpassung zu schaffen. Andererseits, um die Eisschilde anderswo zu schützen.

*

Um die negativen Auswirkungen der Klimaveränderungen möglichst gering zu halten, gilt es, viele verschiedene Parameter im Auge zu behalten. Eine Größe sticht aber in ihrer Bedeutung besonders heraus: das verbleibende Kohlenstoffbudget, auf Englisch "remaining carbon budget", daher auch unter der Abkürzung RBC geläufig. Dieses drückt die Menge an CO2 aus, die noch emittiert werden kann, ohne eine bestimmte Erwärmungsschwelle zu überschreiten. RBC ist daher auch der wesentliche Parameter für die Planung von Klimaschutzmaßnahmen, die im Einklang mit dem Pariser Klimaabkommen stehen, wonach die globale Erwärmung auf 1,5 Grad gegenüber dem vorindustriellen Niveau begrenzt werden soll.

Wie eine neue Studie zeigt, müssen bisherige Schätzungen des verbleibenden Kohlenstoffbudgets aber drastisch revidiert werden. Tatsächlich dürfen wir nur noch viel weniger Treibhausgase emittieren, um das 1,5-Grad-Ziel noch zu erreichen, berichten Forschende im Fachblatt "Nature Climate Change".

Donnerstag, 26. Mai 2022

Krieg und Empörung

 

Jürgen Habermas zur Ukraine

 

Krieg und Empörung

 

Schriller Ton, moralische Erpressung: Zum Meinungskampf zwischen ehemali-gen Pazifisten, einer schockierten Öffentlichkeit und einem abwägenden Bun-deskanzler nach dem Überfall auf die Ukraine.

77 Jahre nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs und 33 Jahre nach Beendigungeines nur im Gleichgewicht des Schreckens bewahrten, wenn auch bedrohten Frie-dens sind die aufwühlenden Bilder eines Krieges zurückgekehrt - vor unserer Türund von Rußland willkürlich entfesselt. Wie nie zuvor beherrscht die mediale Präsenzdieses Kriegsgeschehens unseren Alltag. Ein ukrainischer Präsident, der sich mit derMacht der Bilder auskennt, sorgt für eindrucksvolle Botschaften. Die täglich neuenSzenen von roher Zerstörung und aufrüttelndem Leiden finden in den sozialen Medien des Westens ein selbstverstärkendes Echo. Das Neue an der Veröffentlichungund kalkulierten Öffentlichkeitswirksamkeit eines unberechenbaren Kriegsgeschehens mag uns Ältere dabei mehr beeindrucken als die mediengewohnten Jüngeren.

Aber gekonnte Inszenierung hin oder her - es sind Tatsachen, die an unserenNerven zerren und zu deren schockierender Wirkung das Bewußtsein von der territorialen Nähe dieses Krieges beiträgt. So wächst unter den Zuschauern im Westen dieBeunruhigung mit jedem Toten, die Erschütterung mit jedem Ermordeten, die Empörung mit jedem Kriegsverbrechen - und der Wunsch, auch etwas dagegen zu tun.

Der rationale Hintergrund, vor dem diese Emotionen landesweit aufwallen, ist dieselbstverständliche Parteinahme gegen Putin und eine russische Regierung, die einen massiven völkerrechtswidrigen Angriffskrieg vom Zaune gebrochen haben unddie mit ihrer systematisch menschenverachtenden Kriegführung gegen das humanitäre Völkerrecht verstoßen.

Selbstgewißheit und Aggression der Ankläger gegen Olaf Scholzsind irritíerend.

Trotz dieser einhelligen Parteinahme bahnt sich unter den Regierungen des Westlichen Staatenbündnisses ein differenziertes Vorgehen an; und in Deutschland ist einschriller, von Pressestimmen geschürter Meinungskampf über Art und Ausmaß dermilitärischen Hilfe für die bedrängte Ukraine ausgebrochen. Die Forderungen derunschuldig bedrängten Ukraine, die die politischen Fehleinschätzungen und falschen Weichenstellungen früherer Bundesregierungen umstandslos in moralische Erpressungen ummünzt, sind so verständlich, wie die Emotionen, das Mitgefühl und dasBedürfnis zu helfen, die sie bei uns allen auslösen, selbstverständlich sind.

