Europa muß kollabieren.
Giorgio Agamben im Interview mit Iris Radisch
aus: DIE ZEIT, 10.9.2015
DIE ZEIT: Man hat Ihnen oft übel genommen, dass Sie Europa als eine rein ökonomische Vereinigung kritisiert haben. Inzwischen sieht es so aus, als hätten Sie recht behalten: In der Griechenlandkrise war ausschließlich von Geld die Rede. Wie beurteilen Sie das griechische Drama, wird Europa in zwei Hälften gerissen?
Giorgio Agamben: Ein Europa, wie ich es mir wünsche, kann es erst geben, wenn das real existierende "Europa" kollabiert ist. Deshalb könnte Griechenland – auch wenn es von seinen politischen Führern bitter enttäuscht worden ist – eine ganz entscheidende Rolle spielen. Sie haben von Spaltung gesprochen: Doch würde Griechenland die Europäische Union tatsächlich verlassen, wäre das wahre Europa in Athen, nicht in Brüssel, wo – was die Mehrheit der Europäer nicht zu wissen scheint – jede Entscheidung von Kommissionen getroffen wird, die zur Hälfte aus Vertretern der Großindustrie des betreffenden Wirtschaftszweigs bestehen. Zunächst gilt es, der Lüge entgegenzutreten, dieser Vertrag zwischen Staaten, den man als Verfassung ausgibt, sei das einzig denkbare Europa, diese ideen- und zukunftslose institutionalisierte Lobby, die sich der düstersten aller Religionen, der Religion des Geldes, blind verschrieben hat, sei die rechtmäßige Erbin des europäischen Geistes.
ZEIT: Hat es für Sie eine symbolische Bedeutung, dass die Krise ausgerechnet von Athen ausgeht? Heidegger hätte vermutlich gesagt, dass in Athen ein "abendländischer Weg" zu Ende geht. Welche tiefere Bedeutung steckt hinter der Krise des Geldes?
Agamben: Dass die Bedeutung der Krise den wirtschaftlichen Rahmen sprengt, ist nicht zu übersehen. Wenn wir sie auf ihren wirtschaftlichen Aspekt reduzieren, laufen wir Gefahr, das Wesentliche zu verpassen. Denn die eigentliche Frage lautet: Was verbirgt sich hinter der globalen Herrschaft des ökonomischen Paradigmas? Was sind die tieferen Gründe für die Verdrängung des Politischen durch die Ökonomie? Wir haben es mit einem Problem zu tun, das jenseits der Partikularinteressen der Kapitaleigner und Banker einen entscheidenden Moment nicht nur der Geschichte Europas, sondern auch der menschlichen Gattung als solcher markiert. Die Schwäche der marxistischen Tradition besteht ja gerade darin, bei einer ökonomischen Analyse stehen geblieben zu sein. Die Geschichtsmächte – Politik, Religion, Kunst und Philosophie –, die die Geschicke des Abendlandes gelenkt haben, sind spätestens seit dem Ersten Weltkrieg nicht mehr imstande, die Völker Europas für bestimmte Ziele zu mobilisieren. Ja, der Begriff "Volk" selbst hat seine Bedeutung verloren, und die Bevölkerungen, die an seine Stelle getreten sind, haben nicht die geringste Absicht, eine wie auch immer geartete historische Aufgabe zu übernehmen – und das ist vielleicht auch gut so, wenn man an die Aufgaben denkt, die den Völkern im 19. und 20. Jahrhundert zugedacht waren. Das ist der Kontext, in dem die gegenwärtige Vorherrschaft des Ökonomischen steht. In Ermangelung historischer Aufgaben ist das biologische Leben zum letzten politischen Auftrag des Abendlands erklärt worden. Es zeigt sich also, dass die Herrschaft des ökonomischen Paradigmas mit dem einhergeht, was man seit Foucault für gewöhnlich Biopolitik nennt: die Besorgung des Lebens als eminent politische Aufgabe. Doch das Leben als solches ist ein leerer Oberbegriff, der, wie Ivan Illich gezeigt hat, sowohl eine Samenzelle als auch eine Person, einen Hund oder eine Biene, einen Embryo oder eine Zelle bezeichnen kann. Deshalb führt die Ökonomie entweder nirgendwohin oder, wie die Geschichte der Totalitarismen des 20. Jahrhunderts und die derzeit herrschende Ideologie des unbegrenzten Wirtschaftswachstums zeigen, zur Zerstörung des Lebens, dessen sie sich angenommen hat.
ZEIT: Wenn es stimmt, dass die Ökonomie zu nichts führt und auch zu nichts nutze ist, müsste man dann nicht die Denkrichtung vollständig umdrehen und sich fragen, inwiefern die Wirtschaftskrise auf eine geistige und metaphysische Krise zurückgeht, zumindest auf eine Krise der europäischen Kultur?
Agamben: Ich habe nicht gesagt, dass die Ökonomie zu nichts nutze ist. Ganz im Gegenteil: Sie ist absolut nützlich, reiner Dienst, bloße Nützlichkeit. Mit ihr tritt das menschliche Leben in die Sphäre der Gebrauchsgegenstände und Werkzeuge ein. Im Verbund mit der Technik hat sie den Sklaven, das "lebendige Werkzeug" der Antike, ersetzt. Worauf ich hinauswill, ist, dass die Ökonomie als solche weder wissen noch entscheiden kann, wozu sie dienen soll. Genauso verhält es sich mit der Krise, von der so viel gesprochen wird. Ich erinnere nicht zum ersten Mal daran, dass das griechische Wort crisis "Urteil" oder "Entscheidung" bedeutet. In der medizinischen Tradition bezeichnet es den Moment, in dem der Arzt entscheiden muss, ob der Kranke am Leben bleiben oder sterben wird, in der theologischen den des Jüngsten Gerichts. Heute beschließt die alltäglich und unabsehbar gewordene Krise lediglich ihr eigenes Fortbestehen, die Vertagung jeder endgültigen Entscheidung. Es ist, als ob der Knecht, der Herr geworden ist, nicht wüsste, wozu er dienen könnte, wenn nicht zur grenzenlosen Vermehrung des Dienstes und der Knechtschaft. Es ist die paradoxe Situation eines Werkzeugs, das sich dazu entscheiden muss, wozu es dienen soll, und sich dazu entscheidet, sich selbst zu dienen. Walter Benjamin, der vom Kapitalismus als Religion sprach, wusste bereits, dass in diesem unbedingten "Dienst" etwas Religiöses liegt. Im Namen ebendieses pseudoreligiösen Dienstes will man, wie gerade in Griechenland, den Menschen vorschreiben, wie sie zu leben haben. Insofern kann man davon sprechen, dass die Krise keine bloß ökonomische ist. Die Bedeutung der Philosophie – ich ziehe dieses Wort dem der Metaphysik vor – besteht darin, sich mit der Menschwerdung des Menschen auseinanderzusetzen. Die Anthropogenese, die Menschwerdung des Tieres, hat sich nicht in grauer Vorzeit ein für alle Mal vollzogen; sie ist ein Ereignis, das unablässig geschieht, ein nicht abgeschlossener Prozess, in dem sich entscheidet, ob der Mensch menschlich wird oder nicht menschlich bleibt beziehungsweise wieder wird. Das Denken ist zunächst Erinnerung an dieses Ereignis, seine Wiederholung. Es geht ihm um die Humanität oder Inhumanität des Menschen, also etwas, von dem sich Ökonomen und Finanzexperten gar keine Vorstellung machen.
Die Zukunft Europas ist seine Vergangenheit
ZEIT: Sind all das Vorzeichen eines drohenden Niedergangs oder einer dekadenten Spätzeit, die der Anfang vom Ende der vertrauten westlichen Welt sein könnte?
Agamben: Wenn ich gesagt habe, dass sich der Westen heute in einer epochalen Situation befindet, in der die Kräfte, die seine Geschichte bestimmt haben, ihr Ende erreicht zu haben scheinen, habe ich damit nicht gemeint, dass sie abgestorben sind. Die geläufigen Vorstellungen zu diesem Thema müssen in ihr Gegenteil verkehrt werden. Wirklich aktuell und dringlich wird etwas genau dann, wenn es ausgedient hat. Denn erst jetzt zeigt es sich in seiner ganzen Fülle und Wahrheit. Es mag sein, dass die Politik, die Religion, die Kunst und die Philosophie ans Ende ihrer historischen Entwicklung gelangt sind, doch solange wir aus der Totalität ihrer Geschichte neues Leben schöpfen können, sind sie nicht tot. Wir leben in keinem posthistorischen Zeitalter, in dem sich nichts mehr ereignen kann oder soll. Vielmehr leben wir in einer Zeit, in der alles geschehen kann, in der nichts Geringeres auf dem Spiel steht als die Rekapitulation aller historischen Möglichkeiten des Abendlandes. Die Menschheit sieht nicht nur einer lähmenden Zukunft entgegen, die ihr nichts mehr zu bieten hat, sondern kann auch auf die Totalität ihrer Vergangenheit zurückblicken, was ihr die Möglichkeit eröffnet, von allem je Gewesenen neuen Gebrauch zu machen oder erstmals das zu leben, was in ihr ungelebt blieb. Angesichts des Interesses der herrschenden Mächte, die Vergangenheit in Museen auszulagern und ihr geistiges Erbe zu entsorgen, ist jeder Versuch, in eine lebendige Beziehung zur Vergangenheit zu treten, ein revolutionärer Akt. Aus diesem Grund glaube ich mit Michel Foucault, dass die Archäologie – anders als die Zukunftsforschung, die per definitionem im Dienst der Macht steht – vor allem eine politische Praxis ist. Die Zukunft Europas ist seine Vergangenheit – freilich unter der Bedingung, dass es auf ihrer Höhe ist.
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ZEIT: Die westliche, das heißt die fortschrittsgläubige Philosophie will die Vergangenheit in der Regel überwinden. Wir fühlen uns unseren Vorfahren meistens überlegen, weil wir allen möglichen Schrecknissen der Vergangenheit entkommen sind, der Sklavengesellschaft, dem Absolutismus, dem Rassismus, dem Eurozentrismus, dem Totalitarismus, der Kinderarbeit, der Unterdrückung der Frau und so weiter. In früheren Jahrhunderten hätte ich zum Beispiel kaum Gelegenheit gehabt, mit Ihnen ein Gespräch zu führen. An welche vergessenen Schätze der Vergangenheit denken Sie, wenn Sie sagen, dass die Zukunft Europas in seiner Vergangenheit liegt?
Agamben: Hier liegt ein echtes Missverständnis vor. Denn was ich lebendige Beziehung zur Vergangenheit nenne, interessiert mich nur insofern, als sie einen Zugang zur Gegenwart ermöglicht. Michel Foucault hat einmal gesagt, seine historischen Untersuchungen seien lediglich der Schatten, den seine theoretische Befragung der Gegenwart auf die Vergangenheit wirft. Ich teile diese Ansicht vollkommen. Die Gegenwart bekommen wir nie zu fassen, sie wird sich uns immer entziehen. Deshalb ist Zeitgenossenschaft das Schwerste, denn wahrhaft zeitgenössisch ist – wie schon Nietzsche wusste – nur das Unzeitgemäße. Sie kennen sicherlich Walter Benjamins These, dass die Gegenwart nicht als isolierter Punkt im zeitlichen Kontinuum gegeben ist, sondern in einer Konstellation mit einem Moment der Vergangenheit. Daraus folgt, dass die Beziehung zur Vergangenheit nicht nur ein individuell-psychologisches Problem darstellt, sondern auch ein kollektiv-politisches. Jede Entscheidung über die Gegenwart, ob im individuellen oder kollektiven Leben, setzt die Beziehung zu einem konkreten Augenblick der Vergangenheit voraus, mit dem sie ins Reine kommen muss. Ohne diese kritische Konstellation gibt es keinen Zugang zur Gegenwart, bleibt sie undurchdringlich, weil sie sich, wie uns der Diskurs der Macht unablässig glauben zu machen versucht, auf eine Ansammlung von Zahlen und Fakten reduziert, die unwidersprochen hingenommen werden müssen. Deshalb bin ich davon überzeugt, dass uns nur die Archäologie Zugang zur Gegenwart ermöglicht, weil sie deren Lauf zurückverfolgt und dem Schatten, den die Gegenwart auf die Vergangenheit wirft, auf der Spur ist.
ZEIT: Das klingt ziemlich kompliziert: Die Vergangenheit, die uns wiederbeleben soll, gibt es als solche also noch gar nicht?
Agamben: Wenn ich von Vergangenheit spreche, meine ich weder einen zeitlosen Ursprung noch etwas, was unwiderruflich geschehen ist und eine Abfolge unumstößlicher Tatsachen darstellt, die es zu sammeln und in Archiven aufzubewahren gilt. Ich verstehe unter Vergangenheit vielmehr etwas, was noch bevorsteht und was dem herrschenden Geschichtsbild entrissen werden muss, damit es sich ereignen kann. Wenn ich mich mit der Genealogie des Ausnahmezustands beschäftigt habe, dann deshalb, weil ich verstehen wollte, was um mich herum geschah; wenn ich die mönchischen Ordensregeln untersucht habe, dann deshalb, weil sie mir die Möglichkeit einer kommenden politischen Praxis zu eröffnen schienen. Im Übrigen muss ich gestehen, dass ich überhaupt nicht damit einverstanden bin, wenn Sie sagen: "die westliche, das heißt fortschrittsgläubige Philosophie". Mir ist kein ernst zu nehmender Philosoph bekannt, der sich als progressiv, als fortschrittlich bezeichnet hätte. Jeder informierte Historiker weiß, dass die Fortschrittsideologie nichts anderes ist als eine der beiden Seiten – gleichsam die linke Hand – der kapitalistischen Ideologie, deren Todeskampf wir gerade beiwohnen. Fatalerweise fällt er mit ihrer aberwitzigsten und furchterregendsten Ausprägung zusammen: der Idee eines unendlichen Wachstums des Produktionsprozesses.
"Suche nicht den Kampf, sondern finde einen Ausweg"
ZEIT: Versuchen wir den Gedanken, dass Europas Zukunft in seiner Vergangenheit liegt, anhand Ihres Beispiels vom mönchischen Leben zu konkretisieren. Kann die franziskanische Lebensweise ein Modell für das erschöpfte Europa sein? Liegt im christlichen Armutsideal eine Lösung?
Agamben: Um es noch einmal zu sagen, es geht nicht um die Rückkehr zum franziskanischen Ideal, wie es einmal war, sondern darum, es auf neue Weise zu gebrauchen. Mein Interesse am Mönchstum weckte der Umstand, dass nicht selten Menschen, die der vermögendsten und gebildetsten Schicht angehörten, wie es bei Basilius dem Großen, Benedikt von Nursia, dem Gründer des Benediktinerordens, und später bei Franziskus der Fall war, den Entschluss fassten, aus der Gesellschaft, in der sie bislang lebten, auszusteigen, um eine radikal andere Lebensgemeinschaft oder, was meiner Ansicht nach dasselbe ist, eine radikal andere Politik zu begründen. Dies begann zeitgleich mit dem Niedergang und Verfall des Römischen Reiches. Bemerkenswert daran ist, dass diese Leute nicht auf den Gedanken kamen, den Staat, in dem sie lebten, zu reformieren oder zu verbessern, das heißt die Macht zu ergreifen, um ihn zu verändern. Sie kehrten ihm einfach den Rücken.
ZEIT: Wie die Aussteiger von heute, die sich aufs Land zurückziehen und Gemüse anbauen ...
Agamben: Ich sehe hier eine gewisse Analogie zur gegenwärtigen Situation. Wir sind es gewohnt, radikalen politischen Wandel als Folge einer mehr oder minder gewaltsamen Revolution zu verstehen: Ein neues politisches Subjekt, das man seit der Französischen Revolution die konstituierende beziehungsweise die verfassungsgebende Gewalt nennt, zerstört die bestehende politisch-rechtliche Ordnung und schafft eine neue konstituierte beziehungsweise verfasste Gewalt. Ich halte die Zeit für gekommen, dieses überholte Modell aufzugeben, um unser Denken auf etwas zu richten, was man "destituierende" beziehungsweise "aufhebende Kraft" nennen könnte – das heißt auf eine Kraft, die die Form einer konstituierten Gewalt schlechterdings nicht annehmen kann. Der konstituierenden Gewalt entsprechen Revolutionen, Aufstände und neue Verfassungen, sie ist eine Gewalt, die neues Recht durchsetzt. Für die destituierende Kraft müssen völlig andere Strategien ersonnen werden, deren nähere Bestimmung eine kommende Politik zu leisten hat. Wird die Macht nur von der konstituierenden Gewalt umgestürzt, geht sie unweigerlich aus der unausgesetzten, end- und ausweglosen Dialektik von konstituierender und konstituierter, rechtssetzender und rechtswahrender Gewalt in anderer Gestalt wieder hervor.
ZEIT: Wäre es also ratsam, eine Strategie des Rückzugs und der Flucht aus der Moderne zu entwickeln?