Und doch irritiert mich die Selbstgewißheít, mit der in Deutschland die moralischentrüsteten Ankläger gegen eine reflektiert und zurückhaltend verfahrende Bundes-regierung auftreten. Seine Politik bringt der Bundeskanzler im Interview mit demSpiegel mit dem Satz auf den Punkt: „Wir treten dem Leid, das Rußland in der Ukraine anrichtet, mit allen Mitteln entgegen, ohne daß eine unkontrollierbare Eskalationentsteht, die unermeßliches Leid auf dem ganzen Kontinent, vielleicht sogar in derganzen Welt auslöst.“ Nachdem sich der Westen entschlossen hat, in diesen Konfliktnicht als Kriegspartei einzugreifen, gibt es eine Risikoschwelle, die ein ungebremstesEngagement für die Aufrüstung der Ukraine ausschließt.

Diese ist durch den jüngsten Schulterschluß unserer Regierung mit den Alliiertenin Ramstein ebenso wie durch Lawrows erneute Drohung mit dem Einsatz vonAtomwaffen soeben wieder in ein grelles Licht gerückt worden. Wer ungeachtet dieser Schwelle den Bundeskanzler in aggressiv-selbstgewissem Tenor in diese Richtung immer weiter vorantreiben will, übersieht oder mißversteht das Dilemma, in dasder Westen durch diesen Krieg gestürzt wird; denn dieser hat sich mit dem auch moralisch gut begründeten Entschluß, nicht Kriegspartei zu werden, selbst die Hände gebunden.

Der Bundeskanzler besteht zu Recht auf einer politisch zu verantwortenden AbwägungDas Dilemma, das den Westen zur risikoreichen Abwägung von Alternativen imRaum zwischen zwei Übeln - einer Niederlage der Ukraine oder der Eskalation einesbegrenzten Konflikts zum dritten Weltkrieg - nötigt, liegt auf der Hand. Einerseits haben wir aus dem Kalten Krieg die Lehre gezogen, daß ein Krieg gegen eine Atom-macht nicht mehr in irgendeinem vernünftigen Sinne „gewonnen“ werden kann, jedenfalls nicht mit Mitteln militärischer Gewalt innerhalb der überschaubaren Frist eines heißen Konflikts. Das atomare Drohpotential hat zur Folge, daß die bedrohteSeite, ob sie nun selber über Atomwaffen verfügt oder nicht, die in jedem Fall unerträglichen Zerstörungen militärischer Gewaltanwendung nicht durch einen Sieg, son-dern bestenfalls mit einem für beide Seiten gesichtswahrenden Kompromiß beendenkann. Dann wird keiner Seite eine Niederlage zugemutet, die sie als „Verlierer“ vomFeld gehen läßt. Die derzeit mit den Kämpfen noch parallel laufenden Waffenstillstandsverhandlungen sind ein Ausdruck dieser Einsicht; sie halten einstweilen denreziproken Blick auf den Gegner als möglichen Verhandlungspartner offen. Zwarhängt das russische Drohpotential davon ab, daß der Westen Putin den Einsatz von ABC-Waffen zutraut. Aber tatsächlich hat die CIA während der letzten Wochen schonvor der aktuellen Gefahr sogenannter „kleiner“ Atomwaffen gewarnt (die offenbar nurdeshalb entwickelt worden sind, um Kriege unter Atommächten wieder möglich zumachen). Das verleiht der russischen Seite einen asymmetrischen Vorteil gegenüberder Nato, die wegen des apokalyptischen Ausmaßes eines Weltkrieges - mit der Beteiligung von vier Atommächten - nicht zur Kriegspartei werden will.