Agamben: Ich glaube in der Tat, das Modell des Kampfes, das die politische Einbildungskraft der Moderne paralysiert hat, sollte durch das Modell des Auswegs ersetzt werden. Das ist, wie mir scheint, in Griechenland besonders deutlich geworden. Syriza musste kapitulieren, da sie sich auf einen aussichtslosen Kampf eingelassen und den einzig gangbaren Weg verworfen hat: den Austritt aus Europa. Selbstredend gilt dies auch für die individuelle Existenz. Kafka wiederholt es unermüdlich: Suche nicht den Kampf, sondern finde einen Ausweg. Offensichtlich hängen das faustische Modell des Kampfes und das kapitalistische Modell der Produktivitätssteigerung aufs Engste zusammen. Was mich am Phänomen der Mönchsorden vor allem interessierte, war das Auftreten einer Lebensform, das heißt einer Politik, die auf Flucht und Rückzug beruht. Das Reich brach zusammen, die Mönchsorden bestanden fort und haben für uns das Erbe bewahrt, dessen Überlieferung die staatlichen Institutionen, ganz wie in unseren Tagen die europäischen Schulen und Universitäten, die gerade massiv abgebaut werden, nicht mehr leisten konnten. Ich sehe so etwas auch auf uns zukommen. Natürlich braucht das seine Zeit. Doch schon heute wird dieses Modell mehr oder weniger offen von jungen Leuten praktiziert. Mehr als dreihundert Gemeinschaften dieser Art soll es allein in Italien geben. Sie werden einwenden, dass das, was das Mönchstum ermöglicht hat, der Glaube war, der heute gewiss fehlt. Das ist es, was Heidegger gemeint haben muss, als er im Spiegel- Interview jenen stets unverstandenen Satz gesagt hat: "Nur ein Gott kann uns retten". Doch was ist der Glaube? Es besteht kein Zweifel daran, dass heutzutage kein intelligenter Mensch mehr bereit ist, an die Institutionen, die Kirche eingeschlossen, und die existierenden Werte zu glauben, zumal Letztere sich auf den Euro reduzieren lassen, wie wir das in Europa sehr schön sehen konnten. Das griechische Wort für "Glaube", pistis, das im Neuen Testament verwendet wird, bedeutet ursprünglich "Kredit", und Geld ist nichts anderes als ein Kredittitel. Doch dieser Titel basiert – besonders seit Nixon die Goldbindung des Dollar aufgehoben hat – auf dem Nichts. Die europäischen Demokratien, die sich laizistisch nennen, beruhen auf einer leeren Form des Glaubens. Auf einem Nichts beruht, was man heute mit jenem scheinbar ehrwürdigen Wort Europa nennt. Doch ein auf das Nichts ausgestellter Kredit kann nicht ewig bestehen. An den Franziskanern interessierte mich nicht so sehr die Armut als vielmehr die Art und Weise, in der sie den Gebrauch wichtiger nehmen als das Eigentum. Der Begriff des Gebrauchs steht auch im Zentrum meines letzten Buches L’uso dei corpi ("Der Gebrauch der Körper"). Eine Lebensform zu erfinden, die nicht auf der Tat und dem Eigentum begründet ist, sondern auf dem Gebrauch – noch so eine Aufgabe, der sich eine kommende Politik verschreiben müsste.
Der Mensch ist ein Wesen der Möglichkeit
ZEIT: Vor einigen Jahren sind Sie mit dem Vorschlag hervorgetreten, im politischen Leben Europas etwas wieder in Erinnerung zu rufen, was der französische Philosoph Alexandre Kojève "das Lateinische Imperium" genannt hat. Dahinter verbirgt sich eine geophilosophische Idee vom mittelmeerischen Menschen und vom mittelmeerischen Denken, die auch Paul Valéry, Albert Camus und viele andere inspiriert hat. Was Sie jetzt über die neuen Lebensformen sagen, die nicht auf dem Eigentum begründet sind, erinnert mich an die Mittelmeerutopie, bei der das Maßhalten und die Bescheidenheit im Zentrum standen. Ist das mittelmeerische Denken der gesuchte Weg für Europa? Oder bleibt der Versuch, sich aus der Wachstumsgesellschaft zurückzuziehen, nur ein Traum für Poeten und ein paar marginale Gemeinschaften?
Agamben: Ich verstehe, was Sie sagen wollen, würde jedoch gern auf Formulierungen wie "mittelmeerisches Denken" oder "mediterranes Denken" verzichten, die mir zu sehr im Vagen bleiben. Wenn in der Sprachwissenschaft die Etymologie eines indoeuropäischen oder, wie man in Deutschland sagt, "indogermanischen" Wortes nicht eindeutig geklärt werden kann, wird in der Regel auf ein "mediterranes Substrat" verwiesen. Man könnte auch gleich ein großes X setzen, da man über diese Sprachen so gut wie nichts weiß. Was man hingegen – ohne im Vagen bleiben zu müssen – sagen kann, ist, dass aus wenn auch komplexen, so doch nachvollziehbaren historischen Gründen die kapitalistische Produktionsweise, die sich nach der industriellen Revolution durchzusetzen begann, in den Ländern des Mittelmeerraums auf Hindernisse und Widerstände gestoßen ist. Hier war das, was Ivan Illich den vernakulären Bereich genannt hat – also jene Güter, die nicht auf dem Markt gekauft, sondern von jeder Familie selbst produziert werden –, noch weitgehend intakt. Der Kapitalismus setzt jedoch die völlige Abhängigkeit jedes Einzelnen vom Markt voraus. Bekanntlich gibt es heute nichts mehr, was nicht auf dem Markt gekauft werden müsste. Um also Ihre Frage zu beantworten: Der Fortbestand des vernakulären Bereichs setzt das Überleben gewisser Ideen und Überzeugungen voraus, die zwar auch in den Ländern des Nordens nie ganz beseitigt worden sind, in Südeuropa jedoch viel weiter verbreitet waren. Ich spreche übrigens lieber von "Lebensformen", denn entgegen landläufiger Meinung ist es alles andere als einfach, zwischen Theorie und Praxis zu unterscheiden. Will man die Formulierungen "mittelmeerisches Denken" und "Lateinisches Imperium" mit Sinn erfüllen, muss man einen Katalog dieser Ideen und Praktiken oder "Lebensformen" erstellen. Es ist das Verdienst Ivan Illichs, diese Arbeit auf sehr intelligente Weise angestoßen zu haben. Leider hat die linke Tradition ausschließlich juristische (die Menschenrechte) und ökonomische (die Arbeitskraft, die Produktion) Abstraktionen im Blick gehabt und sich nie der Lebensformen angenommen. Es überrascht deshalb nicht, dass sie dem Kapitalismus, mit dem sie die Grundbegriffe teilt, in allen Belangen unterlegen ist. Das ist der Grund, weshalb neben dem Begriff des Gebrauchs ein zweiter Begriff im Zentrum meines jüngsten Buches steht: das désœuvrement beziehungsweise die Geschäftslosigkeit. In meinem Buch spreche ich von inoperosità. Sie bezeichnet weder Nichtstun noch Muße, sondern eine besondere Form der Tätigkeit, die darin besteht, die Werke der Ökonomie, des Rechts, der Biologie und so weiter zu deaktivieren und außer Kraft zu setzen, um sie einem neuen Gebrauch zu öffnen. Aristoteles hat einmal die höchst bedeutsame Frage gestellt: Gibt es ein Werk oder eine Tätigkeit, die dem Menschen nicht als Schuster, Architekt, Bildhauer und so weiter bestimmt ist, sondern als solchem? Oder ist der Mensch an sich werklos, ohne eine für ihn bestimmte Tätigkeit? Ich habe diese Frage immer ernst genommen. Der Mensch ist das Lebewesen ohne eigenes Werk, da ihm keine besondere Berufung zugeschrieben werden kann. Folglich ist er ein Wesen der Möglichkeit, der bloßen Potenz. Genuin menschlich ist einzig die Tätigkeit, die die Werke durch ihre Außerkraftsetzung wieder der Möglichkeit und einem neuen Gebrauch öffnet. Ein, wie mir scheint, schlagendes Beispiel ist die Dichtung. Was ist Dichtung anderes als eine sprachliche Operation, die darin besteht, die informativen und kommunikativen Funktionen der Sprache zu neutralisieren, um sie einem anderen Gebrauch zu öffnen: ebenjenem Gebrauch, den man Dichten nennt? Ein weiteres Beispiel ist das Fest. Denn das Fest lässt sich nicht, wie in der kapitalistischen Gesellschaft, auf eine Unterbrechung der Arbeit reduzieren: Es besteht vor allen Dingen darin, das, was wir gewöhnlich machen, auf andere Weise zu machen, das heißt zunichtezumachen oder unwirksam zu machen. Wenn man isst, dann nicht, um Nahrung aufzunehmen; wenn man sich kleidet, dann nicht, um sich vor Kälte zu schützen; wenn man Gegenstände tauscht, dann nicht, um zu kaufen oder zu verkaufen. Ich bin der festen Überzeugung, dass die verschiedenen Arten der Geschäftslosigkeit für eine Gesellschaft ebenso wichtig sind wie die verschiedenen Arten der Produktion. Bedauerlicherweise hat sich Marx ausschließlich mit der Untersuchung der Produktionsweisen beschäftigt und die Weisen der Geschäftslosigkeit völlig vernachlässigt. Diese Einseitigkeit erklärt einige Aporien seines Denkens, insbesondere wenn es um die Definition der menschlichen Tätigkeit in der klassenlosen Gesellschaft geht. Aus Marx’ Sicht könnte man sagen, dass die klassenlose Gesellschaft in der Geschäftslosigkeit schon hier und jetzt anwesend ist. Um auf Ihre Frage zurückzukommen: Wie Sie sehen, ist alles schon da, das heißt, die Frage nach dem Zentrum und den Rändern erledigt sich. Es geht darum, wie sich jede Gesellschaft zu dieser Anwesenheit verhält. Was die Dichtung für das Sprachvermögen vollbringt und das Fest für die Produktivität, müssen Politik und Philosophie für die Handlungsfähigkeit leisten: Indem sie die ökonomischen und biologischen Tätigkeiten außer Kraft setzen, zeigen sie, was der menschliche Körper vermag, und eröffnen so neue Wege, von ihm Gebrauch zu machen.