Nun entscheidet Putin darüber, wann der Westen die völkerrechtlich definierteSchwelle überschreitet, jenseits derer er die militärische Unterstützung der Ukraineauch formal als Kriegseintritt des Westens betrachtet.

Angesichts des unbedingt zu vermeidenden Risikos eines Weltenbrandes läßtdie Unbestimmtheit dieser Entscheidung keinen Spielraum für riskantes Pokern.

Selbst wenn der Westen zynisch genug wäre, die „Warnung“ mit einer dieser „kleinen“ Atomwaffen als Risiko einzukalkulieren, also schlimmstenfalls in Kauf zu neh-
men, wer könnte garantieren, daß die Eskalation dann noch aufzuhalten wäre? Was
bleibt, ist ein Spielraum für Argumente, die im Licht der fachlich notwendigen Kennt-
nisse und aller erforderlichen, nicht immer öffentlich zugänglichen Informationen
sorgfältig abgewogen werden müssen, um begründete Entscheidungen treffen zu
können. Der Westen, der ja schon mit der Verhängung drastischer Sanktionen von
Anbeginn keinen Zweifel an seiner faktischen Kriegsbeteiligung gelassen hat, muß
deshalb bei jedem weiteren Schritt der militärischen Unterstützung sorgfältig abwä-
gen, ob er damit nicht auch die unbestimmte, weil von Putins Definitionsmacht ab-
hängige Grenze des formalen Kriegseintritts überschreitet.
Andererseits kann sich der Westen aufgrund dieser Asymmetrie, wie auch die
russische Seite weiß, nicht beliebig erpressen lassen. Würde dieser die Ukraine ein-
fach ihrem Schicksal überlassen, wäre das nicht nur unter politisch-moralischen Ge-
sichtspunkten ein Skandal, es läge auch nicht im eigenen Interesse. Denn dann
müßte er erwarten, das gleiche russische Roulette demnächst wiederum im Falle von
Georgien oder der Republik Moldau spielen zu müssen - und wer wäre der Nächste?
Gewiß, die Asymmetrie, die den Westen längerfristig in eine Sackgasse treiben könn-
te, besteht ja nur so lange, wie sich dieser aus guten Gründen scheut, einen nuklea-
ren Weltkrieg zu riskieren. Mithin wird dem Argument, Putin nicht in die Ecke zu
drängen, weil er dann zu allem fähig sei, entgegnet, daß erst diese „Politik der
Furcht“ dem Gegner freie Hand läßt, die Eskalation des Konflikts Schritt für Schritt
voranzutreiben (Ralf Fücks in der SZ). Freilich bestätigt auch dieses Argument nur
den Charakter einer schwer berechenbaren Lage. Denn solange wir aus guten
Gründen entschlossen sind, für den Schutz der Ukraine nicht als eine weitere Partei
in den Krieg einzutreten, müssen Art und Umfang der militärischen Unterstützung
auch unter diesem Gesichtspunkt qualifiziert werden. Wer sich auf rational vertretba-
re Weise gegen eine „Politik der Furcht“ wendet, bewegt sich schon innerhalb des
Argumentationsspielraums jener politisch zu verantwortenden und sachlich umfas-
send informierten Abwägung, auf der Bundeskanzler Olaf Scholz zu Recht besteht.
Deutsche Leitmedien breiten Spekulationen zu Putin aus wie zu be-
sten Sowjetzeiten
Dabei geht es um die Beachtung einer aus unserer Sicht für Putin zustimmungsfähi-
gen Interpretation einer rechtlich definierten Grenze, die wir uns selbst auferlegt ha-
ben. Die echauffierten Gegner der Regierungslinie sind, wenn sie die Implikationen
einer Grundsatzentscheidung, die sie nicht in Frage stellen, leugnen, inkonsequent.
Der Entschluß zur Nichtbeteiligung bedeutet nicht, daß der Westen die Ukraine up to
the point of immediate involvement dem Schicksal ihres Kampfes mit einem überle-