ZEIT: Dann bietet Ihre Philosophie des Ausstiegs und der Geschäftslosigkeit also einen Ausweg aus der aktuellen Krise. Offenbar müssen wir dem Rat folgen, den der Dichter Rainer Maria Rilke uns gibt: "Du musst dein Leben ändern." Geht es um eine radikale Erneuerung unserer Lebensform?
Agamben: Es geht nicht einfach darum, unsere Lebensweise zu ändern. Alle Lebewesen gehorchen einer Lebensweise, aber nicht alle Lebensweisen sind oder sind immer Lebensform. Wenn ich von Lebensform spreche, meine ich kein anderes Leben, kein besseres oder wahreres Leben als das, welches wir führen: Die Lebensform ist die allem Leben innewohnende Geschäftslosigkeit, eine jedes Leben durchziehende Spannung, die die soziale Identität und die rechtlichen, wirtschaftlichen und sogar körperlichen Gegebenheiten außer Kraft setzt, um einen anderen Gebrauch von ihnen zu machen. Es ist also dasselbe wie mit der Berufung: Vielleicht ist es gut, eine Berufung zu haben, Schriftsteller, Architekt oder was auch immer werden zu wollen. Doch die wahre Berufung ist die Widerrufung jeder Berufung, sie ist eine Kraft, die im Innern der Berufung wirkt, sie infrage stellt und zu einer wahren Berufung werden lässt. Im ersten Brief an die Korinther bringt Paulus diesen inneren Drang auf die Formel des "Als-ob-nicht": "Wer eine Frau hat, verhalte sich so, als ob er keine habe, wer weint, als ob er nicht weine, wer sich freut, als freue er sich nicht ..." Im Zeichen des "Als-ob-nicht" zu leben heißt, alle rechtlichen und sozialen Eigenschaften abzulegen, ohne dass dieses Ablegen eine neue Identität begründete. In diesem Sinne ist die Form des Lebens das, was alle gesellschaftlichen Bedingungen, unter denen man lebt, ablegt – indem sie die Bedingungen nicht leugnet, sondern von ihnen Gebrauch macht. Paulus schreibt: Wenn du dich im Moment der Berufung im Sklavenstand befindest, soll dich das nicht bedrücken. Auch wenn du frei werden kannst, mach lieber von deiner Knechtschaft Gebrauch. Das gilt, glaube ich, auch für das Leben, das auf der Suche nach seiner Form ist, einer Form, von der es nicht mehr getrennt werden kann.
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Dienstag, 15. September 2015
Dienstag, 3. Juni 2014
Die Hegemonie Deutschlands
Ulrike Herrrmann: Der deutsche Handelskrieg
Alle Europäer sind mehr oder minder nationalistisch – nur die Deutschen nicht. Zumindest viele Deutsche sind davon überzeugt. Mit einer Mischung aus Abscheu und Überheblichkeit verweisen sie auf die Ergebnisse der Europawahl in den anderen Ländern, von denen Frankreich besonders heraussticht. Der fremdenfeindliche Front National erhielt knapp 25 Prozent der Stimmen. Einen derartigen Rechtsruck hat Deutschland nicht zu bieten, was für viele der Beweis ist, dass der Hort der europäischen Demokratie hierzulande angesiedelt ist.
Auf den ersten Blick scheint dies sogar zu stimmen: In Deutschland kam die AfD nur auf 7 Prozent, die sich zudem Mühe gibt, eher eurokritisch denn platt nationalistisch zu wirken. Doch auch die Deutschen haben ihre nationalen Interessen – oder was sie dafür halten – fest im Blick, wenn sie wählen. Aber dafür müssen sie nicht auf nationalistische Parteien ausweichen. Es reicht, wenn sie für Angela Merkel stimmen.
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In Umfragen ist dieses Phänomen klar zu erkennen: Die große Mehrheit der Deutschen ist überzeugt, dass die Kanzlerin die deutschen Interessen in Brüssel gut vertritt. Das heißt nicht, dass diese Merkel-Fans sämtlich die CDU wählen. Die Zustimmung zur EU-Politik der Bundeskanzlerin geht quer durch alle Parteien. Was nur bedeutet: Wenn andere Parteien an der Macht wären – und dies gilt selbst für die Linken –, würden sie die gleiche Politik wie Merkel betreiben.
Warum aber müssen die Deutschen nicht nationalistisch wählen, um ihre vermeintlichen Interessen durchzusetzen? Die Antwort lautet: weil die Deutschen die ökonomische Macht haben.
Deutschland ist Gläubiger der EU-Staaten
Diese wirtschaftliche Vorherrschaft speist sich aus drei Quellen: Deutschland hat die meisten Einwohner und ist schon deshalb die größte Volkswirtschaft Europas. Deutschland ist zweitens eine Exportnation – und damit drittens der Gläubiger der meisten EU-Staaten.
Gegen diesen Dreiklang kommen die anderen Länder nicht an. Es ist egal, wer in Frankreich Präsident ist. Am Ende werden seine Handlungsoptionen durch Deutschland beschränkt. Diese Erfahrung musste der konservative Sarkozy genauso machen wie der sozialistische Hollande. Beide haben sie auf Merkel eingeredet, dass ihr Sparkurs fatal ist und dass das deutsche Lohndumping Frankreich ins Chaos stürzt. Aber diese Argumente haben weder die Kanzlerin noch ihre deutschen Wähler interessiert.
Trotzdem haben die Franzosen recht. Es kann nicht funktionieren, wenn Deutschland als eines der reichsten Länder der Erde vorsätzlich seine Löhne senkt. Die „Agenda 2010“ hat nicht nur Druck auf die Langzeitarbeitslosen ausgeübt – auch die Gehälter der Mittelschicht sind gefallen. Die deutschen Reallöhne sind zwischen 2000 und 2010 im Mittel um 4,2 Prozent gesunken.
In Frankreich hingegen sind die Reallöhne – moderat – gestiegen. Wie es sich gehört. Denn es ist ein Gebot der Logik, dass die Gehälter zulegen müssen, wenn sich die Produktivität erhöht. Wenn dank des technischen Fortschritts jeder Arbeitnehmer im Durchschnitt mehr herstellen kann, dann müssen die Löhne mitziehen, damit es jemanden gibt, der diese zusätzlichen Waren kaufen kann. Der deutsche Sonderweg funktioniert nicht, die heimische Nachfrage zu strangulieren und stattdessen die Welt mit Exporten zu überschwemmen.
„Vernichtet“ ist das angemessene Wort
Französische Waren sind jetzt etwa 20 Prozent teurer als deutsche Produkte, und die Arbeitslosigkeit steigt. Obwohl die Franzosen alles richtig gemacht haben, werden sie von den Deutschen vernichtet. „Vernichtet“ kling martialisch, ist aber das angemessene Wort.
Denn die Deutschen führen einen Handelskrieg, indem sie ihre Löhne nach unten drücken. Gegen diesen deutschen Nationalismus haben sich Sarkozy und Hollande vergeblich gestemmt. Nun versuchen es viele Franzosen mit Marine Le Pen.
aus: taz 31.05.2014
Alle Europäer sind mehr oder minder nationalistisch – nur die Deutschen nicht. Zumindest viele Deutsche sind davon überzeugt. Mit einer Mischung aus Abscheu und Überheblichkeit verweisen sie auf die Ergebnisse der Europawahl in den anderen Ländern, von denen Frankreich besonders heraussticht. Der fremdenfeindliche Front National erhielt knapp 25 Prozent der Stimmen. Einen derartigen Rechtsruck hat Deutschland nicht zu bieten, was für viele der Beweis ist, dass der Hort der europäischen Demokratie hierzulande angesiedelt ist.
Auf den ersten Blick scheint dies sogar zu stimmen: In Deutschland kam die AfD nur auf 7 Prozent, die sich zudem Mühe gibt, eher eurokritisch denn platt nationalistisch zu wirken. Doch auch die Deutschen haben ihre nationalen Interessen – oder was sie dafür halten – fest im Blick, wenn sie wählen. Aber dafür müssen sie nicht auf nationalistische Parteien ausweichen. Es reicht, wenn sie für Angela Merkel stimmen.
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In Umfragen ist dieses Phänomen klar zu erkennen: Die große Mehrheit der Deutschen ist überzeugt, dass die Kanzlerin die deutschen Interessen in Brüssel gut vertritt. Das heißt nicht, dass diese Merkel-Fans sämtlich die CDU wählen. Die Zustimmung zur EU-Politik der Bundeskanzlerin geht quer durch alle Parteien. Was nur bedeutet: Wenn andere Parteien an der Macht wären – und dies gilt selbst für die Linken –, würden sie die gleiche Politik wie Merkel betreiben.
Warum aber müssen die Deutschen nicht nationalistisch wählen, um ihre vermeintlichen Interessen durchzusetzen? Die Antwort lautet: weil die Deutschen die ökonomische Macht haben.
Deutschland ist Gläubiger der EU-Staaten
Diese wirtschaftliche Vorherrschaft speist sich aus drei Quellen: Deutschland hat die meisten Einwohner und ist schon deshalb die größte Volkswirtschaft Europas. Deutschland ist zweitens eine Exportnation – und damit drittens der Gläubiger der meisten EU-Staaten.
Gegen diesen Dreiklang kommen die anderen Länder nicht an. Es ist egal, wer in Frankreich Präsident ist. Am Ende werden seine Handlungsoptionen durch Deutschland beschränkt. Diese Erfahrung musste der konservative Sarkozy genauso machen wie der sozialistische Hollande. Beide haben sie auf Merkel eingeredet, dass ihr Sparkurs fatal ist und dass das deutsche Lohndumping Frankreich ins Chaos stürzt. Aber diese Argumente haben weder die Kanzlerin noch ihre deutschen Wähler interessiert.
Trotzdem haben die Franzosen recht. Es kann nicht funktionieren, wenn Deutschland als eines der reichsten Länder der Erde vorsätzlich seine Löhne senkt. Die „Agenda 2010“ hat nicht nur Druck auf die Langzeitarbeitslosen ausgeübt – auch die Gehälter der Mittelschicht sind gefallen. Die deutschen Reallöhne sind zwischen 2000 und 2010 im Mittel um 4,2 Prozent gesunken.
In Frankreich hingegen sind die Reallöhne – moderat – gestiegen. Wie es sich gehört. Denn es ist ein Gebot der Logik, dass die Gehälter zulegen müssen, wenn sich die Produktivität erhöht. Wenn dank des technischen Fortschritts jeder Arbeitnehmer im Durchschnitt mehr herstellen kann, dann müssen die Löhne mitziehen, damit es jemanden gibt, der diese zusätzlichen Waren kaufen kann. Der deutsche Sonderweg funktioniert nicht, die heimische Nachfrage zu strangulieren und stattdessen die Welt mit Exporten zu überschwemmen.
„Vernichtet“ ist das angemessene Wort
Französische Waren sind jetzt etwa 20 Prozent teurer als deutsche Produkte, und die Arbeitslosigkeit steigt. Obwohl die Franzosen alles richtig gemacht haben, werden sie von den Deutschen vernichtet. „Vernichtet“ kling martialisch, ist aber das angemessene Wort.
Denn die Deutschen führen einen Handelskrieg, indem sie ihre Löhne nach unten drücken. Gegen diesen deutschen Nationalismus haben sich Sarkozy und Hollande vergeblich gestemmt. Nun versuchen es viele Franzosen mit Marine Le Pen.
aus: taz 31.05.2014
Montag, 5. September 2011
Gier
"Keine zwei oder drei Menschen aus dem gleichen Gewerbe treffen je zusammen es sei denn, um gegen die Öffentlichkeit zu konspirieren. So trachtet beispielsweise jemand, der Silber verkauft, danach, den Silber-Markt zu monopolisieren. Und so hat auch das Bankgewerbe, das dazu da ist, an Einzelpersonen, an Unternehmen und an Regierungen Geld zu leihen, ein System entwickelt, die Banker selber gewaltig zu bereichern."
Adam Smith
Samstag, 20. August 2011
Krise und Verteilung
jens beckert und wolfgang streeck Die nächste Stufe der Finanzkrise. Eine Verteilungsfrage
Welche Möglichkeiten hat die Politik noch, des Finanzsystems Herr zu werden? Die Lösung der Schuldenkrise ist eine Verteilungsfrage: Wer bezahlt, was längst ausgegeben wurde?
Von (FAZ) 20. August 2011
Die Finanzkrise ist mittlerweile in ihrer dritten Phase. In der ersten gerieten Banken wegen hoher Abschreibungen auf verbriefte Hypothekenanleihen in Schieflage und wurden, bis auf Lehman Brothers, durch Vergemeinschaftung ihrer Verluste gerettet. In der zweiten Phase wurden europäische Peripherieländer in einen Abwärtssog gezogen, weil das Niveau ihrer Verschuldung nicht mehr erwarten ließ, dass sie ihre Kredite würden zurückzahlen können. Eine Stabilisierung wurde durch Rettungspakete versucht, die von den jeweiligen Rentnern und anderen staatsabhängigen Gruppen sowie von den ökonomisch stärkeren Euroländern im Norden finanziert wurden und werden. In der dritten Phase haben sich nun die Zweifel an der staatlichen Solvenz auch auf Kernländer der Weltwirtschaft ausgeweitet, besonders die Vereinigten Staaten, aber auch Italien, zuletzt Frankreich. Damit geraten auch diese Länder in den Strudel.
Die verschiedenen Stufen der Krise lassen ein System des Vertrauensmanagements erkennen, in dem der Vertrauensverlust von Akteuren auf einer Ebene durch Garantien anderer Akteure höherer Vertrauensstufe ausgeglichen wird oder werden soll. Doch anstatt die Lage zu beruhigen, folgt den Garantien der Zweifel an der Vertrauenswürdigkeit der Helfer. Mittlerweile sind die Vertrauensreserven aufgebraucht.
Vertrauensverluste verschärfen die Krise in ihrer dritten Phase. Besonders dramatisch ist der Zweifel an der Sicherheit amerikanischer Staatsanleihen
Besonders dramatisch ist der Zweifel an der Sicherheit amerikanischer Staatsanleihen, nicht nur, weil die Größe des amerikanischen Staatsschuldenmarkts diesen unentbehrlich macht, sondern auch wegen der durch sie ausgelösten Unsicherheit an den Finanzmärkten insgesamt. Erkennbar wird dies an den sofort nach der Herabstufung durch Ratingagenturen einsetzenden Spekulationen gegen Frankreich. Deutschland wird ebenfalls betroffen sein, wenn es weitere Garantien übernimmt, die zu zusätzlicher Verschuldung und einer Mithaftung für die Schulden der anderen europäischen Länder führen. Der Aufkauf von Staatsanleihen durch die europäische Zentralbank und die Diskussion um Eurobonds bereiten ein deutsches Einspringen bereits vor.
Vier Lösungen für die Bewältigung der Schuldenkrise
Vier Jahre nach Beginn der Krise scheint kein Instrument zu ihrer Eindämmung gefunden. Vielmehr weitet sie sich auf immer mehr Staaten aus, bei erschöpften Mitteln der Vertrauensbildung. Die Politik macht einen überforderten Eindruck. Eine Neuregulierung der Finanzmärkte ist weitgehend ausgeblieben, das Bankensystem ist nach wie vor anfällig, die konjunkturelle Entwicklung erlahmt. Dies wirft die Frage nach der nächste Stufe der Finanzkrise auf. Dabei teilen wir nicht die Hoffnung auf eine baldige Beendigung der Krise. Diese würde eine glaubwürdige Sanierung der Staatshaushalte im Sinne einer dauerhaften Privilegierung der Forderungen der Gläubiger sowie ein Wiedererstarken des Wachstums in den europäischen Ländern und den Vereinigten Staaten erfordern. Dies ist jedoch nicht abzusehen. Stattdessen muss ins Auge gefasst werden, dass aus der ungelösten Finanzkrise eine soziale und politische Krise entstehen wird.
Für die Bewältigung der Verschuldungskrise stehen im Prinzip vier Lösungen zur Verfügung. (1) Durch Verringerung der Staatsausgaben und Wirtschaftswachstum wird der Schuldenstand verringert und damit das Vertrauen der Anleger in die Bonität der staatlichen Schuldner langfristig wiederhergestellt. (2) Durch Steuererhöhungen wird die Einnahmesituation der Staatshaushalte verbessert und werden die Schulden reduziert. (3) Die staatlichen Schuldner stellen den Schuldendienst ein und verhandeln mit den Gläubigern über einen Zahlungserlass. (4) Die Staaten geben das Ziel der Geldwertstabilität auf und betreiben eine Inflationspolitik, durch die ihre Schulden entwertet werden. Es lässt sich nun zeigen, dass alle vier Strategien Konsequenzen haben würden, die nicht auf das Finanz- und Wirtschaftssystem zu begrenzen sind und sehr wahrscheinlich in der nächsten Stufe zu sozialer und politischer Destabilisierung führen werden.
Lösung eins, die Ankurbelung des Wirtschaftswachstums durch Senkung der Staatsausgaben, ist die derzeit präferierte Strategie. Ihr Erfolg ist unwahrscheinlich. Durch Sparpolitik, wie sie Ländern wie Irland, Griechenland und Portugal verordnet wurde, fallen wichtige Nachfrageimpulse aus. Die Folgen lassen sich in Griechenland an der sinkenden Wirtschaftsleistung ablesen. Da durch das Schrumpfen der Wirtschaft Steuereinnahmen ausbleiben, bleibt auch der Abbau der Staatsverschuldung aus.