genen Gegner überlassen muß. Seine Waffenlieferungen können offensichtlich den
Verlauf eines Kampfes, den die Ukraine selbst um den Preis großer Opfer weiterzu-
führen entschlossen ist, günstig beeinflussen. Aber ist es nicht ein frommer Selbstbe-
trug, auf einen Sieg der Ukraine gegen die mörderische russische Kriegführung zu
setzen, ohne selbst Waffen in die Hand zu nehmen? Die kriegstreiberische Rhetorik
verträgt sich schlecht mit der Zuschauerloge, aus der sie wortstark tönt. Denn sie
entkräftet ja nicht die Unberechenbarkeit eines Gegners, der alles auf eine Karte set-
zen könnte. Das Dilemma des Westens besteht darin, daß er einem gegebenenfalls
auch zur atomaren Eskalation bereiten Putin nur durch eine sich selbst begrenzende
militärische Unterstützung der Ukraine, die diesseits der roten Linie eines völker-rechtlich definierten Kriegseintritts bleibt, den Grundsatz signalisieren kann, daß er
auf der Integrität staatlicher Grenzen in Europa besteht.
Die kühle Abwägung einer sich selbst begrenzenden Militärhilfe wird zusätzlich
kompliziert durch die Einschätzung der Motive, die die russische Seite zu ihrem of-
fensichtlich falsch kalkulierten Entschluß bewogen haben. Die Konzentration auf die
Person Putins führt zu wilden Spekulationen, die unsere Leitmedien heute wie zu
den besten Zeiten der spekulativen Sowjetologie ausbreiten. Das heute vorherr-
schende Bild vom entschlossen revisionistischen Putin bedarf wenigstens des Ab-
gleichs mit einer rationalen Einschätzung seiner Interessen. Auch wenn Putin die
Auflösung der Sowjetunion für einen großen Fehler hält, kann das Bild des verstie-
genen Visionärs, der mit dem Segen der russisch-orthodoxen Kirche und unter dem
Einfluß des autoritären Ideologen Alexander Dugin die schrittweise Wiederherstel-
lung des großrussischen Reiches als seine politische Lebensaufgabe betrachtet,
kaum die ganze Wahrheit über seinen Charakter widerspiegeln. Aber auf solche Pro-
jektionen stützt sich die weitgehende Annahme, daß sich die aggressiven Absichten
Putins über die Ukraine hinaus auf Georgien und die Republik Moldau, sodann auf
die Nato-Mitglieder des Baltikums und schließlich bis weit in den Balkan hinein er-
strecken.
Kann dieser Krieg gegen eine Atommacht also „gewonnen“ wer-
den?
Diesem Persönlichkeitsbild eines wahnhaft getriebenen Geschichtsnostalgikers steht
ein Lebenslauf des sozialen Aufstiegs und der Karriere eines im KGB geschulten ra-
tional kalkulierenden Machtmenschen gegenüber, den die Westwendung der Ukraine
und die politische Widerstandsbewegung in Belarus in seiner Beunruhigung über den
politischen Protest in den fortschreitend liberaler denkenden Kreisen der eigenen
Gesellschaft bestärkt haben. Aus dieser Sicht wäre die wiederholte Aggression eher
als die frustrierte Antwort auf die Weigerung des Westens zu verstehen, über Putins
geopolitische Agenda zu verhandeln - vor allem über die internationale Anerkennung
seiner völkerrechtswidrigen Eroberungen und die Neutralisierung eines „Vorfeldes”,
das die Ukraine einschließen sollte. Das Spektrum dieser und ähnlicher Spekulatio-
nen vertieft nur die Ungewißheit eines Dilemmas, das „äußerste Vorsicht und Zu-
rückhaltung gebietet“ (so das Fazit einer lehrreichen Analyse von Peter Graf Kiel-
mansegg in der FAZ vom 19. April 2022).