Tiefe Einschnitte in den Sozialstaat
Bleibt die Hoffnung, durch Strukturreformen die wirtschaftliche Wettbewerbsfähigkeit der betroffenen Länder mittelfristig zu verbessern. Das Gelingen solcher Reformen erscheint mehr als zweifelhaft - man schaue sich nur das Scheitern der jahrzehntelangen, extrem kostspieligen Bemühungen des italienischen Staats um eine Modernisierung des Mezzogiorno an. Ohne eine Oberschicht, die bereit ist, zu Hause unternehmerische Risiken einzugehen, statt ihr Geld im Ausland zu investieren, kann ein Land sich nicht entwickeln. Irland hat Strukturreformen außerhalb seines Bankensystems nicht nötig. Großbritannien sowie die Vereinigten Staaten leiden an den Folgen ihrer langfristigen Deindustrialisierung und ihrer politisch gewollten Konzentration auf jene Dienstleistungen, an denen der Kapitalismus 2008 beinahe zusammengebrochen wäre. In beiden Ländern würde eine Wiederherstellung der industriellen Wettbewerbsfähigkeit umfangreiche langfristige öffentliche Investitionen in Ausbildung und Infrastruktur erfordern, für die aber kein Geld vorhanden ist.
In allen betroffenen Ländern geht es um tiefe Einschnitte in den Sozialstaat, um Kürzungen bei Bildungs- und Gesundheitsausgaben sowie bei öffentlichen Investitionen. Diese Politik trifft in den Vereinigten Staaten auf seit langem stagnierende Reallöhne und eine Situation, in der der Lebensstandard durch private Verschuldung und eine ständige Aufstockung der von den Familien erbrachten Arbeitsstunden verteidigt werden musste. In Griechenland, Spanien und jetzt auch in England lassen sich die sozialen Konflikte erahnen, die aus der Sparpolitik erwachsen werden. In den Ländern, die Rettungsmaßnahmen in Anspruch genommen haben, kommt es außerdem zu einer sehr weitgehenden Beschneidung ihrer staatlichen Souveränität. Zentrale demokratische Institutionen der Wirtschafts- und Fiskalpolitik werden auf lange Zeit neutralisiert. Als Folge ist nicht auszuschließen, dass immer größere Teile der Bevölkerung sich von den verfassungsmäßigen Wegen politischer und wirtschaftlicher Interessenartikulation abwenden.
Die zweite Lösung bestünde in einer Erhöhung der Steuereinnahmen. In der Tat wäre dies vielleicht der einzig noch gangbare Weg - wäre er nicht politisch verbaut. Die Auseinandersetzung um die amerikanischen Schuldengrenze hat deutlich gemacht, dass sich das Mantra „no new taxes“ so verfestigt hat, dass Steuererhöhungen politisch unmöglich geworden sind, auch wenn das amerikanische Steuerniveau immer noch relativ niedrig ist.
Vermeidungsstrategien der Betroffenen
Dabei scheint es reichen Vermögensbesitzern wie den Brüdern Koch zu gelingen, populistische Bewegungen (Tea Party Movement) zu organisieren, die insbesondere die Republikaner daran hindern, sich auf höhere Steuern oder auch nur die Rücknahme von ursprünglich zeitlich befristeten Steuersenkungen einzulassen. In der Tat müssten Steuererhöhungen, wenn es einigermaßen gerecht zugehen sollte, wesentlich von obersten Einkommens- und Vermögensgruppen bezahlt werden. Diese Gruppe hat von den Steuersenkungen der letzten Jahrzehnte und nicht zuletzt von den Zinseinnahmen aus Investitionen in staatliche Rentenpapiere am meisten profitiert und sämtliche Einkommenszuwächse auf sich konzentriert.
Aber auch eine Erhöhung der Verbrauchssteuern erscheint des sinkenden Lebensstandards der großen Masse der Amerikaner halber unvorstellbar. Generell gilt, dass Steuererhöhungen zur Abzahlung von Schulden nie populär sein können, weil sie dazu dienen, bereits konsumierte Güter und Dienstleistungen zu bezahlen. Nicht zuletzt lassen sich angebotstheoretische Befürchtungen vorschieben, denen zufolge Steuererhöhungen insbesondere bei höheren Einkommen das Wirtschaftswachstum schädigen. Auch müsste mit Vermeidungsstrategien der Betroffenen gerechnet werden, insbesondere bei der Besteuerung von Vermögen.
Die dritte Lösung, Einstellung der Rückzahlung und teilweiser Schuldenerlass, wurde zuletzt von Argentinien verfolgt und führte dort zu einer vorübergehenden Entschuldung. Griechenland hat mit den letzten Beschlüssen der EU faktisch einen Teilerlass erhalten. Hierbei handelt es sich jedoch um eine relativ kleine Volkswirtschaft, bei der die Schulden zwar im Verhältnis zur Wirtschaftsleistung, nicht aber absolut hoch sind. Die Kosten des Schuldenschnitts können deshalb von anderen Staaten und, zu einem geringen Teil, den privaten Gläubigern getragen werden. Dies gilt nicht für die großen europäischen Volkswirtschaften oder die amerikanische. Eine Zahlungsunfähigkeit dieser Länder würde nicht nur deren Bankensystem, sondern auch das anderer Länder ruinieren. Eine Rettungsaktion wie die von 2008 würden die erschöpften Staatshaushalte wohl nicht mehr zulassen.
Abenteuerliche soziale Kosten
Auch wenn jedoch ein völliger Zusammenbruch der Weltwirtschaft infolge einer neuen Bankenkrise verhindert werden könnte, müsste mit einer sozialen Krise ungekannten Ausmaßes gerechnet werden. Große Teile der Staatsschulden werden nämlich von Pensionsfonds oder Versicherungen gehalten, die aus diesem Kapital Rentenzahlungen leisten und Lebensversicherungen auszahlen. Die Umorientierung hin zur kapitalbasierten Rente während der letzten Jahrzehnte hat eine wachsende Zahl von Rentenbeziehern in Abhängigkeit vom Kapitalmarkt gebracht. Nicht zuletzt hätte der Bankrott auch nur eines Staates zur sicheren Folge, dass die Refinanzierungskosten für die allermeisten Staaten steigen würden. Angesichts der enormen Höhe der gegenwärtigen Staatsverschuldung muss aber jede Erhöhung der Ausgaben für den Schuldendienst die Haushaltsdefizite weiter vergrößern und den Sparzwang verschärfen. Dies ist der Grund, warum die bislang weniger betroffenen Staaten alles tun, um Ländern wie Irland oder Griechenland den Staatsbankrott zu ersparen.
Viertens wäre denkbar, durch gewollte Inflation den realen Wert der Schulden zu senken. Zu diesem Zweck kann die Regierung Kredite bei der Zentralbank aufnehmen und so die Geldmenge über das Wachstum hinaus erhöhen. Auch diese Option ist jedoch mit abenteuerlichen sozialen Kosten verbunden. Eine Entwertung von Vermögen schmälert heute die Altersversorgung weiter Kreise der Bevölkerung. Hinzu kommt, dass durch Inflation die Realeinkommen all derer sinken, die ein fixes Einkommen als Beschäftigte oder als Empfänger von Transfereinkommen beziehen. Damit wäre fast die gesamte Bevölkerung betroffen. Zu rechnen wäre mit sozialen Protesten und mit Forderungen nach einer Indexierung von Löhnen und Sozialleistungen. Die Folge wäre eine möglicherweise „galoppierende“ Steigerung der Inflationsrate. Im Übrigen führt jede Geldentwertung zu höheren Refinanzierungskosten der Staatsschulden an den Märkten.
Eine Verteilungsfrage
Das bisherige Krisenmanagement war bemüht, Krisen durch Verlagerung der Probleme auf eine höhere Ebene mit größerem Vertrauensreservoir „aufzuheben“. Die Banken wurden von den Staaten gerettet; die kleinen Staaten von den großen. Diese Strategie kommt jetzt an ihr Ende. Der Vertrauensverlust ist mittlerweile überall angekommen. In der nächsten Stufe wird die Krise auf das soziale System übergreifen. Anzeichen finden sich bereits in steigender Arbeitslosigkeit, Auswanderung und Gewaltausbrüchen in besonders betroffenen Ländern. Egal, ob durch Sparpolitik, Schuldenschnitt oder Inflation, die bevorstehende massive Reduzierung von Vermögen und Einkommen wird Konflikte hervorrufen. Diese haben das Potential, auch das politische System zu erreichen, zunächst etwa durch stärkeren Zulauf zu populistischen Bewegungen wie dem Front National oder der Tea Party.
Es zeigt sich, dass die Lösung der Schuldenkrise wesentlich eine Verteilungsfrage ist. Wer zahlt für Ausgaben, die längst getätigt wurden, ohne je abgegolten worden zu sein, in einer Situation, in der die Gläubiger das Vertrauen verloren haben und ihr Geld zurückverlangen? Was da aussteht, ist die Wirtschaftsleistung eines ganzen Jahres, in einigen Ländern sogar weit mehr. Nachdem die Zuwächse des Sozialprodukts während der vergangenen dreißig Jahre vornehmlich den oberen Bevölkerungsschichten zugutekamen, stellt sich in der Schuldenkrise die Frage, ob und mit welchen Mitteln die Wohlhabenden versuchen werden, ihre Position auch um den Preis einer massiven sozialen und politischen Krise zu verteidigen. Wir können nicht ausschließen, dass sie die Schrift an der Wand auch weiterhin nicht verstehen wollen.