Wie erklärt sich dann aber die innenpolitisch aufgeheizte Debatte über die von
Bundeskanzler Scholz immer wieder bekräftigte Politik einer in Übereinstimmung mit
den EU- und den Nato-Partnern überlegten Solidarität mit der Ukraine? Um die The-
men zu entflechten, lasse ich den Streit über die Fortsetzung der bis zum Ende der
Sowjetunion und auch noch darüber hinaus erfolgreichen Entspannungspolitik ge-
genüber einem unberechenbar gewordenen Putin, die sich nun als folgenreicher
Fehler herausgestellt hat, beiseite; ebenso den Fehler deutscher Regierungen, sich
auch unter dem Druck der Wirtschaft von billigen russischen Ölimporten abhängig zu
machen. Über das kurze Gedächtnis der heutigen Kontroversen wird eines Tages
das Urteil der Historiker entscheiden.
Anders verhält es sich mit der Debatte, die sich unter dem bedeutungsträchtigen
Namen einer „neuen deutschen Identitätskrise” schon jetzt mit den Konsequenzen
der zunächst nüchtern auf die deutsche Ostpolitik und den Verteidigungshaushalt
bezogenen „Zeitenwende” befaßt. Denn diese Debatte, die vor allem an Beispiele
der erstaunlichen Konversion friedensbewegter Geister anknüpft, soll einen histori-schen Wandel der von rechts immer wieder denunzierten, tatsächlich schwer genug
errungenen Nachkriegsmentalität der Deutschen ankündigen - und damit überhaupt
das Ende eines auf Dialog und Friedenswahrung angelegten Modus der deutschen
Politik.
Schon ist die emotional ergriffene Außenministerin zur Ikone ge-
worden
Diese Lesart fixiert sich auf das Beispiel jener Jüngeren, die zur Empfindlichkeit in
normativen Fragen erzogen worden sind, ihre Emotionen nicht verstecken und am
lautesten ein stärkeres Engagement einfordern. Sie erwecken den Eindruck, als ha-
be sie die völlig neue Realität des Krieges aus ihren pazifistischen Illusionen heraus-
gerissen. Das erinnert auch an die zur Ikone gewordene Außenministerin, die unmit-
telbar nach Kriegsbeginn mit glaubwürdigen Gesten und einer bekenntnishaften Rhe-
torik der Erschütterung einen authentischen Ausdruck verliehen hat. Nicht als stünde
sie damit nicht auch für das Mitgefühl und den Impuls zu helfen, die in unserer Be-
völkerung allgemein verbreitet sind; aber sie hat darüber hinaus der spontanen Iden-
tifizierung mit dem ungestüm moralisierenden Drängen der zum Sieg entschlossenen
ukrainischen Führung eine überzeugende Gestalt gegeben. Damit berühren wir den
Kern des Konflikts zwischen denen, die empathisch, aber unvermittelt die Perspekti-
ve einer um ihre Freiheit, ihr Recht und ihr Leben kämpfenden Nation einnehmen,
und denen, die aus den Erfahrungen des Kalten Krieges eine andere Lehre gezogen
und - wie doch die auf unseren Straßen Protestierenden auch - eine andere Mentali-
tät ausgebildet haben. Die einen können sich einen Krieg nur unter der Alternative
von Sieg oder Niederlage vorstellen, die anderen wissen, daß Kriege gegen eine
Atommacht nicht mehr im herkömmlichen Sinne „gewonnen“ werden können. Grob
gesagt, bilden die eher national und die eher postnational geprägten Mentalitäten
von Bevölkerungen den Hintergrund für verschiedene Einstellungen zu Krieg über-
haupt. Diese Differenz wird deutlich, wenn man den bewunderten heroischen Wider-
stand und die selbstverständliche Opferbereitschaft der ukrainischen Bevölkerung
mit dem vergleicht, was von „unseren“, sagen wir verallgemeinernd, westeuropäi-