Freitag, 12. August 2011
Gier und Angst
christina von braun ,Gier der Spekulanten' heißt es immer. Gier ist eine Sünde, die man beherrschen kann. Sie gehört zu den 7 Todsünden. Aber ich glaube, ,Gier' ist das falsche Wort. Ich meine, der Begriff ,Angst' ist viel besser geeignet, zu erklären, weshalb diese Menschen derart die Nullen zu vermehren versuchen. Wir sind ja konfrontiert mit einem Geld, das gar keinen materiellen Bezug mehr hat. Und es gibt einfach Grenzen, wie man diese vielen Millionen auf dem Konto umsetzen kann in materielle Werte. Also sind diese Menschen permanent bedroht von dieser Nichtigkeit - oder von diesem Nichtsein des Geldes. Sie löst diese Angst aus. Durch Multiplikation der Nullen auf dem Konto kann man sie nicht überwinden. Man kann sie nur strukturell überwinden. Man muss aus diesem System aussteigen.
Aber die Hoffnung auf Veränderbarkeit ist eigentlich gering. Das Einzige, worauf wir hoffen können, ist, sagen wir mal, das Geld sozusagen zu domestizieren. Gut wäre, wenn es uns gelingt, wenigstens eine gewisse Skepsis, Zweifel, Glaubenszweifel gegenüber dem Geld zu haben. Ich kann nur sagen, im Namen der Utopie und der utopischen Entwürfe sind viele Kriege geführt worden. Im Namen der Skepsis noch nie."
Donnerstag, 11. August 2011
Schuldenkult
walter benjamin Der Kapitalismus ist vermutlich der erste Fall eines nicht entsühnenden, sondern verschuldenden Kultes.
Donnerstag, 21. Juli 2011
...deshalb
jean-luc godard „Die Griechen haben uns die Logik gegeben. Dafür stehen wir in ihrer Schuld. Es war Aristoteles, der das große ‚Deshalb‘ aufbrachte: ,Du liebst mich nicht, deshalb...‘ oder ‚Ich habe dich mit einem anderen Mann erwischt, deshalb ...‘ Wir verwenden dieses Wort millionenfach für die wichtigsten unserer Entscheidungen. Es wird Zeit, dass wir dafür bezahlen...Wenn wir jedes Mal zehn Euro nach Griechenland überweisen würden, wenn wir das Wort benutzen, wäre die Krise in einem Tag überwunden und die Griechen müssten das Pantheon nicht an die Deutschen verkaufen. Wir verfügen mit Google über die technischen Möglichkeiten, all diese Deshalbs aufzustöbern. Die Rechnungen könnten über das Iphone zugestellt werden. Jedes Mal, wenn Angela Merkel den Griechen sagt: Wir haben euch all das Geld geliehen, deshalb müsst ihr es mit Zinsen zurückzahlen, wären Tantiemen fällig.“
Freitag, 3. Juni 2011
Zerbricht die EU?
"EU ist fast wie Jugoslawien vor dem Ende" - Für den slowenischen Ökonomen Joze Mencinger ist die EU krank - so, wie es Jugoslawien knapp vor seinem Zerfall war.
JOZE MENCINGER: Mich erinnert das leider an die Achtzigerjahre in Jugoslawien, als das Land als wirtschaftliche Einheit nach und nach auseinanderfiel. Und es erinnert mich an die Tabuthemen jener Jahre. Es galt als unangemessen, am Slogan von der Brüderlichkeit und Einheit oder an der Identität der Interessen im sozialistischen Jugoslawien zu zweifeln. Ebenso unangemessen sind heute Zweifel am Euro und der Interessenidentität in Europa. Dabei ist es klar, dass die Interessen der EU-Staaten divergieren und die Eurozone keine optimale Währungsunion werden wird.
Wenigstens in Deutschland ist der Euro aber nicht als Modell oder als Experiment gemeint, sondern als historischer Schritt voran.
MENCINGER: In der Tat, der Euro wurde zum Symbol. Die Währungsintegration galt als unumkehrbar. Deshalb wurden auch keine rechtlichen Vorkehrungen für einen Austritt geschaffen. Auch das erinnert mich an Jugoslawien, wo es Austrittsbestimmungen auch nicht gab. Verfassungsjuristen diskutierten damals, ob Slowenien 1919 und 1945 mit seinem Beitritt zu Jugoslawien das Recht zum Austritt verwirkt hatte.
Ist es also die jugoslawische Erfahrung, die Sie zum Euroskeptiker gemacht hat?
MENCINGER: Nein. Ich war sowohl für den EU-Beitritt 2004 als auch für den zum Euro 2007. Aber ich habe beides für Notausgänge gehalten, ähnlich wie 1991 den Austritt Sloweniens aus Jugoslawien. Was hätten wir sonst tun sollen? Bloß weil ich die Aufgabe soeben erworbener wirtschaftlicher Eigenheiten nicht auch noch feiern wollte, wurde ich prompt für einen Euroskeptiker gehalten. Ich glaube bloß nicht an die Ewigkeitswerte von EU und Währungsunion. Und ich frage mich, ob EU und Währungsunion auch Bündnisse für schlechte Zeiten sind.
Sie fürchten also die Auflösung, wünschen sie sich aber nicht herbei?
MENCINGER: So ist es. Ich fürchte die Auflösung der EU und der Währungsunion aus zwei Gründen: wegen der hohen Kosten und der damit verbundenen Unsicherheit.
Zieht die Union nicht gerade die Konsequenzen aus ihren strukturellen Problemen?
MENCINGER: Ja. Aber wie können die EU-Führer meinen, sie lösten jetzt Probleme, die es seit Jahrzehnten gibt und die sich in der Krise nur verschärft haben? Es war zum Beispiel von Anfang an klar, dass die EU mit ihrer sogenannten Griechenland-Hilfe nur französischen und deutschen Banken hilft und dass das sogenannte Hilfspaket Griechenland nur noch tiefer ins Desaster stürzt. Die Rechnung ist ganz einfach: Liegt die Schuld bei 160 Prozent des Bruttoinlandsproduktes und liegen die Zinsen über der Wachstumsrate, kann diese Schuld nur entweder wachsen oder aber abgeschrieben werden. Wie kann man da behaupten, Griechenland werde Haushaltsüberschüsse produzieren und seine Wettbewerbsfähigkeit verbessern?
Worin ähneln sich das untergegangene Jugoslawien und die EU?
MENCINGER: Warum haben Sie mich das nicht vor ein paar Jahren gefragt? Vielleicht, weil dieser Vergleich 2004 oder 2007, als Slowenien beitrat, als unfein galt?
Dabei sind die Ähnlichkeiten vielfältig. Erstens ist das Entwicklungsgefälle ähnlich dem in Jugoslawien. Die daraus folgende Unmöglichkeit, ein passendes Wirtschaftssystem zu schaffen und eine angemessene Wirtschaftspolitik zu entwickeln, war einer der Gründe für Sloweniens Austritt. Zweitens ist die EU eine Gemeinschaft von Staaten, nicht von Bürgern. Entsprechend unvermeidlich ist der Streit, was demokratisch ist: das Prinzip Ein-Mensch-eine-Stimme oder das Prinzip Ein-Staat-eine-Stimme. Das haben wir so auch in Jugoslawien diskutiert.
Die EU ist ein Staatenbund, Jugoslawien war ein Staat. Macht das keinen Unterschied?
MENCINGER: Schon. Aber wirtschaftlich gesehen sind auch die EU-Mitgliedsstaaten keine Staaten mehr. Geld, Steuern, Grenzen, Spielregeln - die Attribute des Staates als wirtschaftliche Einheit haben sie entweder schon verloren oder verlieren sie gerade rapide.
Nehmen Sie bestimmte Alarmzeichen wahr, wenn Sie die Krise der EU mit dem Untergang Jugoslawiens vergleichen?
MENCINGER: Am meisten beunruhigt mich, was ich das "Jugoslawische Syndrom" nennen möchte. Als Jugoslawien in den 80er-Jahren in eine Periode der Stagnation eintrat, begannen die Menschen, nach Schuldigen und nach Ausbeutern zu suchen. Am Ende fühlte sich jeder von jedem ausgebeutet.
Solche Zeichen gibt es auch heute. Mehr und mehr Menschen in Deutschland glauben, die Griechen beuten sie aus, während die Griechen sich von den Deutschen ausgebeutet glauben. Deshalb fürchte ich mich sehr vor einer lang anhaltenden Krise. Halten Währungsunion und EU das aus?
Kann man denn eine sozialistische Wirtschaft mit der unseren vergleichen?
MENCINGER: Jugoslawien war immerhin offen, und besonders in Slowenien wurde die Partei schon in den Achtzigern sehr liberal. Nicht einmal die Anführer glaubten an den Kommunismus und waren bereit, sich an jede Ideologie anzupassen. Man könnte sagen, wir hatten eine Art parteilose Demokratie, die nur wegen ihres demokratischen Defizits funktionierte. Aber auch die EU würde ohne demokratisches Defizit nicht funktionieren.