schen Bevölkerungen in ähnlicher Situation zu erwarten wäre. In unsere Bewunde-
rung mischt sich ein gewisses Erstaunen über die Siegesgewißheit und den unge-
brochenen Mut der Soldaten und der für den Kampf rekrutierten Jahrgänge, die fin-
ster entschlossen sind, ihre Heimat gegen einen militärisch weit überlegenen Feind
zu verteidigen. Demgegenüber setzen wir im Westen auf Berufsheere, die wir bezah-
len, um uns gegebenenfalls nicht selbst mit der Waffe in der Hand schützen zu müs-
sen, sondern von Berufssoldaten schützen zu lassen.
Noch muß übrigens mit eben jenem Wladimir Putin verhandelt wer-
den
Diese postheroische Mentalität hat sich im Westen Europas - wenn ich das so über-
verallgemeinernd sagen darf - während der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts un-
ter dem atomaren Schutzschirm der USA ausbilden können. Im Hinblick auf die mög-
lich gewordenen Verwüstungen eines Atomkrieges hat sich in den politischen Eliten
und dem jeweils weit überwiegenden Teil der Bevölkerungen die Einsicht verbreitet,
daß internationale Konflikte grundsätzlich nur durch Diplomatie und Sanktionen ge-
löst werden können - und daß im Fall des Ausbruchs von militärischen Konflikten der
Krieg, da er nach menschlichem Ermessen im Hinblick auf das schwer kalkulierbareRisiko eines drohenden Einsatzes von ABC-Waffen nicht mehr im klassischen Sinne
mit Sieg oder Niederlage zu Ende geführt werden kann, so schnell wie möglich bei-
gelegt werden muß: „Vom Krieg kann man nur lernen, Frieden zu machen,” sagt
Alexander Kluge. Diese Orientierung bedeutet nicht etwa einen grundsätzlichen Pazi-
fismus, also Frieden um jeden Preis. Die Orientierung an der möglichst schnellen
Beendigung von Destruktion, menschlichen Opfern und Entzivilisierung ist nicht
gleichbedeutend mit der Forderung, eine politisch freie Existenz für das bloße Über-
leben aufzuopfern. Die Skepsis gegen das Mittel kriegerischer Gewalt findet prima
facie eine Grenze an dem Preis, den ein autoritär ersticktes Leben fordert - ein Dasein, aus dem auch noch das Bewußtsein vom Widerspruch zwischen erzwungener
Normalität und selbstbestimmtem Leben verschwunden wäre.
Die von den rechten Interpreten der Zeitenwende begrüßte Umkehr unserer
ehemaligen Pazifisten erkläre ich mir aus einer Konfusion jener beiden gleichzeitig
aufeinanderstoßenden, aber historisch ungleichzeitigen Mentalitäten. Diese markante Gruppe teilt die Siegeszuversicht der Ukrainer und appelliert mit großer Selbstverständlichkeit an das verletzte internationale Recht. Nach Butscha verbreitete sich in Windeseile die Parole: „Putin nach Den Haag!“ Das signalisiert allgemein die Selbstverständlichkeit der normativen Maßstäbe, die wir heute an die internationalen Beziehungen anlegen, also das tatsächliche Ausmaß der Veränderung in den entsprechenden Erwartungen und humanitären Sensibilitäten der Bevölkerung.
In meinem Alter verhehle ich nicht eine gewisse Überraschung: Wie tief muß der
Boden der kulturellen Selbstverständlichkeiten, auf dem unsere Kinder und Enkel
heute leben, umgepflügt worden sein, wenn sogar die konservative Presse nach den
Staatsanwälten eines Internationalen Strafgerichtshofes ruft, der weder von Rußland
und China noch von den USA anerkannt wird. Leider verrät sich in solchen Realitäten auch der doch noch hohl klingende Boden einer erregten Identifizierung mit den
immer schriller gewordenen moralischen Anklagen der deutschen Zurückhaltung.
Nicht als hätte es der Kriegsverbrecher Putin nicht verdient, vor einem solchen Gericht zu stehen; aber noch nimmt er im Sicherheitsrat der Vereinten Nationen den
Sitz einer Vetomacht ein und kann seinen Gegnern mit Atomwaffen drohen. Noch
muß mit ihm ein Ende des Krieges, wenigstens ein Waffenstillstand verhandelt werden. Ich sehe keine überzeugende Rechtfertigung für die Forderung nach einer Poli-
tik, die - im peinigenden, immer unerträglicher werdenden Anblick der täglich qualvolleren Opfer - den gleichwohl gut begründeten Entschluß der Nichtbeteiligung an diesem Krieg de facto aufs Spiel setzt.
Die Konversion der ehemaligen Pazifisten führt zu Fehlern und Mißverständnissen.
Politisch-mentale Differenzen, die sich aus ungleichzeitigen historischen Entwicklun-
gen erklären, dürfen sich Verbündete nicht zum Vorwurf machen, sie sollten diese
als Fakten zur Kenntnis nehmen und in ihrer Kooperation klug berücksichtigen. Aber
solange diese Perspektiven bildenden Unterschiede im Hintergrund bleiben, verursachen sie wie im Falle der Reaktion der Abgeordneten auf die moralischen Ordnungsrufe des ukrainischen Präsidenten in seiner Videoansprache an den Bundestag nur eine Konfusion der Gefühle - ein Durcheinander zwischen ungaren Reaktionen der Zustimmung, des bloßen Verständnisses für die Perspektive des Anderen und der gebotenen Selbstachtung. Die Vernachlässigung der historisch begründeten Differenzen in der Wahrnehmung und Interpretation von Kriegen führt nicht nur, wie im
Falle der brüsken Ausladung des deutschen Bundespräsidenten, zu folgenreichen Fehlern im Umgang miteinander. Sie führt, was schlimmer ist, zu einem reziproken
Mißverständnis dessen, was der andere tatsächlich denkt und will. Diese Erkenntnis
rückt auch die Konversion der einstigen Pazifisten in ein nüchterneres Licht. Denn
sowohl die Empörung wie das Entsetzen und das Mitgefühl, die den motivationalen
Hintergrund ihrer kurzschlüssigen Forderungen bilden, erklären sich ja nicht aus einer Absage an die normativen Orientierungen, über die sich die sogenannten Realisten immer schon mokiert haben. Sondern aus einer überprägnanten Lesart gerade dieser Grundsätze. Sie haben sich nicht zu Realisten bekehrt, sondern überschlagen sich geradezu in Realismus: Gewiß, ohne moralische Gefühle keine moralischen Urteile; aber das verallgemeinernde Urteil korrigiert auch seinerseits die beschränkte Reichweite der aus der Nähe stimulierten Gefühle.
Immerhin nicht zufällig sind die Autoren der „Zeitenwende“ jene Linken und Liberalen, die angesichts einer drastisch veränderten Konstellation der Großmächte - und
im Schatten transatlantischer Ungewißheiten - mit einer überfälligen Einsicht Ernst
machen wollen: Eine Europäische Union, die ihre gesellschaftliche und politische
Lebensform weder von außen destabilisieren noch von innen aushöhlen lassen will,
wird nur dann politisch handlungsfähig werden, wenn sie auch militärisch auf eigenen
Beinen stehen kann. Macrons Wiederwahl markiert eine Galgenfrist. Aber zunächst
müssen wir einen konstruktiven Ausgang aus unserem Dilemma finden. Diese Hoffnung spiegelt sich in der vorsichtigen Formulierung des Zieles, daß die Ukraine den Krieg nicht verlieren darf.


Süddeutsche Zeitung vom 28. April 2022