Zwar ist jeder Mitgliedsstaat für sich demokratisch legitimiert, aber die Gemeinschaft ist es nicht. Ist das eine weitere Parallele zu Jugoslawiens Ende?
MENCINGER: Die letzten Tage der EU sind noch nicht angebrochen. Wir stehen vielleicht da, wo Jugoslawien 1983 stand. Damals suchten die Politiker verzweifelt nach einer Lösung.
Und die ökonomischen Unterschiede?
MENCINGER: Einen wichtigen Unterschied muss man zugeben: Anders als in der EU gab es in Jugoslawien keine Angleichung im Entwicklungsniveau. 1953 war die Wirtschaft in Slowenien doppelt so stark und 1990 sieben Mal so stark wie im Kosovo. In der EU dagegen hat sich der Wohlstand der neuen Mitglieder rasch angeglichen. Allerdings eher zu rasch und zu wenig nachhaltig.
Das würde heißen: Die reicheren Staaten verabschieden sich eher aus der Union als die ärmeren - wie auch in Jugoslawien, wo es mit Slowenien ja auch die reichste Nation war, die sich als erste verabschiedet hat?
MENCINGER: Ja. Die Reichen können gehen, die Armen nur zurückgelassen werden. Die Diskussionen über das Europa der zwei Geschwindigkeiten und die deutsch-französische Lokomotive verdeutlichen das. Also, wenn Sie mich einmal nach der Zukunft der EU fragen, antworte ich: So lange wie das Habsburgerreich wird es sie nicht geben.
JOZE MENCINGER: Mich erinnert das leider an die Achtzigerjahre in Jugoslawien, als das Land als wirtschaftliche Einheit nach und nach auseinanderfiel. Und es erinnert mich an die Tabuthemen jener Jahre. Es galt als unangemessen, am Slogan von der Brüderlichkeit und Einheit oder an der Identität der Interessen im sozialistischen Jugoslawien zu zweifeln. Ebenso unangemessen sind heute Zweifel am Euro und der Interessenidentität in Europa. Dabei ist es klar, dass die Interessen der EU-Staaten divergieren und die Eurozone keine optimale Währungsunion werden wird.
Wenigstens in Deutschland ist der Euro aber nicht als Modell oder als Experiment gemeint, sondern als historischer Schritt voran.
MENCINGER: In der Tat, der Euro wurde zum Symbol. Die Währungsintegration galt als unumkehrbar. Deshalb wurden auch keine rechtlichen Vorkehrungen für einen Austritt geschaffen. Auch das erinnert mich an Jugoslawien, wo es Austrittsbestimmungen auch nicht gab. Verfassungsjuristen diskutierten damals, ob Slowenien 1919 und 1945 mit seinem Beitritt zu Jugoslawien das Recht zum Austritt verwirkt hatte.
Ist es also die jugoslawische Erfahrung, die Sie zum Euroskeptiker gemacht hat?
MENCINGER: Nein. Ich war sowohl für den EU-Beitritt 2004 als auch für den zum Euro 2007. Aber ich habe beides für Notausgänge gehalten, ähnlich wie 1991 den Austritt Sloweniens aus Jugoslawien. Was hätten wir sonst tun sollen? Bloß weil ich die Aufgabe soeben erworbener wirtschaftlicher Eigenheiten nicht auch noch feiern wollte, wurde ich prompt für einen Euroskeptiker gehalten. Ich glaube bloß nicht an die Ewigkeitswerte von EU und Währungsunion. Und ich frage mich, ob EU und Währungsunion auch Bündnisse für schlechte Zeiten sind.
Sie fürchten also die Auflösung, wünschen sie sich aber nicht herbei?
MENCINGER: So ist es. Ich fürchte die Auflösung der EU und der Währungsunion aus zwei Gründen: wegen der hohen Kosten und der damit verbundenen Unsicherheit.
Zieht die Union nicht gerade die Konsequenzen aus ihren strukturellen Problemen?
MENCINGER: Ja. Aber wie können die EU-Führer meinen, sie lösten jetzt Probleme, die es seit Jahrzehnten gibt und die sich in der Krise nur verschärft haben? Es war zum Beispiel von Anfang an klar, dass die EU mit ihrer sogenannten Griechenland-Hilfe nur französischen und deutschen Banken hilft und dass das sogenannte Hilfspaket Griechenland nur noch tiefer ins Desaster stürzt. Die Rechnung ist ganz einfach: Liegt die Schuld bei 160 Prozent des Bruttoinlandsproduktes und liegen die Zinsen über der Wachstumsrate, kann diese Schuld nur entweder wachsen oder aber abgeschrieben werden. Wie kann man da behaupten, Griechenland werde Haushaltsüberschüsse produzieren und seine Wettbewerbsfähigkeit verbessern?
Worin ähneln sich das untergegangene Jugoslawien und die EU?
MENCINGER: Warum haben Sie mich das nicht vor ein paar Jahren gefragt? Vielleicht, weil dieser Vergleich 2004 oder 2007, als Slowenien beitrat, als unfein galt?
Dabei sind die Ähnlichkeiten vielfältig. Erstens ist das Entwicklungsgefälle ähnlich dem in Jugoslawien. Die daraus folgende Unmöglichkeit, ein passendes Wirtschaftssystem zu schaffen und eine angemessene Wirtschaftspolitik zu entwickeln, war einer der Gründe für Sloweniens Austritt. Zweitens ist die EU eine Gemeinschaft von Staaten, nicht von Bürgern. Entsprechend unvermeidlich ist der Streit, was demokratisch ist: das Prinzip Ein-Mensch-eine-Stimme oder das Prinzip Ein-Staat-eine-Stimme. Das haben wir so auch in Jugoslawien diskutiert.
Die EU ist ein Staatenbund, Jugoslawien war ein Staat. Macht das keinen Unterschied?
MENCINGER: Schon. Aber wirtschaftlich gesehen sind auch die EU-Mitgliedsstaaten keine Staaten mehr. Geld, Steuern, Grenzen, Spielregeln - die Attribute des Staates als wirtschaftliche Einheit haben sie entweder schon verloren oder verlieren sie gerade rapide.
Nehmen Sie bestimmte Alarmzeichen wahr, wenn Sie die Krise der EU mit dem Untergang Jugoslawiens vergleichen?
MENCINGER: Am meisten beunruhigt mich, was ich das "Jugoslawische Syndrom" nennen möchte. Als Jugoslawien in den 80er-Jahren in eine Periode der Stagnation eintrat, begannen die Menschen, nach Schuldigen und nach Ausbeutern zu suchen. Am Ende fühlte sich jeder von jedem ausgebeutet.
Solche Zeichen gibt es auch heute. Mehr und mehr Menschen in Deutschland glauben, die Griechen beuten sie aus, während die Griechen sich von den Deutschen ausgebeutet glauben. Deshalb fürchte ich mich sehr vor einer lang anhaltenden Krise. Halten Währungsunion und EU das aus?
Kann man denn eine sozialistische Wirtschaft mit der unseren vergleichen?
MENCINGER: Jugoslawien war immerhin offen, und besonders in Slowenien wurde die Partei schon in den Achtzigern sehr liberal. Nicht einmal die Anführer glaubten an den Kommunismus und waren bereit, sich an jede Ideologie anzupassen. Man könnte sagen, wir hatten eine Art parteilose Demokratie, die nur wegen ihres demokratischen Defizits funktionierte. Aber auch die EU würde ohne demokratisches Defizit nicht funktionieren.
Zwar ist jeder Mitgliedsstaat für sich demokratisch legitimiert, aber die Gemeinschaft ist es nicht. Ist das eine weitere Parallele zu Jugoslawiens Ende?
MENCINGER: Die letzten Tage der EU sind noch nicht angebrochen. Wir stehen vielleicht da, wo Jugoslawien 1983 stand. Damals suchten die Politiker verzweifelt nach einer Lösung.
Und die ökonomischen Unterschiede?
MENCINGER: Einen wichtigen Unterschied muss man zugeben: Anders als in der EU gab es in Jugoslawien keine Angleichung im Entwicklungsniveau. 1953 war die Wirtschaft in Slowenien doppelt so stark und 1990 sieben Mal so stark wie im Kosovo. In der EU dagegen hat sich der Wohlstand der neuen Mitglieder rasch angeglichen. Allerdings eher zu rasch und zu wenig nachhaltig.
Das würde heißen: Die reicheren Staaten verabschieden sich eher aus der Union als die ärmeren - wie auch in Jugoslawien, wo es mit Slowenien ja auch die reichste Nation war, die sich als erste verabschiedet hat?
MENCINGER: Ja. Die Reichen können gehen, die Armen nur zurückgelassen werden. Die Diskussionen über das Europa der zwei Geschwindigkeiten und die deutsch-französische Lokomotive verdeutlichen das. Also, wenn Sie mich einmal nach der Zukunft der EU fragen, antworte ich: So lange wie das Habsburgerreich wird es sie nicht geben.
Samstag, 21. Mai 2011
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